Scouting-Report: Callum Hudson-Odoi
Vorwürfe aus London in Richtung München. Gelöschte Instagram-Posts mit kryptischen Botschaften vom Spieler selbst. In wenigen Jahren wahrscheinlich nur eine Randnotiz in der Karriere eines Spielers, der mit 18 Jahren nicht nur talentiert ist, sondern auch erstaunlich selbstbewusst agiert.
Doch der Reihe nach.
Bisherige Karriere:
Der in London geborene Hudson-Odoi kam schon mit sechs Jahren zum FC Chelsea und durchlief dort alle Jugendmannschaften. Mit 15 debütierte er in der U18. Mit 16 in der U23. Im Jahr 2017 spielte er sich mit starken Leistungen für Englands U17 bei EM und WM endgültig in die Notizbücher der europäischen Top-Teams. Bei der WM stand er in sieben Spielen auf dem Platz und holte mit seinem Team am Ende den Titel.
Unter Chelsea-Coach Maurizio Sarri spielte sich der Flügelspieler mit mehr Spielzeit und starken Leistungen zum Beispiel im FA Cup gegen Nottingham erst in den vergangen drei Wochen so richtig in den Fokus. Auch das trägt inzwischen zur schwierigen Gemengelage bei, denn durch das öffentlich artikulierte Interesse der Bayern ist Hudson-Odoi längst zum Politikum geworden.
Pulisic für viel Geld holen und Eigengewächs Hudson-Odoi, der auf einmal aufblüht, günstig abgeben? Das stößt vielen Chelsea-Anhängern übel auf oder sorgt zumindest für Gesprächsbedarf.
Sarri scheint nun um seinen Youngster zu kämpfen. Bayern will ihn sofort. Ausgang offen. Teurer als ursprünglich geplant wird es so definitiv.
Stärken und Schwächen
Unabhängig vom medialen Bohei wird beim Blick auf die Stärken von „CHO“ schnell deutlich, warum sich der FC Bayern so stark um den 18-Jährigen bemüht. Acht Pflichtspieleinsätze stehen in dieser Saison zu Buche. Vier Mal durfte er dabei von Beginn an ran.
Hudson-Odoi kann auf beiden Flügelpositionen spielen. Er hat einen sehr starken rechten und einen bemerkenswert ordentlichen linken Fuß, der gerade für Hereingaben von der linken Seite immer wieder zum Einsatz kommt. Auf den ersten Blick sticht natürlich seine Schnelligkeit hervor. Er hat einen guten Antritt, eine extrem enge Ballführung und wahnsinnig schnelle Füße im Dribbling.
Immer wieder gelingt es ihm damit auch auf Herren-Niveau, den Gegner durch schnelle Haken und Bewegungen mit Ball aus der Balance zu bringen und vorbei zu ziehen. Fast sechs erfolgreiche Dribblings pro 90 Minuten in vier Europa-League-Einsätzen unterstreichen diesen Eindruck.
Doch es lohnt sich vor allem der zweite, vertiefte Blick auf sein Spiel, um zu verstehen, warum der FC Bayern offenbar bereit ist, für ihn tief in die Tasche zu greifen. Anders als viele talentierte Dribbelkünstler in seinem Alter agiert „CHO“ bemerkenswert abgeklärt und beinahe geradlinig.
Sein Spiel ist von einem bemerkenswerten Selbstvertrauen geprägt. Dieses Selbstvertrauen zeigt sich nicht nur in seiner aktiven Kommunikation auf dem Feld, sondern auch in seiner Spielweise. Der Brite fordert den Ball. Er setzt nicht allein auf seine Wucht, sondern bricht Angriffe immer wieder ab, wenn er merkt, dass ein Dribbling nicht erfolgversprechend ist.
Er nimmt den Kopf hoch. Er verzögert Angriffe, wenn es hilfreich ist. Er stößt konsequent zur Grundlinie, wenn sich die Gelegenheit bietet. Es ist wohl vor allem dieser Aspekt seines Spiels, der ihn von der Vielzahl an dribbelstarken Nachwuchsspielern unterscheidet. „CHO“ bietet mehr als Tempo und Dribbelstärke.
Eine Szene aus einem Vorbereitungsspiel gegen den FC Arsenal ist für diese Beobachtung exemplarisch: Hudson-Odoi bricht nach einem Steilpass auf der linken Strafraumkante bis zur Grundlinie durch. Doch anstatt die direkte Hereingabe auf Morata zu probieren, der dort allein gegen drei Verteidiger agiert, dreht Hudson-Odoi scheinbar Richtung Außenlinie ab. Erst als weitere Chelsea-Spieler nachrücken, ändert er erneut die Richtung und bedient mit einem feinen Chip den nachrückenden Fabregas in zentraler Position an der Sechzehner-Grenze. Čech lenkt den nachfolgenden Schuss nur mit Mühe über die Latte.
Eine vielleicht unbedeutende Szene, die aber dennoch viel über das Spiel des Engländers aussagt.
Nicht alle Fragezeichen lassen sich mit Blick auf seine bisherigen Leistungen beantworten. Sein Abschluss ist unkonstant. „CHO“ schließt gern mit der Innenseite ab, was nicht schlecht ist, aber außerhalb des Strafraums wenig Durchschlagskraft erzeugt.
Gegen dribbelstarke Offensivspieler ist er ganz gut darin, die Bewegungen des Gegners zu kontern und den Ball zu erobern, ansonsten fällt er defensiv nicht besonders auf. Ein Plus-Spieler ist er hier in dieser Phase seiner Karriere nicht – was wohl auch mehr Einsatzzeit in London bisher verhindert hat.
Mögliche Rolle bei Bayern
Hudson-Odoi ist ein Flügelspieler, der schnell in der Lage wäre, eine Alternative auf dem Flügel darzustellen. Was Tempo und Dribbelstärke angeht, ist er Robben und Ribéry schon jetzt überlegen. Ein großes Fragezeichen bleibt: Kann „CHO“ in Zukunft pro Saison 20-30 Torbeteiligungen auflegen wie Ribéry und Robben in ihrer besten Zeit?
Das war der entscheidende Faktor, der die beide Altstars über Jahre von vielen anderen dribbelstarken Flügelspielern unterschieden hat. Die Fähigkeit, nicht nur durchzubrechen, sondern aus Situationen am und im Strafraum immer wieder Tore zu kreieren. Das ist der Unterschied zwischen Top-Klasse und Top-Top-Klasse, wie es Michael Reschke gern zu sagen pflegte.
Der Nachweis, dass Hudson-Odoi diese Fähigkeit konstant auf höchstem Niveau besitzt steht aus. Eine Offensive tragen musste er noch nie. Das Potenzial, mehr zu sein als einer von vielen jungen dribbelstarken Flügelspielern, hat er – wie beschrieben – definitiv. Der Rest ist wie immer bei so jungen Top-Talenten ein Stück weit Wette auf die Zukunft. Und nebenbei auch ein Arbeitsauftrag an das Coachingteam, das aus einem Juwel mit vielen spannenden Ansätzen einen Weltklasse-Mann formen muss.
Insgesamt ganz schön viele Variablen. Für wahrscheinlich sehr viel Geld. Sollte der Transfer gelingen, wird vor allem der Druck auf Hasan Salihamidzic größer. Er hat sich öffentlich festgelegt. Es wäre der erste größere Transfer, der ausschließlich mit seinem Namen verbunden wird. „CHO“ oder nix? Mal sehen.