Anrufe auf Sylt
Karl-Heinz Rummenigge konnte seinen Sommer-Urlaub auf Sylt nicht wirklich genießen. Täglich klingelte das Telefon, immer wieder meldete sich dieselbe Stimme: Jupp Heynckes rief seinen Vorgesetzten an, mit Ideen für das kommende Jahr, mit Verbesserungsvorschlägen, mit Details, die den Unterschied machen könnten und sollten. Das war im Sommer 2012, einen Monat nachdem der FC Bayern eine der größten Niederlagen seiner Vereinsgeschichte hatte durchleiden müssen.
Der „Spirit of 2012“ ist sagenumwoben. Die Verpflichtungen von Matthias Sammer, Mario Mandzukic und Javi Martínez, die Veränderungen am Kader auch durch Abgänge und hunderte weitere Details, von denen Außenstehende überhaupt keine Ahnung haben. All das trug dazu bei, dass sich die Münchner innerhalb eines Jahres so sprunghaft verbesserten, wie es kaum jemand für möglich gehalten hätten und sich am Ende mit dem Triple belohnten.
Es ist ja nicht alles schlecht
Es gibt einige Parallelen zwischen der Saison 2011/12 und der gerade vorbeigegangenen von 2017/18. Die vielleicht wichtigste: Es ist bei weitem nicht alles schlecht. 2018 war der FC Bayern, wie 2012, nur wenige Schritte vom Triple entfernt. Es waren enge Spiele, mit teilweise vollkommen kuriosen und aus Bayern-Sicht enttäuschenden Ausgängen. In beiden Jahren war der Konjunktiv ein gern gesehener Gast – hätte doch Arjen Robben damals und hätte doch etwa James dieses Mal zum richtigen Zeitpunkt getroffen.
Mit anderen Worten: Es hat nicht viel gefehlt zum ganz großen Wurf. Doch darf das auf keinen Fall das Saisonfazit sein. Das muss vielmehr lauten: Es hat etwas gefehlt zum ganz großen Wurf. Da sind einige Stellschrauben, an denen man beim FC Bayern dringend drehen muss, um die entscheidenden letzten Prozente wieder zu bekommen.
Ein Blick in das Mannschaftsgefüge lässt zwei Schlüsse zu. Erstens: Man vertraut weiter auf die Kräfte, die in den letzten Jahren da waren. Das Gerüst der Elf von 2017/18 (Neuer, Hummels, Kimmich, Martínez, James, Müller, Lewandowski mit Fragezeichen) wird sich im nächsten Jahr nicht verändern. Im Tor eine gute Entscheidung, in der Abwehr auch. Im offensiven Mittelfeld nicht. Die Besetzung Robben, Ribéry, Coman und Gnabry ist solide – aber „solide“ Besetzungen hat der FC Bayern nun seit einigen Jahren und ganz offensichtlich reicht das nicht aus.
Was fehlt denn dann?
Der zweite Punkt, der beim Blick auf diese Mannschaft auffällt und der an dieser Stelle allein den Eindruck des Autors wiedergibt: Es fehlt die Aufopferungsgabe. Unter Jupp Heynckes ist aus einem Haufen an Einzelspielern immer wieder eine Fußballmannschaft geworden, die aber auch immer wieder in ihre Einzelteile zerfallen ist. Der Zusammenhalt dieser Elf ist nicht mit dem des Teams von 2013 oder auch – als Beispiel von außen – mit dem Teamgeist der deutschen Weltmeister von 2014 zu vergleichen.
Viel zu dominant stechen immer wieder Einzelspieler wie Robert Lewandowski heraus, die über den Saisonverlauf für mehr Unruhe als Fokussierung sorgen. Daneben wird man den Eindruck nicht los, dass neben Neuer, Hummels, Müller oder Kimmich zu viele Spieler mitlaufen. Auch wenn Alaba, Boateng, Thiago oder mit Abstrichen Javi Martínez in der besten Zeit ihrer Karriere seit einigen Jahren in München Fußball spielen, haben sie alle den Schritt verpasst, diesem Team ein echtes Gesicht zu geben. Hart ausgedrückt: Man bemerkt es erst auf den zweiten Blick, aber nach Lahm und Schweinsteiger ist ein Führungsvakuum entstanden, in das bislang nur die eben genannten deutschen Nationalspieler hineinwachsen konnten. Sicherlich spielt hier auch die Abwesenheit von Kapitän Manuel Neuer mit rein, auch ein oft vergessener Aspekt bei der Suche nach Gründen für das Scheitern kurz vor dem Ziel. Dennoch steht fest: Die derzeitige Mannschaftsstruktur ist nicht optimal – hier fehlen die so entscheidenden paar Prozent.
Der Elefant an der Säbener Straße
Die Lehre aus der Kaderanalyse nach der Saison 2017/18 muss eigentlich eine ähnliche wie nach 2011/12 sein: Es braucht Verstärkungen – vielleicht braucht es sogar ein paar Abgänge – und eine starke Ansprache in Richtung der oben kritisierten Kandidaten. Und hier liegt das große Problem. Es ist vollkommen unklar, von wem diese kritische Kaderanalyse kommen soll.
Uli Hoeneß ist der Elefant an der Säbener Straße, über den keiner sprechen möchte, den keiner öffentlich kritisiert, mit dem aber in Wahrheit sämtliche Entscheidungen verbunden sind. Auch Karl-Heinz Rummenigge deutet nur hier und da an, dass er offener wäre. Offener für Einfluss von außen und für eine Orientierung an internationalen Standards und nicht am Mia-San-Mia-Leitfaden. Beide leben am Ende gemeinsam in einer Blase, in der alles perfekt läuft und in der es falsche Entscheidungen nicht gibt – genauso wenig wie ehrliche Selbstkritik, die auch öffentlich geäußert wird, wie etwa 2012.
Hasan Salihamidzic macht, so hört man, vieles richtig im Mikro-Management. Das mag der Fall sein, wenn es um Zigaretten in den Händen von Co-Trainern geht, aber spätestens im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (Wochenendausgabe) erbrachte er die klaren Hinweise, dass er nach der Hoeneß-Flöte tanzt, dass er keiner ist, der outside-the-box denkt und dass seine Öffentlichkeitsdarstellung gelinde gesagt ausbaufähig ist.
Lang und breit spricht der Sportdirektor über die Bayern-DNA, die vielleicht gefehlt haben könnte im Spiel gegen Real Madrid und darüber, dass man nach einem Trainer gesucht habe, der nicht schon wieder, wie Guardiola, ein eigenes großes Team mitbringt. Das alles klingt nach den Aussagen eines Verwalters, der die Unternehmens-Leitlinie (falls immer noch nicht klar: MIA SAN MIA!) andauernd wiederholt, fest daran glaubt und hofft, dass kritische Nachfragen mit dem Verweis auf „knappe Niederlagen“ abgewiesen werden können. Um einen personellen Vergleich zu bringen: Das alles klingt eher nach Christian Nerlinger (Bayern-Vergangenheit, 2012 entlassen) als nach Matthias Sammer (keine Bayern-Vergangenheit, 2012-2016 11 Titel gewonnen).
Hoffnung auf Kovac
Dass die notwendigen Impulse aus der Chefetage kommen ist nicht zu erwarten. Somit liegen die Hoffnungen paradoxerweise auf dem Mann, der in der öffentlichen Wahrnehmung als Ausgeburt des Mia-san-Mia-Bayern-Gens und als guter Freund von Brazzo zum FC Bayern kommt. Niko Kovac hat seinen zukünftigen Verein gerade mit klugem Fußball im Pokalfinale geschlagen und darf ab dem 1. Juli beweisen, dass er der großen Aufgabe in München gewachsen ist.
Alle Welt spekuliert bereits auf sein Scheitern, doch vielleicht ist gerade das der Weg zum Erfolg. Was Kovac mit den Personen, die den FC Bayern 2012 so passioniert an einigen Stellen umgekrempelt haben, vereint, ist das „Denen-zeig-ich’s“-Gefühl. Die Heynckes-Kritiker waren laut nach der Niederlage gegen Chelsea und sie sind auch jetzt wieder laut, wenn sie über ähnliche Punkte wie damals sprechen. Der stille Kovac, der doch eh keinen Ballbesitzfußball spielen kann und die Stars nicht unter Kontrolle hat, wird das Rad sicher nicht neu erfinden können und nie die großen Titel gewinnen. Vielleicht schafft er das tatsächlich nicht und das Szenario eines früh gescheiterten Trainers tritt ein – und vielleicht würden so immerhin die Chefs aufwachen.
Vielleicht aber wählt Niko Kovac im Juni des Öfteren die Telefonnummer seines Vorgesetzten und nervt ihn in seinem Urlaub auf Sylt mit Details für die neue Saison. Und vielleicht ist das der Weg, auf dem eine Kombination aus Mia-San-Mia und frischem Geist tatsächlich dazu führt, die letzten, entscheidenden Prozente aufzuholen, die in dieser nun vergangenen Saison gefehlt haben.