WM-Blog: Was bedeutet die WM für Niko Kovac?
Fußball wird in vielen deutschen Medien allenfalls oberflächlich diskutiert. Kaum etwas zeigte das so sehr wie der einseitige Abgesang rund um den Ballbesitzfußball, der dort durch pauschal geführte Debatten jahrelang vorbereitet wurde. Viel zu oft fehlen solchen Themen neben der Tiefe die nötige Ruhe und Sachlichkeit.
Es geht darum, Fußball so einfach wie möglich darzustellen, weil der Anspruch an Leser und Zuschauer zu gering ist. Problematisch daran ist nicht, dass man komplexe Gegenstände vereinfachen möchte, sondern dass diese dadurch nicht selten verfälscht werden.
Die Narrative und Vorurteile werden dann von den Fans übernommen. Dass Berichterstattung und Analyse auch unaufgeregt, tiefgreifend und trotzdem verständlich gehen, zeigen nicht zuletzt Martin Schneider von der Süddeutschen Zeitung oder Raphael Honigstein.
Woanders heißt es wiederum „Tiqui Taca“ oder Ballbesitz wären tot, wären beim Turnier vorgeführt worden. In Deutschland ist sich eine große Ansammlung von Experten und Ex-Fußballern einig, dass der deutschen Nationalmannschaft die Tugenden abgingen und Löw auf eine falsche Strategie setzte. Bedeutet das für Kovac und die Bayern, dass es einen großen strategischen Umbruch braucht?
Klischees, Schubladen und falsche Erklärungen
Statt darüber zu diskutieren, wie das Spiel mit dem Ball wieder besser werden könnte oder woran es lag, dass Tempo nach vorne fehlte, wird in Deutschland lieber über interne Grabenkämpfe, fehlende Einstellung oder fehlende Führungsspieler gesprochen.
Für die Deutschen kann der Fußball nicht einfach genug sein. Das ist er aber längst nicht mehr. Viel zu viele Komponenten entscheiden über Erfolg und Misserfolg. Laufbereitschaft, Kampf und die vermeintlichen Tugenden zählen dort rein. Aber eben auch Laufwege, Passschärfe, Technik, Positionsspiel, die komplette strategische Ausrichtung und vieles mehr.
Bei der Weltmeisterschaft fühlten sich viele Leute bestätigt, die dem Ballbesitzfußball eh nichts abgewinnen können. Doch was ist mit Ballbesitzfußball überhaupt gemeint?
„Tiqui Taca“, Ballbesitzfußball, „Falsche 9“ – wir werfen hier mit Begriffen um uns, die wir nicht mal richtig erklären können, weil sie von einigen großen Medien nur für ihre eigenen Absichten missbraucht werden.
Guardiola wird häufig mit dem Argument in eine Schublade gesteckt, dass Ballbesitz für ihn das wichtigste Element sei. Wenn man es ganz extrem ins Gegenteil lenken will, ist er aber sogar ein Trainer, der großen Wert auf Konter legt. Wie gewannen die Bayern denn beispielsweise 2016 im Achtelfinale gegen Juventus Turin? Durch Ballgewinne im Gegenpressing und darauf folgendes Umschaltspiel.
Ballbesitz entsteht zwangsläufig, wenn eine Mannschaft gut steht, gut (und hoch) verteidigt und was mit dem Ball anzufangen weiß. Doch er ist kein Selbstzweck. Guardiolas Mannschaften suchen seit jeher Lösungen, um nach vorn zu kommen.
Sie spielen sich nicht den Ball zu, um den Ball zu haben, sondern um Lücken und Räume zu finden. Dafür nutzen er und einige Trainerkollegen das Positionsspiel, das sie an die eigenen Spieler, die Situation und den Gegner anpassen.
Positionsspiel ist aber eben nicht mit 100% Ballbesitz gleichzusetzen. Es soll dabei helfen, in allen Phasen eines Spiels schnelle Lösungen zu finden. Egal ob mit dem Ball oder ohne.
Vielen Mannschaften gelang es bei der WM überhaupt nicht, aus längeren Ballbesitzphasen Chancen herauszuspielen.
Wird dieser Zustand in der deutschen Öffentlichkeit angesprochen, dann sehr oft oberflächlich. Dabei werden aber nicht nur Narrative vermittelt, sondern auch falsche Erklärungen geliefert.
Ein weiteres Beispiel dafür ist die sogenannte „Falsche 9“. Hierzulande gehen immer noch viele davon aus, dass es sich dabei um einen kleinen Mittelfeldspieler handeln würde, der auf der 9 spielt.
Tatsächlich geht es aber viel mehr um die Bewegungsabläufe des Spielers. Auch Lukaku war für Belgien manchmal eine „Falsche 9“, wenn er seine Position unbesetzt ließ, um anderen Spielern Räume zu verschaffen. Der Körper spielt keine Rolle. Er passt bei einigen Argumentationen aber ins Narrativ des deutschen Fußballs.
Beim „Ballbesitzfußball“ wird diese brutale Vereinfachung des Sports noch deutlicher. Schon Louis van Gaal prägte damals ein Vier-Phasen-Modell, das eindeutig erklärt, dass es eben nicht nur das eine oder das andere Extrem gibt.
Ausgerechnet van Gaal, der von vielen als Ballbesitz-Fetischist abgestempelt wird, hatte seinen Fokus stets auf den beiden Umschaltmomenten.
Die vier Phasen sind ein Kreislauf aus Ballbesitz, Umschalten nach Ballverlusten, Arbeit gegen den Ball und Umschalten nach Ballgewinnen.
Frankreich, Belgien, Kroatien und England waren bei dieser Weltmeisterschaft so erfolgreich, weil sie gemessen an diesem Modell am effektivsten waren. Natürlich setzen sie aber unterschiedliche Schwerpunkte.
Frankreich stand deutlich tiefer und fokussierte die organisierte Arbeit gegen den Ball. Doch sie konnten eben auch aus längeren Ballbesitzphasen Chancen herausspielen und kontrollierten häufig beide Umschaltmomente.
Auch Belgien, deren Fokus eher auf höherer Verteidigung und gutem Ballbesitzspiel lag, war sehr erfolgreich. Sogar die Engländer konnten ihre fehlende individuelle Qualität kaschieren, indem sie ein ausgewogenes, aber gutes Verhältnis aus allen vier Phasen mit dem Fokus auf sichere Ballzirkulation und gute Organisation in den Umschaltmomenten hatten. Sie alle standen also keinesfalls nur für ein Extrem wie „Konterfußball“ oder „Ballbesitzfußball“.
Das darf man von Niko Kovac erwarten
Zum Schubladendenken kommt die Absurdität hinzu, aus einer Weltmeisterschaft jetzt die taktischen Trends der Zukunft ablesen zu wollen, nur weil der Stellenwert so enorm ist. Kurze Vorbereitungszeiten der Nationalmannschaften, Begrenzungen für die Trainer in der Spielerauswahl und die Faktoren Glück und Pech sorgen dafür, dass jedes Team sich ohnehin arrangieren musste. Strategisch ist eine Weltmeisterschaft immer auch durch taktische Kompromisse geprägt, die es im Klubfußball viel seltener gibt.
Für den FC Bayern und Niko Kovac hat die WM deshalb nur einen bedingten Stellenwert. Wichtiger ist die Erkenntis, alle Schubladen aufzureißen und nicht in Extremen zu denken. Kovac wird sich aus strategischer Sicht daran messen lassen müssen, wie gut sein Team in den vier Phasen des Spiels ist und nicht daran, ob er nun ein Ballbesitz- oder Konter-Trainer ist.
Flexibilität ist gefragt. In der Bundesliga wird es wieder viel zu viele Gegner geben, die kein Interesse daran haben, den Ball am eigenen Fuß zu führen, weil sie davon überzeugt sind, dass Ballbesitz keinen Sinn ergibt.
Umso wichtiger ist es, dass die Bayern wieder schneller, vertikaler und flexibler spielen. Sie wissen es nämlich besser. Mit dem Ball lässt sich das Spiel kontrollieren und nur mit dem Spielgerät am Fuß lassen sich Tore erzielen. Auch Guardiolas ewiges Zitat, dass eine Mannschaft in Ballbesitz kein Gegentor kassieren könne, hat weiterhin Bestand.
Damit dieser aber eben nicht zum Selbstzweck verkommt, wird das Trainerteam den Spielern Lösungen an die Hand geben müssen, die dafür sorgen, dass die trostlosen Defensivriegel der Liga mit Tempo geknackt werden. Die Grundlage dafür ist das Positionsspiel.
Gegen stärkere Mannschaften und ganz besonders in der Champions League wird es dann besonders interessant. Stehen die Bayern dann auch mal tiefer und lassen ihren Gegner kommen? Unter Ancelotti gab es solche Ansätze, die allerdings nicht gut umgesetzt wurden.
Ohne Ball war der Kader nicht in der Lage, das Spiel zu kontrollieren. Zu undiszipliniert waren einzelne Spieler, zu ungeduldig war das Team insgesamt, zu schlecht war auch das Positionsspiel. Dadurch gingen auch die beiden Umschaltphasen oft verloren. Hatten die Münchner das Spielgerät nicht, schwammen sie – so zumindest in den letzten Jahren.
Es liegt an Kovac, das zu verändern. Er muss die Organisation gegen den Ball verbessern und das Team so stabilisieren, dass auch mal Phasen möglich sind, in denen die Bayern dem Gegner den Ball überlassen können.
Gleichzeitig müssen er und sein Team das Spiel mit dem Ball verfeinern. Für beide Punkte ist es am wichtigsten, die Basis zu pflegen und die ist das Positionsspiel. Nur dann können die Bayern bei Ballgewinnen die unsortierten Reihen des Gegners bespielen und bei Ballverlusten gut genug stehen, um direkt wieder zu einem Ballgewinn zu kommen.
Für einen möglichen Triumph in der Champions League braucht der FC Bayern also von allem etwas. Lediglich der Fokus könnte von Spiel zu Spiel variieren. Wenn man sich die ersten Aussagen des Trainers genau anhört, könnte es sein, dass dieser vornehmlich auf den beiden Umschaltmomenten liegen wird. Seine Anspielung auf Louis van Gaal wäre dann noch ein bisschen weniger überraschend.