„Wie kann das kein Tor sein?“

Louisa Trenner 12.12.2022

Szenenanalyse der Slapstick-Aktion von Thomas Müller im Spiel des FC Bayern München gegen Eintracht Frankfurt

Die ausgewählte Szene dürfte vielen Leser:innen noch im Kopf sein. Es handelt sich um einen Konter der Bayern, in dessen Verlauf Serge Gnabry und Thomas Müller allein auf Kevin Trapp zulaufen, Müller den Querpass von Gnabry jedoch zuerst an den Pfosten stolpert und den anschließenden Abpraller unfreiwillig mit dem Kopf klärt. Das Sportstudio titelt auf dem Vorschaubild zur Zusammenfassung: „Müller-Fail bei Bayern-Show“. Der Kommentator fragt in der Szene ab (2:00 min) fassungslos: „Wie kann das kein Tor sein?“.

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Wir schauen uns die Szene genauer an und analysieren die Gründe dafür, dass aus der vermeintlich einfach auszuspielenden 2v0-Situation kein Tor resultierte.  

Ausgangssituation

Zunächst zur Ausgangssituation (Bild 1): Nachdem die Frankfurter weit in die Hälfte der Münchner aufgerückt sind und eine Restverteidigung weit und breit nirgendwo zu finden ist, spielen die Bayern sich frei und Mané schickt Gnabry auf die Reise, der von der Mittellinie an allein auf Kevin Trapp zuläuft. Der etwas zentraler positionierte Müller läuft im Vollsprint mit. Verfolgt werden beide zunächst von drei Frankfurter Verteidigern, wobei nur Kostić eine realistische Chance hat, den Vorsprung aufgrund von Müllers Tempodefiziten noch aufzuholen.

Bild 1: Ausgangssituation für die nachfolgende 2v0-Szene.

2v0

Gnabry kann den Tempovorsprung halten und läuft allein und ohne von einem Gegenspieler gestört zu werden auf das gegnerische Tor zu. Müller hat den Weg mitgemacht und ist zentral perfekt und hinter dem Ball positioniert (Bild 2). Gnabry könnte auch versuchen, selbst abzuschließen, die 2v0-Situation ist jedoch so eindeutig und beide Bayern-Spieler sind mustergültig positioniert, dass die einzig gangbare und sinnvolle Option über die gesamte Szene hinweg der Querpass auf Müller ist. Torwart binden, querlegen, einschieben – so die Theorie.

Bild 2: Entscheidende Sekundenbruchteile für die Entscheidung: Querpass ja oder nein und wenn ja, wann? 

Gnabry muss jetzt bei höchster Geschwindigkeit Entscheidungen treffen und umsetzen. Er muss im Vollsprint Informationen aufnehmen und verarbeiten, z. B.: Wie ist meine Position zum Ball? Wie ist meine Position zum Tor? Wo befindet sich mein Mitspieler? Mit welcher Geschwindigkeit ist mein Mitspieler unterwegs? Mit welcher Geschwindigkeit ist mein Mitspieler in Relation zu meinem Tempo unterwegs? Was kann ich aus der Körperhaltung des Torhüters lesen? Wo sind die Gegenspieler? Kann ein Querpass abgefangen werden?

Aus der Verarbeitung der wahrgenommenen Informationen ergeben sich Entscheidungen:

Spiele ich einen Querpass – ja oder nein? Wann spiele ich den Querpass? Wie richte ich meine Körperposition aus, um den Pass entsprechend spielen zu können? Mit welchem Fuß spiele ich den Pass? Wie scharf spiele ich den Pass?

Gnabry erkennt die Eindeutigkeit der 2v0-Situation und wählt den Pass auf Müller.

Was war auffällig?

  • Gnabrys Pass kommt unter Einbezug der relevanten Faktoren (z. B. Kostićs Laufweg; Kostićs Geschwindigkeit im Vergleich zu Müller) minimal zu spät. Kostić gewinnt dadurch 1 bis 2 Meter – um tatsächlich einzugreifen, reicht es nicht, er kann Müller aber irritieren und entscheidend stören (Bild 3).
Bild 3: Zeitpunkt des Querpasses von Gnabry auf Müller. Die Stärke des roten Pfeils repräsentiert die Passschärfe.

Zur visuellen Veranschaulichung haben wir den (für diese Spielsituation in Anbetracht des Faktors Geschwindigkeit Kostic > Müller) optimalen Zeitpunkt für ein Abspiel in Bild 4 gegenübergestellt.

Bild 4: In dieser Spielsituation optimaler Zeitpunkt für den Querpass. Die Stärke des grünen Pfeils repräsentiert die Passschärfe.

Gnabrys Wahl für den Zeitpunkt des Abspiels ist durchaus nachvollziehbar und theoretisch richtig: Er möchte lange genug selbst angehen, bis er Trapp gebunden hat. Der aus unserer Sicht perfekte Zeitpunkt für das Abspiel (Bild 4) ist keine 100 %-Lösung und in der Theorie suboptimal, da hier das Risiko besteht, dass Trapp auf den Querpass reagieren kann. Aber: Mit Blick auf Bild 3 wird deutlich, dass Trapp hier zwar gebunden ist und bei einem Querpass nicht mehr eingreifen/stören kann, dafür ist es Kostić gelungen, den Abstand zu Müller und zum Ball so weit zu verkürzen, dass er entsprechend für Irritation sorgen kann. In diesem Fall wäre ein früheres Abspiel aufgrund von Kostićs Geschwindigkeit also trotz des höheren Risikos für ein mögliches Eingreifen durch Trapp die bessere Option.

Die Situation hätte trotz des von Gnabry gewählten Zeitpunktes für das Abspiel noch gut aufgelöst werden können, wenn er den Pass mit der entsprechenden Schärfe gespielt hätte. Allerdings:

  • Gnabry möchte den Ball mit seinem starken rechten Fuß querlegen. Deshalb muss er leicht abbremsen, indem er 2 bis 3 kurze Trippelschritte zwischenschiebt, um sein Standbein und seine Körperposition auszurichten. Er schafft es aber aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit nicht, sein Standbein weit genug weg vom Ball und stabil genug zu positionieren, um die nötige Schärfe in seinen Pass zu bekommen.

Da Müller im Vollsprint unterwegs ist, sorgt Gnabrys kurzes Abbremsen, um sich den Ball auf den starken rechten Fuß zu legen, für einen minimalen Delay zwischen den beiden. (Die Verzögerung hätte Gnabry vermeiden können, wenn er den Pass mit dem linken Fuß gespielt hätte).

Müller bekommt den Ball also

  • leicht in den Rücken und muss selbst abbremsen, um überhaupt noch Druck hinter den Ball bekommen zu können.
  • nicht mit der notwenigen Passschärfe, so dass Kostić durch seine Tempovorteile nah genug herankommt, um ihn zu irritieren.

Aus diesen Gründen schien es für Müller in dieser Situation nur darum zu gehen, den Ball irgendwie noch Richtung Tor zu bugsieren. Kostićs Grätsche schien ihn (nachvollziehbar) zu irritieren und er musste im „Abbremsen“ eine Möglichkeit finden, den Ball an Kostić vorbei ins Tor zu befördern. Dass er in Bauchlage über Kostićs Beine stolpert und den Ball anschließend vom Pfosten noch einmal an den Kopf bekommt, sieht dann maximal unglücklich aus.

Durch den Spielausgang von 6:1 können wir die Szene vermutlich mit einem Schmunzeln unter den Top-10-Slapstick-Situationen der Saison verbuchen. Jedoch sollte deutlich geworden sein, dass Müller in eine nicht selbstverschuldete Spielsituation geraten ist, die zunächst etwas Müller-like anmutet, auf den zweiten Blick aber schwer anders oder besser lösbar gewesen wäre. (Der einzige, dem das möglicherweise gelungen wäre, ist Jamal Musiala – dazu aber mehr in einem Folgeartikel).

Fazit:

  • Es lohnt sich, den ersten Eindruck zu überprüfen und weitere mögliche Faktoren in der Entstehung einer Situation in die Beurteilung einzubeziehen.
  • Jede Spielsituation ist anders. Es gibt kein Patentrezept für die Lösung einer Spielsituation und die Spieler müssen jedes Mal auf’s Neue relevante Faktoren (z.B. Geschwindigkeit, Abstand zum Mitspieler/Gegenspieler) in ihre „Berechnungen“ einbeziehen. Daraus folgt:
  • Praxis > Theorie: In der Theorie vermeintlich optimale Lösungen sind nicht immer die beste Wahl. Unter Berücksichtigung der Bedingungen können situationsangepasst auch theoretisch suboptimale Lösungen die beste Wahl sein.

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