Adventskalender: Unsere Wunschtransfers – Türchen 21
Ein Artikel von Dirk Adam
Wenn es einen Spieler gibt, den ich nach der Wende gerne beim FC Bayern gesehen hätte, wäre es Ulf Kirsten von Dynamo Dresden gewesen. Leider hat ein Wechsel zum Rekordmeister nie geklappt bzw. war nie ein Thema, obwohl Kirsten neben Andreas Thom vom BFC Dynamo zu den besten Stürmern in der ehemaligen DDR gehörte.
Situation beim Spieler
Nach der Maueröffnung war Kirsten sofort vom Markt, denn ein Mann war besonders schnell: Reiner Calmund. Wie er mir in einem Gespräch einmal ausführlich erzählte, fuhr er direkt nach der Wende in den Osten, während sich hunderttausende Menschen aus den neuen Ländern in den Westen aufmachten, um sich das Begrüßungsgeld abzuholen.
Anstatt Begrüßungsgeld verstaute Calmund lieber Geschenke im Kofferraum, als er sich auf den Weg in Richtung Dresden machte. Für Kirstens Sohn Benjamin hatte er Spielzeug dabei, um auch seinen Vater Ulf („Der Schwatte“) zu bezirzen. Callis geniale Idee verfehlte seine Wirkung nicht. Kirsten ließ sich überzeugen und wechselte 1990 zu Bayer Leverkusen.
Was wäre gewesen, wenn der DDR-Fußballer des Jahres 1990 zum FC Bayern gegangen wäre? Der beste Stürmer eines untergegangenen Landes, der seit 1983 in Dresden unter Vertrag stand, in 180 Pflichtspielen insgesamt 67 Tore erzielte und bei seinem Verein wie ein Gott gefeiert wurde? Der FC Bayern wäre um einen Topspieler reicher gewesen.
„Man hatte das Gefühl, er kennt keinen Schmerz. Auf der einen Seite war er sehr sensibel, auf der anderen Seite kannte er keine Verwandten auf dem Platz. Als junger Spieler war bereits zu sehen, dass er mal seinen Weg gehen wird. Für Dynamo Dresden war er unersetzbar“, erklärt Ex-Dynamo-Trainer Eduard Geyer gegenüber Miasanrot.
Situation beim FC Bayern
Zur Saison 1990/91 standen mit Brian Laudrup, Alan McInally, Radmilo Mihajlović und Roland Wohlfahrt vier Stürmer im Kader der Münchner, vor denen sich Kirsten hätte nicht verstecken müssen. Trainer war zu diesem Zeitpunkt Jupp Heynckes, der den FC Bayern im Jahr 1987 übernommen hatte und 1989 sowie 1990 zu zwei Meisterschaften führte.
Danach kam es zu einer Krise. Nachdem Bayern 1991 Zweiter hinter dem 1. FC Kaiserslautern wurde, verloren die Münchner zu Beginn der Saison 1991/92 fünf Spiele hintereinander. Heynckes, dessen Team die Abgänge von Stefan Reuter, Raimond Aumann und Laudrup zu verkraften hatte, wurde am 8. Oktober 1991 von seinen Aufgaben freigestellt.
Mit Kirsten im Sturm wäre der Lauf der Geschichte vielleicht ein anderer gewesen, denn der torgefährliche Sachse schlug wie eine Bombe in Leverkusen ein. Gleich in seinem ersten Bundesliga-Spiel für die „Werkself“ am 11. August 1990 schoss Kirsten den Führungstreffer gegen Bayern. Das Spiel endete 1:1, weil Stefan Effenberg in der 83. Minute einen Elfmeter verwandelte.
In seiner ersten Bundesliga-Saison sollte Kirsten noch zehn weitere Male für Leverkusen treffen. Hinzu kommen zwei Torvorbereitungen in 32 Spielen. Anpassungsprobleme? Fehlanzeige. Kirsten machte das, was er am besten kann. Tore schießen. So wie früher bei Dynamo Dresden, die ihren Top-Torschützen bis zum Zwangsabstieg 1995 schmerzhaft vermissten.
„Ulf hat immer gut trainiert, nur manchmal musste man ihn ein bisschen treten. Ansonsten hat er für seine Mannschaft immer 100 Prozent gegeben. Seine Stärke war sein Durchsetzungsvermögen. Er hat aus vielen Situationen versucht Tore zu machen und er war ziemlich schnell. Selbst mit dem Kopf hat er getroffen, obwohl er nicht die perfekte Körpergröße hatte“, so Geyer.
Insgesamt kam Kirsten nach seinem Wechsel 1990 von Dresden nach Leverkusen bis zum Jahr 2003 in 448 Pflichtspielen auf sagenhafte 240 Tore und 50 Torvorlagen. Calmunds Investition hatte sich vollends ausgezahlt.
Ausblick: Was wäre, wenn …
Wenn man sich diese Statistiken vor Augen hält, mag man sich gar nicht ausrechnen, was mit Kirsten beim FC Bayern passiert wäre.
Wahrscheinlich hätte Kirsten in eine Liga mit Größen wie Gerd Müller aufsteigen und sich unsterblich machen können. Und noch viel wichtiger, Kirsten hätte unzählige Pokale gewinnen können, die ihm in Leverkusen verwehrt blieben. Nach drei DDR-Meisterschaften mit Dynamo Dresden reichte es bei der „Werkself“ nur zum Champions-League-Finale 2001/02, vier deutschen Vize-Meisterschaften sowie dem DFB-Pokalsieg 1993.
Beim FC Bayern wäre Kirsten mit Titel und Trophäen überhäuft worden. Allein bis zu seinem Karriereende 2003 wäre der gebürtige Riesaer mit den Münchnern sechs Mal Deutscher Meister, drei Mal DFB-Pokalsieger und einmal Champions-League-Sieger geworden. Diese Titel hätten in etwa dem Potenzial entsprochen, das Kirsten hatte.
„Nach der Wende ging bei Dynamo Dresden alles drunter und drüber. Wer zuerst kam, malte zuerst. Der FC Bayern war damals vielleicht zu vorsichtig. Aber ich bin mir sicher, dass Ulf Kirsten bei Bayern seinen Weg gemacht hätte“, so Geyer weiter, der im Rückblick auf seinen einstigen Schützling ins Schwärmen gerät, was bei „Eisen-Ede“ selten der Fall ist.
Sein ehemaliger Dresdner Trainer erklärte zudem einmal, dass Kirsten im Strafraum mit dem Kopf dahin geht, wo andere ihren Fuß wegziehen. Mehr Lob kann man von Geyer nicht erhalten, der Kirsten von 1986 bis 1990 trainierte und auch sein Nationaltrainer war, bevor Kirsten seine Fußballschuhe ab 1992 fürs DFB-Team schnürte.
Kirsten hatte bis 1998 unter Bundestrainer Berti Vogts keinen leichten Stand. Der „Bomber der Neunziger“ absolvierte bis zum Jahr 2000 aber immerhin 51 Länderspiele und schoss 20 Tore. Im Vergleich zu seinem Potenzial ein Witz, aber Vogts stand nicht auf den „Schwatten“. Wenn Kirsten beim FC Bayern gespielt hätte, hätte er vielleicht öfters gespielt.
„Mit Rudi Völler und Karl-Heinz Riedle hatte Ulf Kirsten in der Nationalmannschaft schon ein paar Granaten vor der Brust. Ich hätte ihm natürlich mehr Spiele im DFB-Trikot gewünscht, weil er nicht nur ein klasse Spieler war, sondern auch ein feiner Kerl ist“, sagt Geyer.
Beim deutschen EM-Sieg 1996 und sogar schon 1992, stand Kirsten jedoch nicht einmal im DFB-Kader. Dadurch verpasste er weitere Titel. Ein kleiner Trost aber bleibt. Der Deutsche Fußball-Bund rechnete Kirstens 49 DDR-Länderspiele seiner Vita hinzu, so dass er auf insgesamt 100 Länderspiele kam und auf diesem Weg die ihm zustehende Anerkennung erhielt. Sein 100. Länderspiel am 20. Juni 2000 gegen Portugal war sein letzter Auftritt im DFB-Trikot.
Dass Kirsten im Sommer 1990 für lächerliche 3,5 Millionen DM nach Leverkusen wechselte, dafür sorgte Calmund. Der Kult-Manager verhinderte in den folgenden Jahren auch einen direkten Kontakt zwischen Kirsten und Bayern. In den 1990er Jahren soll es immer wieder lose Anfragen gegeben haben, aber Calli blockte alles ab und steckte keine Informationen an seinen Spieler durch. Für alle Kirsten-Fans musste die Vorstellung, dass er einmal im Trikot des FC Bayern spielt, für immer ein unerfüllter Traum bleiben.
Nach dem Brecher Ulf Kirsten wird es im nächsten Türchen wieder filigraner. Wie ein spanischer Stratege dem FC Bayern eine andere Identität hätte verpassen können …