Adventskalender: Unsere Wunschtransfers – Türchen 18

Justin Trenner 18.12.2020

Es ist der 13. Juni 1993. Ich bin noch keine drei Monate auf dieser Welt und werde auch viele Jahre später nicht allzu viel Interesse für den FC Bayern zu dieser Zeit aufbringen können. Hätte sich aber das bewahrheitet, was an diesem Tag auf einer Doppelseite des Kickers steht, hätte ich vielleicht anders gedacht: „Gullit wird ein Münchner“. Und weiter: „Beim FC Bayern wird es noch als Geheimnis gehütet. Doch Ruud Gullit selbst hat es ausgeplaudert: Der holländische Superstar wird in den kommenden zwei Jahren beim FC Bayern spielen. Der Supertransfer soll noch in dieser Woche abgewickelt werden.“

Doch daraus wird nichts. Nur drei Tage später titelt der Kicker: „Warten auf Ruud Gullit – Skepsis in München“. Die Frau sei das Problem. Bemerkenswert ist folgende Passage aus dem Bericht des Fachmagazins: „‚Gullits Frau ist noch immer der Bremsklotz‘, berichtete Hoeneß, ‚sie kann sich nicht vorstellen, in München zu leben.‘ Die jüngsten vom Ausländerhaß geprägten Mordanschläge von Solingen und die Ausländerfeindlichkeit in Rostock wurden plötzlich im Hause Gullit in der Piazza Castello diskutiert.“

Über die exakten Gründe will Hoeneß Jahre später aber nichts mehr wissen. Launig erzählt er 2019 in einem Interview mit dem vereinseigenen Magazin „Säbener 51“ von den Verhandlungen:

Ruud Gullit war ganz verrückt. Erst bin ich mit Franz Beckenbauer nach Mailand geflogen. Als wir morgens um halb zehn bei ihm in die Wohnung kamen, war noch niemand wach – außer der Butler. Er hatte einen Butler! Der bat uns dann in den Salon, wir haben Kaffee getrunken. Schließlich war der Transfer klar und er kam nach München zur Untersuchung bei Dr. Müller-Wohlfahrt. Da war immer noch alles klar. Am Abend waren wir gemeinsam essen, er übernachtete bei mir. Da war auch noch alles klar. Am nächsten Morgen hat er gesagt, er müsse nach Mailand und mit seiner Frau sprechen – am Abend hat er dann abgesagt. Warum, weiß ich bis heute nicht genau.Uli Hoeneß im März 2019 in der „Säbener 51“

Zugegeben: Als 1993er-Jahrgang bin ich nicht der Autor, der diesen Spieler in all seinen Facetten umfassend bewerten kann. Dafür muss man ihn wahrscheinlich live gesehen haben. Aber ich habe die Mailänder unter Sacchi in der Vergangenheit sehr oft im Re-Live fasziniert beobachtet und mir so eine Meinung von den herausragenden Spielern dieser Mannschaft gebildet. Und wenn niemand sonst diese absolut geniale Geschichte nehmen möchte, dann fühle ich mich geradezu dazu gezwungen, sie nochmal zu beleuchten.

Situation des Spielers

Gullit wäre zweifelsohne ein „Supertransfer“ gewesen, wie es der Kicker bezeichnete. Gemeinsam mit anderen Größen des Fußballs prägte er eine der beeindruckendsten Mannschaften in der Geschichte des Fußballs: Den AC Mailand Ende der 80er und Anfang der 90er. Die „Gil Immortali“ (Die Unsterblichen) gewannen unter Trainer Arrigo Sacchi zweimal den damaligen Europapokal der Landesmeister (1989 und 1990).

Gullit erzielte für die Mailänder in insgesamt 117 Spielen 35 Tore, wusste vor allem als Schattenstürmer neben Marco van Basten zu überzeugen. Ähnlich wie Thomas Müller heute agierte Gullit in einer Art Freigeist-Rolle für Milan. Der große Unterschied zu Müller war aber die technische Finesse: Gullit hatte eben andere Mittel, um das Spiel seiner Mannschaft zu gestalten. Vor allem wusste er mit seinen dynamischen und wuchtigen Läufen in die Spitze Gefahr auszustrahlen.

Doch wie konnte es sein, dass Gullit 1993 überhaupt zur Verfügung stand? Ich habe verschiedene Leute gefragt, die sich intensiv mit dem italienischen Fußball der damaligen Zeit beschäftigen und die Antwort war fast immer gleich: In Italien waren die Klubs nahezu süchtig danach, jedes Jahr neue Namen zu präsentieren. Beispielsweise wurde auch ein gewisser Lothar Matthäus 1992 aussortiert.

Fakt ist aber auch, dass sich bei Gullit bereits ein Rückgang seiner Qualitäten andeutete. Die ganz großen Leistungen wie bei der Europameisterschaft 1988 erreichte er nicht mehr. Aber: Gullit war immer noch Weltklasse.

Situation beim FC Bayern

Und genau deshalb wäre er auch ein absoluter Gewinn für den FC Bayern gewesen. Es ist bekannt, dass die Münchner zu Beginn der 90er nicht unbedingt die beste Phase ihrer Klubgeschichte hatten. Es gab zwar vereinzelte Erfolge, doch ein richtig großer Wurf und vor allem Konstanz fehlten.

Oft geht mit einem schwächelnden FC Bayern auch eine eher schwache Phase des deutschen Fußballs allgemein einher – so auch Anfang der 90er. Das Niveau in der Bundesliga war mit jenem in der Serie A beispielsweise kaum vergleichbar.

Es ist keine allzu steile These, dass Gullit recht locker einer der besten, wahrscheinlich sogar auf Anhieb der beste Spieler der Liga gewesen wäre. Vielleicht hätte er die Bayern stabilisieren und ihnen den entscheidenden Push für mehr Erfolge geben können. Gemeinsam mit Lothar Matthäus hätte er jedenfalls eine Achse gebildet, auf die wohl viele neidisch geschaut hätten. Und ich hätte später vielleicht mehr anfangen können mit dem FC Bayern der frühen 90er Jahre.

Hinweis: Morgen springen wir wieder in die Moderne. Hätte die Karriere dieses Spielers beim FC Bayern vielleicht einen anderen Verlauf genommen? Sein galaktischer Wechsel scheint sich bisher jedenfalls nicht zu lohnen.