Alabas großer Moment
Die Gemüter in Bordeaux waren gespalten. In dem kleinen Restaurant, in dem sich an einem Tisch mehrere österreichische Fans zusammengefunden hatten, um den Auftritt der Portugiesen gegen den Underdog aus Island zu betrachten, war eine Diskussion entstanden über die kleine fußballerische Katastrophe, die sie am Nachmittag hatten miterleben müssen. Das 0:2 gegen Ungarn war ein denkbar schlechter Start in das erste EM-Turnier, für das sich Österreich sportlich qualifiziert hatte. Anstatt die freudig erregte rot-weiß-rote Fan-Seele weiter zu erwärmen hatte das Team von Marcel Koller eine kleine Eiszeit geschaffen, der positiv Erwartung war Resignation gewichen.
Schwach aus Bayern-Perspektive
Nun saßen sie also zusammen in ihren roten Trikots mit dem stolzen schwarzen Adler auf der Brust und diskutierten über ihre Mannschaft. Arnautovic? Wie erwartet, nach vorne immer gut, aber in der Rückwärtsbewegung nicht vorhanden. Harnik? Pff, wie bei den Stuttgartern halt. Dragovic? So kommt er nie aus Kiew weg. Egal ob Tirol, Wien oder Oberösterreich, die Meinungen zum Großteil des Kaders glichen sich. Nicht aber bei David Alaba, der hatte aus österreichischer Sicht ein ordentliches Spiel gemacht, immerhin gekämpft und den Pfosten getroffen. Die Münchner Delegation am Tischende schüttelte da nur den Kopf.
Nein, der David Alaba, der gegen Ungarn auf dem Feld stand, war aus Bayern-Perspektive kaum ernst zu nehmen gewesen. Hektisch in seinen Aktionen, unsicher, teilweise mit haarsträubenden Fehlpässen. Das war doch nicht der Alaba, der in München regelmäßig zwischen Thiago und Boateng herausragt. Und auch im zweiten Gruppenspiel änderte sich nichts: Die Österreicher rangen Cristiano Ronaldo ein Unentschieden ab, kämpften tapfer, Alaba aber sah einen wesentlichen Teil des Spiels nur von der Ersatzbank aus. Enttäuscht ob der eigenen Leistung war er von Trainer Koller Mitte der zweiten Hälfte ausgewechselt worden. Die Zehnerposition, auf der er den verletzten Zlatko Junuzovic vertrat, lag ihm nicht. Das Spiel war auf einmal nicht mehr vor Alaba, sondern er war mittendrin und leistete sich Ballverluste, die zu Kontern einluden.
Eine Rolle im modernen Fußball
Wenn der „Standard“, Österreichs renommierteste Tageszeitung, über David Alabas Leistung schreibt, dass der Trainer „sein Leiden“ nach 65 Minuten endlich beendete, dann schrillen die Alarmglocken. In der Alpenrepublik werden und wurden medial viele Fußballer attackiert, Marko Arnautovic oder Marc Janko können davon ein Lied singen. David Alaba aber kann eigentlich machen, was er will – er ist und bleibt ein Nationalheld. Wer es schafft, als Fußballer in einem Wintersportland, in dem derzeit auch noch ein gewisser Marcel Hirscher die Skiwelt in Grund und Boden fährt, zweimal Sportler des Jahres zu werden, der muss etwas Besonderes an sich haben. Und in der Tat, mit David Alaba haben die österreichischen Fans das Gefühl, in einer modernen Fußballwelt, in der Einzelspieler immer mehr ikonisiert werden, auch eine Rolle zu spielen. „Unser David“ spielt beim FC Bayern heißt es dann, und dort auch noch unheimlich gut. Der braucht sich nicht zu verstecken vor dem Rest der Welt. Nein, dem Rest der Welt nimmt er mit seinem brillianten Stellungsspiel den Ball ab und leitet dann einen Konter ein.
Und so hatte man in Österreich durchaus das Gefühl, dass da was gehen könnte in Frankreich. Das Team aus Legionären hat unbestritten ein gewisses Niveau und angeführt vom Bayern-Star Alaba wird man es ja wohl mindestens bis ins Achtelfinale schaffen, oder? Fehlende Turniererfahrung? Ach was, der David spielt doch jedes Jahr im Champions-League-Halbfinale, den nimmt doch so eine EM nicht mit. Die meisten Anhänger machten also große Augen, als sich im Eröffnungsspiel gegen Ungarn auf einmal abzeichnete, dass der etwas größenwahnsinnige Höhenflug verfrüht enden könnte. Und der Anführer enttäuschte, anscheinend doch recht beeindruckt von der EM-Bühne.
Konjunktiv – zum Glück
Die EM, die als Ankunftsveranstaltung für die Österreicher unter den Top-Teams Europas gedacht war, könnte mit einem Vorrundenaus, im schlimmsten Fall mit nur einem Punkt, enden und zur großen Enttäuschung werden. Und David Alaba, der aller Welt zeigen wollte, dass er das Mittelfeld seiner Nationalmannschaft anführen kann, wäre die tragische Figur, die sich zum ersten Mal in der noch jungen Karriere großformatiger Kritik aussetzten müsste. Er wäre dann das Gesicht einer Niederlage und gleichzeitig würde er den Druck zu spüren bekommen, als Architekt einer neuen österreichischen Auswahl für die WM 2018 tätig werden zu müssen. Seine Aufgabe wäre dann, womöglich als Kapitän und Nachfolger von Christian Fuchs, dafür zu sorgen, dass in Österreich nicht alles hinterfragt wird. Dass im ÖFB weiterhin auf die gute Jugendarbeit und in der Öffentlichkeit weiterhin auf die Fußball-Euphorie vertraut wird.
Das alles klingt nach einem ziemlichen Berg, der da vor dem 23-Jährigen steht. Allerdings ist das große Glück des David Alabas, dass der Absatz oberhalb im Konjunktiv geschrieben wurde. Denn wenn der 23-Jährige seine Formschwäche im Spiel gegen Island in den Griff bekommen sollte, kann er einen weiteren großen Schritt in seiner ohnehin bereits glänzenden Karriere machen: Die Nationalmannschaft hätte dann die Erwartungen und er seine Anführer-Rolle erfüllt. Das Publikum, von dem David Alaba so frenetisch gefeiert wird, würde seine enttäuschenden Auftritte gegen Ungarn und Portugal schneller vergessen, als es „Kaiserschmarrn“ sagen könnte. Und der Stammtisch, der „den David“ in Bordeaux noch so brav verteidigt hatte, würde sich dann bestätigt fühlen und schon begeistert die Reise nach Moskau in zwei Jahren planen.
David Alaba und seine Nationalmannschaft haben richtungsweisende 90 Minuten vor sich.