Bayern-Rondo – Defensivprobleme des FCB: Schwarz, weiß oder doch grau-sam?

Justin Trenner 18.02.2022

In der Nacht von Donnerstag zu Freitag und auch noch am Tag darauf hatte der Sturm Ylenia Deutschland fest im Griff. Auch in München kam es zu mehreren Zwischenfällen, die Teile des Bahnnetzes, Schulen oder auch den Tierpark lahmlegten.

An der Säbener Straße hätte es den physischen Wind gar nicht gebraucht, denn der metaphorische Sorgt für genug Unruhe. Erst der Zittersieg gegen Leipzig, dann die 2:4-Klatsche in Bochum und jetzt ein verdientes, aber aufgrund der letzten zehn Minuten auch etwas glückliches Unentschieden in Salzburg.

„Wir sind momentan nicht im Flow“, analysierte Joshua Kimmich nach dem Hinspiel im Achtelfinale der UEFA Champions League. Es gehe aktuell nicht von alleine. Unaufmerksamkeiten, einfache Ballverluste, eine schwache Restverteidigung – Thomas Müller sagte in Bezug auf die fahrige erste Halbzeit, dass man „in den Details zu ungenau“ gewesen sei.

Vor allem aber lenkte der Angreifer die Kritik von den Defensivspielern ein Stück weit auf die Offensive um. In der Konsequenz sind es die Verteidiger, die oftmals nicht gut aussehen, aber in der Entstehung ist es der Angriff rund um Thomas Müller, die keinen „Druck auf den Ball“ bekommt, wie Julian Nagelsmann es nannte.

Julian Nagelsmann: „Es ist nicht alles schwarz“

„Druck auf den Ball“ – diese vier Worte kommen einem doch bekannt vor. Schon Hansi Flick bemängelte seinerzeit, dass die vielen Gegentore aufgrund des mangelnden Drucks auf die ballführenden Gegenspieler entstanden. Dabei befand Nagelsmann auf der Pressekonferenz vor dem Fürth-Spiel am Wochenende: „Wichtig ist, dass man analytisch bleibt, kritisch bleibt, aber trotzdem aus Mannschaftskreisen oder als Trainer nicht alles in die Pfanne haut.“

Man habe „nach wie vor drei Punkte mehr als letztes Jahr zum gleichen Zeitpunkt“, sagte der 34-Jährige: „Es ist nicht alles schwarz, aber es ist auch nicht alles weiß. Es gibt immer ein paar Graustufen.“ Vor Bochum sei die Welt gefühlsmäßig noch in Ordnung gewesen, jetzt ist die Situation eben, wie sie ist.

Nagelsmann moderierte die Unruhe gewohnt souverän weg. Die Probleme aber werden ihn auf dem Platz noch etwas begleiten. Die Gegentore, ist sich der Trainer sicher, rühren jedenfalls „nicht daher, dass wir hoch anlaufen und deswegen jetzt tiefer verteidigen oder auf Konter spielen.“ Es gehe darum, „eine gewisse Balance zu finden“ und „die Fehler im eigenen Ballbesitz zu minimieren“.

Bayerns Aufbauspiel hängt von Kimmich ab

An dieser Stelle braucht es eigentlich keine weitere Analyse mehr. Nagelsmann hat die Stolpersteine in der aktuellen Ausrichtung angesprochen. Und er kann nur bedingt entgegenwirken. Einerseits ist die Philosophie, die die Bayern seit Hansi Flick verinnerlicht haben, erfolgsversprechend in der Offensive. Nagelsmann hat es geschafft, diese Durchschlagskraft beizubehalten, ohne aber dauerhaft so anzulaufen wie die Münchner es noch unter seinem Vorgänger taten.

Nach wie vor gibt es viele hohe Balleroberungen, gleichzeitig sichert das Team nach hinten im Durchschnitt besser ab. 25 Gegentore sind in der Bundesliga immer noch mehr als in den meisten der letzten Jahre, aber auch sechs weniger als zum gleichen Zeitpunkt in der vergangenen Saison.

Es ist jedoch nicht nur eine Frage der Philosophie. Auch personell sind dem Trainer aktuell die Hände ein Stück weit gebunden. Auf den wichtigsten Positionen im Aufbauspiel kann er sich eigentlich nur auf Joshua Kimmich verlassen – und selbst der verlor gegen Bochum (27 Ballverluste, 76 % Passquote) und Salzburg (21 Ballverluste, 84,5 % Passquote) viel zu oft den Ball.

Joshua Kimmich verlor gegen Salzburg 27-mal den Ball. Ein Kompliment für die Salzburger, aber auch ein Zeichen der Unsicherheit bei den Bayern.
(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Hansi Flick hat die Vollgas-Bayern entwickelt

Passschärfe, Passgenauigkeit, das Bespielen der richtigen Räume in den richtigen Momenten – all das funktioniert in der Spieleröffnung nicht optimal und lädt Gegner zum Kontern ein. Auch in der Offensive geht dem Spiel aber die Präzision ab. Das Risiko im Ballvortrag ist enorm, der Ertrag gleicht es aktuell nicht ausreichend aus.

Wenn der Trainer also in irgendeiner Form etwas machen kann, dann ist es wohl die Ansage, insbesondere bei Führung etwas Tempo rauszunehmen oder in Phasen der mangelnden Spielkontrolle ganz bewusst den Ball etwas länger durch die eigenen Reihen laufen zu lassen.

Niko Kovač sprach einst einen Vergleich aus, der in nahezu jedem Saisonrückblick aufgegriffen wurde: Man könne nicht von einem Auto, das nur 100 Km/h schafft, erwarten, dass es auf der Autobahn 200 Km/h fahre. Aktuell sieht es aber so aus, als würden die Bayern nur noch 200 Km/h können und als würde ihnen eine Entschleunigung schwerfallen.

Die Gier, die Lust und die Offensivpower zeichnen dieses Team gewiss aus. Doch gerade mit Blick auf die Champions League wird Nagelsmann vielleicht doch das eine oder andere Detail anpassen müssen, um, wie er es ausdrückte, „eine gewisse Balance“ finden zu können.

Nagelsmann ist nicht allein verantwortlich für die Probleme

Alles auf den Kopf stellen muss er dafür sicher nicht. Der Kader erschwert es ihm, die Abhängigkeit von Kimmich im Zentrum etwas zu lockern. Marcel Sabitzer kommt nach wie vor nicht in Tritt, Corentin Tolisso ist als Spielertyp nicht geeignet dazu, unruhige Spielphasen in den Griff zu bekommen und auch Marc Roca scheint trotz des Lobes rund um den Jahreswechsel keine Option mehr zu sein.

In der Defensive gibt es zudem keinen Spieler, der klar die Verantwortung übernimmt. Zwar sagte Jerome Boateng zuletzt bei Sport1, dass das nicht zwingend notwendig sei, wenn man eingespielt sei, aber genau das sind die Bayern hinten eben nicht. Es fehlen klare Kommandos, es fehlt jemand, der Struktur in den oftmals wilde Restverteidigung bringt.

Vorn mögen die Defensivprobleme der Münchner beginnen, aber hinten hören sie auf. So schwer der Job als Bayern-Verteidiger auch ist: Viele der jüngsten Gegentore sind nicht in Unter- oder Gleichzahl, sondern in Überzahl entstanden. Angesichts der Ausgaben von fast 200 Millionen Euro, die der FC Bayern in den letzten Jahren allein für den Defensivbereich getätigt hat, ist der Status-quo nicht zufriedenstellend.

Szenenanalyse: Salzburgs Tor deckt alle Probleme gleichzeitig auf

Das Salzburger Tor ist ein optimales Beispiel für all die genannten Probleme. In diesem Treffer allein steckt alles, was den Bayern im Moment nicht so gut gelingt wie noch in anderen Saisonphasen.

Die Ausgangssituation ist entscheidend. Nach einem eigenen Einwurf verlieren die Bayern den Ball. Das kann passieren, aber die Struktur ist dafür aus verschiedenen Gründen suboptimal:

  • Müller, Sané und Gnabry sind nominell zwar in Ballnähe, um Druck auszuüben, tun das aber nur halbherzig. Selbst wenn Salzburg hier nicht den langen Ball spielt, ist der diagonale Weg ins Zentrum offen. Die Spieler sollten schon in Ballbesitz so positioniert sein, dass sie das Zentrum bei einem Ballverlust sofort schließen können.
  • Coman könnte ballfern etwas tiefer und eingerückter positioniert sein. Eine Seitenverlagerung ist unwahrscheinlich und er könnte antizipieren, dass Salzburg Hernandez demnächst in eine 1v1- oder sogar 1v2-Situation schickt. Er reagiert aber zu spät.
  • Das Dreieck im grünen Raum wurde zwar schon benannt, aber besonders Sané steht hier nicht gut, weil er ins Geschehen nicht mehr eingreifen kann.
  • Hauptverantwortlich sind dennoch Gnabry und Müller, die es trotz Gleichzahl nicht schaffen, den langen Ball zu verhindern.

Selbst jetzt ist aber eigentlich noch alles gut aus Sicht der Bayern. Salzburg ist selbst nicht gut genug gestaffelt, um die Lücke im Zentrum zu bespielen und mit Kimmich, Tolisso, Süle und Hernandez sind in der Restverteidigung prinzipiell dreieinhalb Spieler in Lauerstellung. Der halbe Spieler ist Kimmich, weil er nach vorn orientiert ist und der Abstand nach hinten größer ist, als es die Darstellung oben impliziert.

Jetzt erst kommt die Restverteidigung ins Spiel. Bayern hat zu Beginn des Konters eine 3v2-Überzahl und hier muss jetzt ein klares Kommando erfolgen – wie Nagelsmann nach dem Spiel auch analysierte. Einmal von Süle, der das ganze Feld im Blick hatte und um die Situation weiß, aber auch von Tolisso, der in der Rückwärtsbewegung Süle das Kommando geben muss, dass er da ist.

Süle macht sogar zweimal einen Schulterblick und sieht seinen Mitspieler, trotzdem orientiert er sich nicht auf die Seite von Hernandez. Deshalb zögert der Franzose wahrscheinlich, obwohl der Zweikampf die bessere Option gewesen wäre. Adeyemi zieht nach innen, Tolisso und Süle kommunizieren weiterhin nicht, weshalb der ballferne Spieler frei wird und Salzburg erzielt mit etwas Glück bei der Verlagerung das Tor.

Vorn ist der Druck auf den Ball nicht mehr so gut wie über weite Strecken der Hinrunde, hinten fehlt es an Abstimmung – so lassen sich die Probleme der Bayern in der jetzigen Phase zusammenfassen.

Bayerns Defensive: Hier ist Ihr Grau, Herr Nagelsmann!

Nagelsmann weist aber zu Recht darauf hin, dass es Grautöne gibt. Die Kurzfristigkeit der Analysen verwässert oft die Bewertung. Die Bayern haben in dieser Bundesligasaison siebenmal zu Null gespielt – zweimal mehr als zum gleichen Zeitpunkt in der vergangenen Spielzeit, einmal weniger als in der gesamten letzten Spielzeit.

Unter Nagelsmann kassieren sie 1,14 Tore und kommen auf einen Expected-Goals-against-Wert von 0,98 pro Spiel. In der Vorsaison lagen diese Werte bei 1,29 und 1,21. Bayern lässt zudem einen Schuss weniger zu als im Vorjahr. Man könnte dem Team also eine Weiterentwicklung zusprechen.

Dass dieser kleine Fortschritt im schnelllebigen Fußballgeschäft, vor allem aber bei einem Superklub wie dem FC Bayern nicht reicht, um das Umfeld zu beruhigen, ist allerdings auch klar. Dafür sind die oben beschriebenen Probleme zu offensichtlich und mit Blick auf das große Ziel in der Champions League eine zu große Gefährdung.

Nagelsmann ist immer noch „neu“ – Akklimatisierungsphase?

Ein wenig mehr Grau würde der Betrachtung dennoch guttun. Zwar hatte Nagelsmann nun bereits einige Wochen, in denen er mit dem Team trainieren konnte, doch Trainings innerhalb einer Saison ersetzen keine vollständige Sommervorbereitung. Nagelsmann muss also Kompromisse in sehr vielen Bereichen finden – am entscheidendsten dürften hier die Personalplanung und die taktische Ausrichtung sein.

Als der 34-Jährige auf Neuzugänge im Januar angesprochen wurde, ließ er tief blicken. „Ich bin ein großer Freund von Wintertransfers“, führte der gebürtige Bayer aus: „Du hast viele Vorteile dadurch. Du mixt ein bisschen die Mannschaft durch, schaffst ein bisschen neue Hierarchien. Jeder muss sich neu beweisen. Und vor allem gibst du Neuzugängen ein halbes Jahr Zeit, sich zu akklimatisieren. Und in der Sommervorbereitung ist er dann von Beginn an voll da.

Wenn man so will, ist das erste Bayern-Jahr von Nagelsmann auch eine Akklimatisierungsphase. Sicher keine, in der Titel keine Rolle spielen würden. Wohl aber eine, in der Fehler, Ausrutscher und Niederlagen als Lernprozess gesehen werden müssen. Aufgrund der Weltmeisterschaft im Winter wird die Sommerpause abermals recht kurz ausfallen. Immerhin wird der Trainer dann aber voraussichtlich alle Spieler bei sich haben.

In der vergangenen Sommervorbereitung hätte sich Julian Nagelsmann wohl sehr allein gefühlt, wenn es keine Jugendakademie gegeben hätte. Kann er im kommenden Sommer intensiver mit den Profis arbeiten?
(Foto: MICHAELA REHLE/AFP via Getty Images)

Welche Schlüsse ziehen die Bayern aus der aktuellen Situation?

Aber mal ehrlich: Wenn eine Akklimatisierungsphase dazu führt, dass die Bayern wieder einen Punkteschnitt in der Bundesliga haben, der sie zu mindestens 80 Punkten führen kann, wenn sie im Schnitt so viele Tore schießen wie noch nie, dann ist die Kritik, die vielerorts recht scharf und auch endgültig formuliert wird, auf jeden Fall als Produkt einer kurzfristigen Analyse zu sehen.

Zwar bedeutet das nicht, dass im Umkehrschluss alles gut ist beim FC Bayern. Doch wirklich schlecht ergeht es dem Rekordmeister unter Nagelsmann auch nicht. Nur weil das Fußballgeschäft an sich schnelllebiger geworden ist, bedeutet das nicht, dass Prozesse, die schon immer Zeit gebraucht haben, plötzlich ebenfalls schneller ablaufen.

Nagelsmann, aber auch der FC Bayern als Ganzes werden aus der jetzigen Phase ihre Schlüsse ziehen müssen. Das betrifft die taktische Ausrichtung, die Form von Einzelspielern, aber auch die generelle Strukturierung und Qualität des Kaders. Gleichzeitig werden sie ihr Urteil nicht an drei oder vier Spielen festmachen. Die entscheidende Saisonphase beginnt erst jetzt.