Miasanrot-Awards: Nicht eingelöstes Versprechen der Saison 2020/21
Ein Transfer mit langem Anlauf
Die Geschichte mit Marc Roca beginnt schon ein Jahr vor seinem Wechsel nach München, genau genommen im Sommer 2019. Nach einer starken U21-Europameisterschaft stand der junge Spanier ganz oben auf der Einkaufsliste des damaligen Sportdirektors Hasan Salihamidzic. Doch der abgebende Verein Espanyol Barcelona war in keiner Not den zentralen Mittelfeldspieler abzugeben und rief daher die utopische Transfersumme von 40 Millionen Euro auf. Zu viel Geld entschied die sportliche Führung des Rekordmeisters.
Ein Jahr später waren Roca und Espanyol in die zweite spanische Liga abgestiegen. Der Abstieg war eine Folge der Unruhe in der sportlichen Leitung (mit drei Trainerwechseln in einer Saison) sowie einer absolut verunsicherten Mannschaft. Der damals 23-jährige Roca war daran nicht mehr Schuld als seine Mitspieler, konnte aber auch alleine das Ruder nicht rumreißen. Sein großer Förderer Joan “Rubi” Ferrer war als Trainer noch vor der Saison entlassen worden.
Geplagt von Geldsorgen aufgrund des Abstiegs, veräußerte Espanyol sein Kronjuwel Roca für einen Bruchteil der Summe aus dem Vorjahr. Auf dem allerletzten Drücker einer turbulenten Transferphase verpflichtete Salihamidzic den Mittelfeldspieler für neun Millionen Euro und gab ihm einen Vertrag über fünf Jahre. Für den mittlerweile zum Sportvorstand beförderten Salihamidzic, der von dem Spanier weiterhin überzeugt war, ein absolutes Schnäppchen.
Das Versprechen aus Spanien
Ein Absteiger aus La Liga steht nicht gerade ganz oben auf der Watchlist der meisten Journalisten und Blogger, daher waren die meisten Eindrücke geprägt von Rocas Auftritten bei der U21-Europameisterschaft, die er mit Spanien gewinnen konnte. Parallelen zum Triumph der Iberer 2013 wurden wach, als ein entfesseltes Spanien mit den beiden Youngsters Thiago und Isco den Finalgegner Italien 4:2 demontierte.
Natürlich verpflichtete man mit Roca keinen fertigen Spieler, der den abgewanderten Thiago direkt ersetzen könnte. Doch die Stimmen aus Spanien klangen vielversprechend. In ihm stecken die Gene seiner Landsmänner Xabi Alonso und Sergi Busquets – oder von Rodri, den Bayern 2019 auch verpflichten wollte, dann aber im Wettbieten gegen Manchester City verlor.
Sein ehemaliger Mentor Rubi attestierte ihm vor allem ein sehr gutes Spielverständnis und die Fähigkeit ein Spiel zu lesen und darauf gezielt eingreifen zu können. Roca beherrscht dabei sowohl das Mittel der Tempoverschleppung als auch den Steilpass in die Tiefe zur Beschleunigung des Spiels. Ein Ruhepol im Mittelfeld. Roca ist trotz seiner 1,84 Meter kein sonderlich physischer Mittelfeldspieler, scheut allerdings auch nicht vor einem Zweikampf zurück.
Eine Saison in zweiter Reihe
Nach seiner ersten Saison im Münchner Dress stehen lediglich 11 Einsätze über gerade einmal 519 Minuten in den Büchern. Nur sechs Mal durfte Roca von Beginn an spielen, davon einmal im Pokal gegen das unterklassige Düren und einmal bei der FIFA-Klub-WM gegen das international zweitklassigen El Ahly. Deutlich zu wenig, um ein wirkliches Urteil über den Spanier zu fällen. Wieso vertraute Hansi Flick dem Neuzugang so wenig?
Als zentraler Mittelfeldspieler hat man es im System des Erfolgstrainers nicht einfach. Die Rolle ist extrem komplex und stellt höchste Ansprüche. Auch andere Spieler mit ähnlichen Qualitäten – wie Rückkehrer Adrian Fein oder sogar Weltmeister Corentin Tolisso – scheiterten daran. Zudem war das eingespielte Duo aus Kimmich und Goretzka bei Flick, sofern es fit war, immer gesetzt.
Eine Qualität, die für Flick höchste Priorität hat, ist die Arbeit gegen den Ball und dabei vor allem das weiträumige Verteidigen. Immer wieder findet sich der zentrale Mittelfeldspieler im offensiven Flick-Fußball alleine gegen mehrere Angreifer und muss hier Passwege sowie Laufwege strategisch abdecken. Dabei bedarf es gezielten Läufen zum genau richtigen Zeitpunkt. Allesamt Anforderungen, denen Roca so bei Espanyol aufgrund der abweichenden Spielweise nicht begegnet war.
Dementsprechend sichtlich unwohl fühlte sich der Katalane, wenn er auf der Sechs alleine den gegnerischen Angriff aufhalten sollte. Lehrgeld bezahlte Roca dafür im Champions-League-Spiel gegen Salzburg, als er nach einer knappen Stunde mit Gelb-Rot des Feldes verwiesen wurde. Einen eigenen Stellungsfehler in einer ebensolchen Situation wusste er nur unbeholfen per Foul zu klären. Sicherlich für den Spieler und den Trainer ein Rückschlag in ihrem gegenseitigen Vertrauensverhältnis.
Wenn man Flick etwas ankreiden kann, dann dass er es nicht geschafft hat, diese höchst kompliziert zu befüllende Rolle seinen Spielern im Kader näher zu bringen und diese Spieler weiterzuentwickeln. Dabei kamen ihm sicherlich die kurze Vorbereitung, an der Roca durch den späten Wechsel zudem gar nicht teilnahm, und die limitierte Trainingszeit in einem prall vollen Terminkalender in die Quere.
Mit dem Ball bewies Roca allerdings, wenn er denn mal spielte, seine guten Anlagen. Von der Bank ohne Rhythmus durchzustarten ist für die meisten Bankspieler etwas schwierig – man siehe nur Eric Maxim Choupo-Moting. Doch der Mittelfeldspieler tat sein Bestes und gehörte gegen Salzburg und Moskau in der Champions League zu den besten Akteuren auf dem Feld. Er tendierte zwar eher zum sicheren Pass und versteckte sich teilweise im Deckungsschatten des Gegenspielers, doch die Präzision und Sicherheit im Passspiel stachen positiv hervor. Mit längerer Spieldauer stieg das Selbstvertrauen sichtlich und er wagte sich auch an längere, teils sehr vertikale, Bälle. Das machte durchaus Lust auf mehr.
Türöffner Nagelsmann?
Unter diesen Eindrücken hätte man gerne mehr von dem jungen Spanier gesehen, doch dafür müssen sich die Bayern-Fans noch bis zur neuen Saison gedulden. Julian Nagelsmann könnte ein Neuanfang für den mittlerweile 24-Jährigen werden. Der junge Coach gilt als Spieler-Entwickler, der in der Lage ist für jeden Spieler basierend auf dessen individuellen Qualitäten die beste Rolle im System zu finden.
Da Roca nicht im Kader der Spanier für die Europameisterschaft steht, kann er zudem die komplette Vorbereitung unter dem neuen Trainer absolvieren. Das könnte sich für ihn als großen Vorteil erweisen. Die Anpassung an die komplett neuen Anforderungen in der Bundesliga bedürfen gerade für einen jungen Spieler einer gewissen Zeit, die er in der hektischen letzten Saison nicht hatte. Die intensive Arbeit mit dem akribischen Taktiker Nagelsmann wird ihm da sicherlich helfen.
Gerade im Vergleich zum Runner-Up für den Award “Uneingelöstes Versprechen”, Bouna Sarr, sehen die Aussichten für Roca deutlich rosiger aus. Im Gegensatz zum Franzosen wusste er seine Einsätze als Eigenwerbung zu nutzen. Der Fünf-Jahres-Vertrag scheint bei ihm eine sinnvolle Anlage in die Zukunft und ein spannendes Entwicklungsprojekt für Nagelsmann.
Nein, Marc Roca ist nicht der legitime Thiago-Nachfolger und auch nicht der nächste Xabi Alonso. So viel steht nach einem Jahr fest, doch diese Erwartungen an ihn waren auch von Beginn an überzogen. Und dennoch ist das Fähigkeitsprofil von Roca als deep-lying playmaker im Bayern-Kader bisher nicht vorhanden. Genau diese Lücke gilt es für ihn nun zu nutzen. Dabei könnte er in der kommenden Spielzeit vorrangig als Back-Up für Kimmich fungieren, dessen Rolle im Bayern-Mittelfeld ihm am besten liegt.
SZ-Autor Javier Cáceres schrieb im Juli 2019 schon: “Vielleicht muss man solchen Spielern wie Roca aber auch mal Türen öffnen, um ihr Limit zu ergründen, etwa beim FC Bayern.” Hoffen wir, dass Nagelsmann für Roca zum Türöffner wird und der Spanier nächste Saison sein Versprechen einlösen kann, so dass er bei den Miasanrot-Awards für eine andere Auszeichnung im Rennen ist.