Leon Goretzka würde fehlen: Ein Kommentar zu seiner bizarren Situation
Ich bin ein Fan von Leon Goretzka, dem Menschen. Natürlich kenne ich ihn nicht persönlich, aber seine ungekünstelte Art, sein Mut, auch unbequeme Themen offen anzusprechen und Haltung zu zeigen, die Tatsache, dass er den VfL Bochum, seinen ersten Verein, bis heute unterstützt und im Ruhrstadion als Zuschauer mit geballter Leidenschaft Herbert Grönemeyers „Bochum“ schmettert – das sind alles Dinge, die dazu beigetragen haben, dass er mir in den vergangenen Jahren ans Herz gewachsen ist.
Was hat das jetzt alles mit Leon Goretzka, dem Fußballspieler in Diensten des FC Bayern zu tun? Erstmal gar nichts. Als Profisportler ist es in erster Linie das Wichtigste, Leistung zu bringen. Das ist Goretzka seit 2018, als er vom Ruhrpott an die Isar wechselte, mal mehr, mal weniger gelungen.
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Er wurde mit dem FC Bayern fünfmal Deutscher Meister, gewann zweimal den DFB-Pokal. In der Saison 2019/2020 war er ein Mitgarant für den Triple-Erfolg unter dem damaligen Trainer Hansi Flick: Als klassischer „Box to Box“-Spieler mit beeindruckender physischer Präsenz, der sowohl offensiv als auch defensiv Akzente setzen kann, zeigte Goretzka gerade in jener Saison seine größten Stärken.
In den darauffolgenden Spielzeiten folgten jedoch einige Formtiefs und auch Verletzungen, die zu Zwangspausen führten. Besonders unter Thomas Tuchel hatte er einen schweren Stand und geriet – gemeinsam mit Joshua Kimmich – immer stärker in die Kritik.
Das lag daran, dass sich Bayerns Spielweise immer mehr in eine Richtung entwickelte, die ihm nicht so sehr liegt: Viel Kontrolle in Ballbesitz und ein technisch anspruchsvolles Spiel. Seine Stärken liegen derweil eher in der Athletik, dynamischen Offensivläufen und in der Arbeit gegen den Ball.
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Leon Goretzka: Plötzlich ungewollt
Goretzka versuchte, das Beste aus seiner Situation zu machen und seinen Platz im Team zu verteidigen. Dies gelang ihm auch; zumindest zeigte er wieder stark verbesserte Leistungen in den letzten Wochen mit Tuchel – auch wenn die Bayern trophäenlos blieben.
Trotz der nach oben zeigenden Formkurve am Ende der letzten Saison schaffte es Goretzka nicht in den Kader der Nationalmannschaft von Julian Nagelsmann – ein herber Rückschlag für den Mittelfeldspieler, der somit die EM im eigenen Land verpasste. Hartnäckig geisterte das Gerücht in den (sozialen) Medien umher, dass er kein Teamplayer ist, dass er sich nicht ohne zu meckern auf die Bank setzen würde, dass er ein zu schwieriger Charakter sei. Auch als bekannt wurde, dass Pavlović die EM verpassen würde, nominierte Nagelsmann lieber Emre Can als Goretzka nach.
Und nur kurz nach der Enttäuschung, nicht mehr gut genug für die Nationalmannschaft zu sein, sah sich Goretzka in der Vorbereitung und zu Saisonbeginn beim FC Bayern gleich wieder im Mittelpunkt von Kaderdiskussionen: Sehr schnell galt er als ein Verkaufskandidat. Zu viel Gehalt für viel zu durchwachsene Leistungen, so der Tenor.
Goretzka aber will bleiben. Das ist sein gutes Recht. Im September 2021 hatte er seinen Vertrag vorzeitig bis 2026 verlängert. „Mit dem FC Bayern haben wir in den letzten drei Jahren alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Aber noch schöner als Titel zu gewinnen, ist es, diese Erfolge zu bestätigen und zu wiederholen“, so Goretzka damals. Drei Jahre, zwei Trainer und Sportvorstände später plant der FC Bayern nicht mehr mit Goretzka. Auch das ist das gute Recht des Vereins. Neue Spieler wurden verpflichtet, alte mit sehr gut dotierten Verträgen sollen Platz machen. Und damit befinden wir uns in einer Sackgasse.
Leon Goretzka: Wie geht es weiter beim FC Bayern?
Die Verantwortlichen beim FC Bayern betonen, dass Goretzka ein Teil des Teams sei, Kompany beteuert, dass jeder einzelne Spieler seine Chance erhalte, sich zu beweisen. Aber seien wir mal ehrlich: Kann dieses Versprechen wirklich eingehalten werden? Wie soll Goretzka eine faire Chance erhalten, wenn er teilweise gar nicht im Kader steht?
Wenn er in der 80. Minute von der Bank kommt und in Spielen, die zu dem Zeitpunkt oft schon gelaufen sind, noch seinen Stempel aufdrücken soll? Und selbst wenn er eine gute Leistung zeigt oder sich in die Torschützenliste einträgt wie jüngst in der Champions League gegen Zagreb – das bedeutet noch lange nicht, dass Goretzka dann im nächsten Spiel in der Startelf steht. Muss es natürlich auch nicht, soll nur heißen: Gibt es in dieser Situation überhaupt eine faire Chance für Goretzka?
Laut Kompany ist das so. So sagte der Belgier nach dem Spiel gegen Zagreb: „Er ist beliebt in der Mannschaft. Wir können nur elf Spieler spielen lassen, das ist auch normal. Er ist ganz wichtig in dieser Mannschaft. Es gibt keine Möglichkeit, in die Mannschaft zu kommen, wenn man nicht alles dafür tut. Er macht das gut. Ich bin für die Spieler, nicht gegen sie, das ist mein Job. Man muss immer dran glauben.“
Warum bekommt Goretzka im Netz so viel Gegenwind?
Ginge es nach den Fans im Netz, würde Goretzka schon längst nicht mehr im Bayern-Dress auflaufen. Viele äußern ihren Unmut darüber, dass er sich noch immer nicht aus dem Staub gemacht hat, beschweren sich in den sozialen Netzwerken, wenn er eingewechselt wird, feiern es regelrecht, wenn er es nicht in den Kader geschafft hat. Goretzka wird Geldgier vorgeworfen – natürlich, so sagen diese vermeintlichen Fans, bleibt er lieber beim FC Bayern, wo er Millionen von Euro einsteckt, ohne sich dafür auch noch anstrengen zu müssen, da er ohnehin kaum spielt.
Das ist eine interessante und natürlich auch paradoxe Perspektive, denn wie oft musste man in der Vergangenheit lesen, dass die meisten Spieler überhaupt nicht mehr wissen, was Vereinstreue bedeutet, dass sie zum nächsten Club ziehen, sobald ein lukrativer Vertrag winkt? „Verräter, lass dich hier nicht mehr blicken“ – so oder ähnlich der Tenor, als beispielsweise David Alaba sich vor einigen Jahren dazu entschloss, sich neuen Herausforderungen bei einem neuen Verein zu stellen. (WAS ERLAUBEN ALABA!)
Wenn aber einer sagt, er fühle sich wohl beim FC Bayern, identifiziert sich mit dessen Werten und dem Mia-san-mia-Gefühl, möchte alles dafür tun, um noch einmal anzugreifen und sich zurück ins Team zu kämpfen, so wie jetzt Goretzka, dann ist es auch wieder falsch, denn im Grunde ist er ja nur ein alter Schmarotzer. Ja, was denn nun?
Zumal es zwar stimmt, dass Goretzka zu den Topverdienern zählt. Doch bei einem wirtschaftlich derart gesunden Club wie dem FC Bayern hängt nicht alles davon ab, ob er bleibt oder geht. Oder anders formuliert: Die Münchner hätten ihm rein aus finanzieller Perspektive noch fünf Spieler vor die Nase setzen können und es hätte sie nicht geschmerzt.
Dass Goretzka unter anderem deshalb in München blieb, weil er sich dort privat wohlfühlt, er das Privileg genießt, mit Freunden statt mit Teamkollegen zu spielen und es vielleicht auch gar keine attraktiven Angebote gab, fällt vielen offenbar nicht ein.
Die Südkurve hat es vorgemacht: Goretzka verdient Respekt
Ich bin der Ansicht, dass man gerade Spielern, die sich in einer schwierigen Phase befinden und offensichtlich zu kämpfen haben, den Rücken stärken sollte. Wenn beispielsweise Upamecano ein Fehler unterläuft, der im schlimmsten Fall zum Gegentor führt, oder Serge Gnabry freistehend vor dem Tor eine Großchance vergibt, dann sollte man sich einfach mal fragen, was ihnen wohl mehr hilft: Kommentare, die in etwa sagen „Blöder Fehler, aber kann passieren, Kopf hoch, das wird schon wieder!“ oder die Aufforderung, umgehend den Club zu verlassen, am besten noch gepaart mit Beleidigungen oder Beschimpfungen? Wieso jemanden treten, der ohnehin schon am Boden liegt?
Hier offenbart sich auch ein krasser Gegensatz zwischen den Dynamiken im Netz und jener Dynamik, die sich jüngst in der Allianz Arena entwickelt hat. Während Goretzka im Internet sehr oft verschmäht und angegangen wird, erhielt er zumindest von den Fans im Stadion großen Zuspruch.
Sein Tor gegen Zagreb war sicher nicht das Wichtigste, wurde aber dennoch am lautesten bejubelt. Nach dem Spiel gab es „Leon, Leon“-Sprechchöre – ein Zeichen des Respekts für seinen Einsatzwillen und Unterstützung für „einen von uns“, der es gerade nicht leicht hat. So sollte es sein, und nicht anders.
Klar, soziale Netzwerke spiegeln bestenfalls eine verzerrte Realität wider, und die Meinungen dort sind häufig von Emotionen geprägt. Aber die Entschuldigung „Ach, das sind doch nur so ein paar Spinner im Internet, die kann man einfach ignorieren“ will ich nicht mehr gelten lassen. Wenn mir ein Fehler bei der Arbeit unterläuft, muss ich mir schließlich auch nicht von Tausenden von Instagram- oder X-Usern erzählen lassen, ich sei unfähig und solle mir einen neuen Job suchen.
Allein die Vorstellung lässt mich schaudern. Mir reichen schon die Kommentare, die mich ab und zu erreicht haben, weil ich es als Frau wage, eine Meinung zum Fußball zu haben und diese auch noch öffentlich zu äußern.
Zeichen auf Abschied: Leon Goretzka wird fehlen
Fußball ist ein Mannschaftssport und jeder Spieler, der sein Bestes gibt – Goretzka eingeschlossen – verdient Unterstützung. Ob Goretzka es noch einmal schafft zurückzukommen, bleibt indes fraglich. Die Ansprüche des FC Bayern sind hoch, der Konkurrenzdruck enorm und auch die Spielweise hat sich eher von seinen Stärken wegentwickelt.
Jeder Spieler ist permanent gefordert und muss sich täglich beweisen. Goretzka steht vor der großen Herausforderung, sich in einem qualitativ stark besetzten und hart umkämpften Mittelfeld durchzusetzen. Einen Startelfplatz sehe ich derzeit nicht für ihn, also bleibt die Frage, ob er sich damit zufrieden gibt, von der Bank zu kommen und dem Team vornehmlich als Joker auszuhelfen. Das kann aber seinen eigenen Ansprüchen gar nicht gerecht werden. Deswegen sieht momentan alles nach Trennung aus.
Und damit bin ich wieder am Anfang. Es gibt Spieler, die man aufgrund ihrer Fähigkeiten am Ball, ihrer Torgefahr, ihrer genialen Pässe oder ihrer unglaublichen Paraden im Tor bewundert. Dann gibt es solche, die auch abseits des Platzes eine gute Figur abgeben und die viel beschworene Vorbildfunktion gut erfüllen. Spielerisch wäre ein Abgang von Leon Goretzka vielleicht zu verkraften. Aber menschlich würde er mir beim FC Bayern ganz ungemein fehlen.
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