Barçawelt-Analyse: Reicht Barcelonas individuelle Klasse aus?

Justin Trenner 13.08.2020

FC Bayern München gegen FC Barcelona: Bereits 2015 und 2013 trafen die beiden Mannschaften in der Champions League aufeinander – damals sprachen viele (unter anderem Uli Hoeneß, Präsident der Münchner) von einem vorgezogenen Finale. In beiden Jahren zählten die beiden FCBs zu den absoluten Favoriten auf den CL-Titel. Dennoch setzte sich eine Mannschaft immer recht dominant durch und holte sich letztendlich den Titel. 2013 waren es die Bayern, 2015 der FC Barcelona. 

Im Jahr 2020 ist dies etwas anders – von einem vorgezogenen Finale kann man nicht wirklich sprechen. Zu schwach präsentierte sich der FC Barcelona die gesamte Saison über. Die Bayern gehen daher als klarer Favorit ins Rennen. Dennoch tut der deutsche Rekordmeister gut daran, die Katalanen nicht zu unterschätzen. Denn auch sie haben einige Waffen, mit denen Sie den Münchnern richtig weh tun können. 

Barças Stärken – Wo können die Katalanen den Bayern gefährlich werden? 

Eben diese Stärken sollen nun mit Bezug auf die bayerische Spielweise erläutert werden. Allerdings ist die größte der Stärken des FC Barcelona nahezu gegnerunabhängig: Lionel Messi.

In der Champions League kommt Messi auf eine Torbeteiligung pro Spiel – für seine Verhältnisse sogar eine schwache Saison. In der Liga hingegen erzielte der sechsfache Weltfußballer in 33 Spielen 25 Tore und stellte nebenbei mit 22 Vorlagen noch einen Assist-Rekord auf. 

Diese ohnehin schon beeindruckenden Zahlen reichen jedoch nicht annähernd aus, um den Impact la Pulgas für das Spiel Barças widerzuspiegeln. Messi ist Spielmacher, Torschütze, Assistgeber und Dribbling-Genie in einer Person – er hat schon zahlreiche Spiele dieser Saison quasi alleine entschieden und wenn Messi gegen den FC Bayern einen Sahnetag erwischt, kann er durchaus auch diese Partie entscheiden. 

Auch neben Messi: Hohe individuelle Qualität in Barças Kader

Da Barça in dieser Saison seine Spiele meist nicht aufgrund taktischer Meisterleistungen sondern aufgrund individueller Qualität gewinnt, müssen an dieser Stelle auch noch weitere Spieler explizit genannt werden. Der wichtigste Spieler nach Messi steht dabei im Tor der Katalanen: Marc-André ter Stegen. Die Fans von Manuel Neuer werden es zwar nur ungern hören, aber ter Stegen hat sich in dieser Saison nochmals extrem nach vorne entwickelt. Auf der Linie bärenstark, kratzt er auch zahlreiche „Unhaltbare“ von der Linie. Er ist in der Luft eine Bank und spielerisch der elfte Feldspieler. Insbesondere die Spieleröffnung der Blaugrana ist komplett auf ter Stegen zugeschnitten und durch seine präzisen Pässe initiiert der Deutsche viele Angriffe bereits aus der eigenen Box heraus.

Auch neben den beiden Protagonisten des katalanischen Spiels hat Barça eine hohe individuelle Qualität in den eigenen Reihen. Im Achtelfinal-Rückspiel war dies deutlich zu erkennen – immer wieder löste sich der FC Barcelona per Dribbling aus dem Pressing der Italiener. Gerade diese Pressingresistenz könnte gegen die Bayern ein X-Faktor sein – in der Regel presst der deutsche Serienmeister seine Gegner recht hoch, meist im vorderen Drittel.

Machen sie das auch gegen die Katalanen und diese können sich eben durch die Stärke im Dribbling aus diesen Pressingmaschen befreien, entstehen zwischen Mittelfeld und Viererkette große Räume. Und in diesen Räumen hat der FC Barcelona in Person von Messi, Antoine Griezmann und Luis Suárez die Qualität, aus dem kleinsten verfügbaren Raum einen Treffer zu erzielen. 

Eiskalt vor dem gegnerischen Kasten 

Wo wir direkt zur nächsten Stärke kommen: Der Chancenverwertung. Wirklich viele Chancen erspielte sich Barça in nur wenigen Spielen. Auch gegen den SSC Neapel hatte man verhältnismäßig wenige Abschlüsse – allerdings wurde fast jede kleine Möglichkeit in Zählbares umgemünzt. Und gerade wenn man sich die Spiele der Bayern anschaut, hatte der Gegner meist ein bis zwei Chancen, welche von Manuel Neuer entschärft wurden. Dies kann gegen Barça anders sein – und insbesondere in einem „One-Leg-Tie“ ist die Chancenverwertung entscheidend. Auch wenn Suárez nicht mehr in der Form seiner besten Tage ist, vor dem Tor ist er derzeit wieder ein Monster. 

Gegen den SSC Neapel schien es auch so, als hätte der FC Barcelona in gewisser Weise seine Balance gefunden. Trainer Quique Sétien bot dabei mit Rakitic, de Jong und Sergi Roberto ein Mittelfeld auf, welches zwar nicht besonders kreativ war, dafür aber umso präsenter und laufstärker. Die Schaltzentrale wirkte omnipräsent und schaffte es, den vorderen Dreien sowie den Außenverteidigern den Rücken für die Offensive freizuhalten. Auch dies könnte nochmals ein großes Plus sein. 

Auch wenn Barça in dieser Saison nicht wirklich durch taktische bzw. eingespielte Muster überzeugt, lässt sich Coach Sétien immer wieder taktische Kniffe einfallen, die im Grundgedanken gut waren, jedoch nicht immer ausreichende Wirkung erzielten. Beispielsweise erkannte Sétien früh, dass er alles dafür tun muss, dass Messi nicht zugestellt wird und den Raum zwischen den Linien bespielen kann. 

Gegen den SSC Neapel beispielsweise pendelte Sergi Roberto aus dem zentralen Mittelfeld immer wieder zwischen rechtem Innen- und Außenverteidiger, erzeugte fast eine Art Dreierkette. Dadurch konnte Rechtsverteidiger Nelson Semedo extrem hoch agieren und den Außenverteidiger der Neapolitaner binden. Außerdem lockte Roberto so das zentrale Mittelfeld von Neapel nach vorne, wodurch eben jener Raum zwischen den Linien entstand und Messi angespielt werden konnte. 

Beispielsweise könnte diese Muster auch gegen Bayern erfolgreich sein: Semedo geht hoch und bindet Alphonso Davies – gleichzeitig rückt der pressingstarke Goretzka nach vorne um Roberto zu pressen, Messi schleicht sich zwischen die Linien bekommt den Ball und kann in aller Ruhe aufdrehen (ähnlich sind seine beiden Tore im Hinspiel 2015 entstanden). 

Ein großer Nachteil ist gerade in dieser Hinsicht auch der vermeintliche Ausfall von Benjamin Pavard für die Münchner. Durch die Verletzung des Franzosen rückt wohl wieder Joshua Kimmich nach rechts hinten und Thiago neben Goretzka auf die Doppelsechs. Gerade gegen Barça könnte jedoch ein derart laufstarker, aggressiver und zweikampfstarker Sechser wie Kimmich als Lückenfüller Gold wert sein. 

Barças Schwächen – Hieraus muss der FC Bayern Kapital schlagen 

Die größte Stärke des FC Barcelona ist gleichzeitig auch eine Schwäche: Die Offensive ist komplett von Messi abhängig. Kaum ein Tor entsteht, bei welchem der Zauberfloh seine Beine nicht im Spiel hat – von ihm geht sämtliche Kreativität aus. Sprich: Hat Messi einen schlechten Tag oder wird von den Bayern gut zugestellt, wird es für Barça extrem schwer, ein Tor zu erzielen. 

Auch sonst ist das Offensivspiel der Katalanen recht einfach auszurechnen: Besonders auffällig ist dabei, dass kaum Flügelspiel betrieben wird. Meistens geben nur die beiden Außenverteidiger (meist Jordi Alba und Semedo) die Breite. Oftmals mangelt es dadurch an Anspielstationen und Laufwegen in der Tiefe. Außerdem agiert der FC Barcelona in der Regel ohne klassischen Flügelspieler, der auch mal das Dribbling sucht und so Löcher in kompakte Abwehrreihen reißen kann. Und genau dieser Spielertyp fehlt dem FC Barcelona auch bei Kontern, weshalb diese meist verschleppt werden müssen. 

Gerade dies ist eine Schwäche, die dem FC Bayern München in die Karten spielen könnte. Unter Coach Hansi Flick spielen die Münchner deutlich vertikaler und schneller in die Spitze. Wenn Barças Außenverteidiger wie gewohnt hoch und breit stehen, entstehen bei Ballverlusten dahinter extrem große Räume. Ein gefundenes Fressen für pfeilschnelle und darüber hinaus auch noch torgefährliche Angreifer wie Kingsley Coman und Serge Gnabry. 

Und um das Thema Außenverteidiger abzuschließen: Rechts hinten wird auch gegen die Bayern aller Voraussicht nach Semedo agieren. Dieser spielte in den letzten Spielen zwar überwiegend richtig gut, agiert dabei aber oft sehr risikoreich. Gerade Dribblings vom eigenen Sechzehner startend waren gegen den SSC Neapel noch erfolgreich, können aber gegen die pressingstarken München nach hinten losgehen. 

Ein weiteres Kernproblem der bislang titellosen Blaugrana ist die Dynamikarmut in der Offensive – zwar waren gegen den SSC Neapel einige Positionsrochaden und damit auch einer Verbesserung in diesem Punkt erkennbar, allerdings läuft die Passmaschinerie Barças nicht mehr mit dem Tempo und der Dynamik vergangener Jahre. Beispielsweise unter Pep Guardiola oder auch Luis Enrique hatte der FC Barcelona einen ganz anderen Zug im Spielaufbau und Passspiel. Nahezu spielerisch wurde in dieser Zeit die Spieldynamik variiert, um durch die Verteidigungsreihen des Gegners zu brechen. 

Barças Schwächen gegen den Ball – Einst Trumpf, heute Negativfaktor 

Auch beim Spiel gegen den Ball hat der FC Barcelona nicht mehr die Qualität vergangener Tage. Während man mit dem spanischen Vizemeister eigentlich eine gut geölte Pressingmaschine in Verbindung bringt, sieht man in dieser Saison eher eine passive, im 4-4-2 verteidigende Mannschaft. Allgemein kann das Pressing aktuell als eine der größten Schwächen der Katalanen bezeichnet werden. Es gelingt nicht (mehr), insbesondere gegen starke Mannschaften, ein hohes und effektives Pressing aufzuziehen und den Gegner vom eigenen Sechzehner fernzuhalten. 

Zwei Gründe sind dafür entscheidend: Erstens agiert Barça gegen den Ball eigentlich nur mit neun Spielern. Die Arbeitsmoral von Messi und Suárez hält sich sehr in Grenzen. Wie genau das in einem „One-Leg-Tie“ in der Champions League aussieht, steht in den Sternen, aber in den meisten Spielen ist es so. Dadurch, dass sich die zwei Superstars größtenteils aus dem Pressing herausnehmen, fällt es schon einmal schwer, Druck auf die gegnerischen Innenverteidiger zu bekommen.

Gegen den FC Bayern München kann das zu einem ernsthaften Problem werden. Gerade der linke Innenverteidiger David Alaba spielt sensationell auf – und besonders in der Spieleröffnung merkt man sehr häufig, dass der Österreicher eigentlich offensiver veranlagt ist. Wenn Alaba keinen Druck von Messi und Suárez bekommt, wird er bis weit ins Mittelfeld andribbeln, dort eine Überzahl herstellen und als heimlicher Spielmacher agieren. 

David Alaba als Unterschiedspieler gegen Messi und Co.?
(Foto: Alex Grimm/Bongarts/Getty Images)

Der zweite Grund, warum das hohe Pressing Barças nicht mehr wirklich gespielt wird, ist der Geschwindigkeitsmangel in der Innenverteidigung. Gerade Gerard Piqué ist nicht mehr der schnellste und hat im Laufduell meist das Nachsehen. Würden die Katalanen also hoch pressen, könnten gerade die Bayern mit ihren schnellen Offensivspielern die Kette mit langen Bällen einfach überspielen. 

Passivität als Kernproblem?

Die größten Probleme hat Barça trotz aller bereits aufgezählter Schwächen nicht in spielerischer oder taktischer Hinsicht. Das größte Problem der Katalanen scheint der eigene Kopf zu sein. Die Mannschaft wirkt in vielen Spielen satt, agiert nicht zielstrebig und legt oftmals auch eine geringe Grundaggressivität an den Tag. Dadurch schleichen sich ins Spiel immer wieder Phasen von kompletter Passivität ein. Die Mannschaft verwaltet in dann fast ausschließlich, wirkt gar paralysiert. 

Genau diese Einstellungen haben dafür gesorgt, dass der FC Barcelona die letzten beiden Saisons aus der Champions League – trotz großen Vorsprüngen aus dem Hinspiel – jeweils ausgeschieden ist. Auch gegen den SSC Neapel hatte Barça insbesondere zu Beginn beider Halbzeiten, aber auch gegen Ende der Partie, diese Phasen der Sorglosigkeit. Den Neapolitanern fehlte letztendlich die Klasse, um daraus Kapital zu schlagen. Die Münchner haben diese Klasse zweifelsohne – Robert Lewandowski beispielsweise macht derzeit sowieso aus jeder Halbchance ein Tor. 

Darüber hinaus wirkt die Blaugrana in dieser Saison mental sehr unsicher – insbesondere in Auswärtsspielen wurden in der Liga einige Punkte auch gegen schwächere Teams liegen gelassen. Gerade hierbei handelt es sich um eine reine Mentalitäts- bzw. Einstellungssache. Es bleibt abzuwarten, ob die Katalanen auf neutralem Platz ihr „Heim- oder Auswärtsgesicht“ zeigen.

Mentalitätsvorteil Bayern oder Messis Bühne?

In puncto Mentalität zeigen die beiden FCBs also große Unterschiede: Während der FC Barcelona ausgelaugt wirkt, gehen die Münchner ihre Spiele mit einer unnachahmlichen Gier und Entschlossenheit an. Die Vorzeichen stehen also ungefähr ähnlich, wie bei den beiden deutlichen Siegen der Münchner gegen die Katalanen im Jahr 2013. 

Allerdings ist dieses Mal Messi zu 100 % fit – und was alleine ein Messi in Topform bewegen kann, bekam der FC Liverpool vergangene Saison im Halbfinal-Hinspiel schmerzlich zu spüren. Auch wenn die Vorzeichen für die Münchner sprechen, alle Fußball-Fans dürfen sich auf ein wahres Fußballfest freuen. 

Eine Analyse von Barçawelt – dem deutschsprachigen Portal über den FC Barcelona. Tägliche News, Updates, Analysen und Hintergründe könnt ihr auf barcawelt.de nachlesen. Wir bedanken uns recht herzlich für die Zusammenarbeit in dieser Woche. Unsere Analyse zum FC Bayern lest ihr hier.