Noussair Mazraoui ballt die Fäuste und schaut in den Himmel.

Scouting-Report: Noussair Mazraoui wechselt zum FC Bayern – Gamechanger für Nagelsmann?

Justin Trenner 24.05.2022

„Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, es zu sagen. Wir sind Meister geworden. Und ich gehe – absolut – zu einem Traumklub“, sagte Noussair Mazraoui bereits nach dem 5:0-Sieg über den SC Heerenveen zu ESPN: „Ich bin ein sensibler Junge. Ich habe 17 Jahre für diesen Verein gespielt. Jeder weiß, dass dies mein letztes Heimspiel ist. Es fühlte sich den ganzen Tag wie ein Abschied an.“

Auch Hasan Salihamidzic bestätigte den Transfer kurz danach. „Er ist ein Spieler, der wirklich sehr gute Leistungen in den letzten Jahren gebracht hat. Einer, der Erfrischendes mitbringt, der viel Druck nach vorne macht“, sagte der Sportvorstand damals dem Münchner Merkur: „Wir wissen, wie schwer der Rechtsverteidiger-Markt ist. Er ist der Typ Spieler, der von ganz Europa gesucht wurde.“

Dennoch dauerte es noch fast zwei Wochen bis zur Bekanntgabe. Nun aber ist alles in trockenen Tüchern. „Ich habe mich für diesen Klub entschieden, weil ich hier die größten Titel gewinnen kann“, wird Mazraoui von den Klubmedien zitiert. Der Spieler sei „der nächste Baustein, um unsere Mannschaft weiter gezielt zu verstärken“, freut sich Oliver Kahn.

https://twitter.com/FCBayern/status/1529049075097554945

Wer Mazraoui in der Champions League ein- oder zweimal hat spielen sehen und nun einige der unzähligen Portraits gelesen hat, in dessen Reihe sich dieser Artikel begeben wird, dürfte bereits eine klare Vorstellung davon haben, welche Art Außenverteidiger der in den Niederlanden geborene Marokkaner ist.

Noussair Mazraoui: Als „Schienenspieler“ würde er entgleisen

Allerdings ist Vorsicht geboten. Die oberflächliche Beschreibung, dass er ein sehr offensivstarker, schneller, technisch begabter und druckvoller Spieler ist, trifft zwar zu. Gerade bei Außenverteidigern wird in Bezug auf Dreierkettensysteme aber gern von Schienenspielern gesprochen. Ein problematischer Begriff. Oft verfestigt sich dadurch ein Bild des hoch und runter laufenden Außenverteidigers.

Vor allem mit Blick auf die Stärken von Mazraoui. „Die Außenverteidiger der heutigen Schule laufen eben nicht mehr nur wie ein Zug auf einer festen Schiene“, schrieb Taktikexperte Tobias Escher in seinem EM-Tagebuch 2021: „Die Rolle der Außenverteidiger ist vielfältiger geworden. Manche sind Fokusspieler im letzten Drittel (…). Andere agieren als inverse Flügelstürmer und ziehen vor dem Strafraum in die Mitte (…). Wiederum andere starten diagonal in den Sechzehner als Flankenabnehmer.“

Wäre Mazraoui ein „Schienenspieler“, würde er ständig entgleisen. Allerdings in der positivsten aller Deutungen. In der Ajax-Schule hat er unterschiedliche Teilphilosophien des Positionsspiels erlernt. Jüngst unter Erik ten Hag auch Elemente des (Aufbau-)Spiels, das Julian Nagelsmann beim FC Bayern München zumindest teilweise etablieren wollte.

FC Bayern München: Endlich ein Außenverteidiger für den 2-3-Aufbau?

Ajax baut gern mal mit einer 2-3-Staffelung auf. Insbesondere gegen tiefer verteidigende Teams bietet diese Struktur im Mittelfeldzentrum einige Vorteile. Mazraoui agiert häufig als breiter und hoch positionierter Außenverteidiger. Allerdings mit hoher Bewegungsrate, weshalb er auch mal im Zentrum oder im Halbraum auftaucht.

Salihamidzic lobte sein hervorragendes „Give-and-Go-Spiel“, also die Fähigkeit, einen Pass zu spielen und sich sofort in der Tiefe freizulaufen. Der 24-Jährige beherrscht viele Rollen. Ein großer Vorteil ist, dass er in der Jugend und auch in seiner frühen Karriere häufiger mal im Mittelfeldzentrum eingesetzt wurde. Fast 60 Spiele sind bei transfermarkt.de registriert, in denen er als Sechser oder Achter agierte.

Unter ten Hag spielte er deshalb schon Hybridrollen oder als einrückender Rechtsverteidiger. Nagelsmann hat in seinem ersten Jahr beim FC Bayern ebenfalls mehrere Grundordnungen ausprobiert. Grob lassen sich diese in zwei Kategorien unterscheiden: 2-3-Aufbaustaffelung und Dreierkettenaufbau mit einem oder zwei Sechsern. Auf Instagram zeigte der Bayern-Trainer stolz seine neue Videoleinwand auf dem Trainingsgelände. Abgebildet: Ausschnitte aus dem Heimspiel gegen Hertha BSC.

Quelle: Instagram

Zu sehen ist der 2-3-Aufbau, der unten auch nochmal mit Stichworten beschrieben ist: „Innen binden, seitlicher 6er aktiv hinter den Ball, rote Zone öffnen“. Mit der roten Zone ist der für den Gegner gefährliche Bereich im Zentrum gemeint. Man könnte es als etwas größer interpretierten Zehnerraum beschreiben. Durch die vielen Spieler gibt es dort viele Optionen und notfalls eine gute Gelegenheit für das Gegenpressing. Ein Problem war aber, dass Nagelsmann mindestens ein Außenverteidiger fehlte, der sich im Zentrum wohl fühlt.

Theoretisch lassen sich die drei Positionen vor der Zweierkette auch mit Spielern aus dem Mittelfeld besetzen, nur fehlt dann eben im Zweifelsfall ein offensivstärkerer Akteur im letzten Drittel.

Noussair Mazraoui: Gamechanger für Julian Nagelsmann und den FC Bayern München?

Mazraoui könnte für den Trainer aus mehreren Gründen zum Gamechanger werden. Der wichtigste ist, dass er in beiden Strukturen nahezu alle geforderten Rollen als Rechtsverteidiger spielen kann. Als hoher Breitengeber bringt er genug Tempo, Mut und Offensivdrang mit. Er kann dribbeln (2,8 Versuche pro 90 Minuten, 60,7 % Erfolgsquote) und so selbst gefährlich werden, er kann sich aber auch gut in ein schnelles Doppelpassspiel integrieren, was im Zusammenspiel mit Thomas Müller interessant werden dürfte.

Genauso kann er als offensiver Halbraumspieler eingesetzt werden, der von der rechten Bahn aus diagonal ins Zentrum rückt. Das macht ihn flexibler als Alphonso Davies auf der linken Seite, der immer davon abhängig ist, dass der Flügelspieler vor ihm ins Zentrum einrückt. Spielt Kingsley Coman beispielsweise auf der rechten Seite, kann Mazraoui dafür sorgen, dass der Franzose weiterhin breit agieren darf.

Der marokkanische Nationalspieler ist mit seiner Offensivstärke durchaus ein Gegenpol zu Benjamin Pavard – aber nicht nur. Er kann auch zurückhaltender eingesetzt werden, indem er beispielsweise als einrückender Außenverteidiger in einer Viererkette agiert. Neben Joshua Kimmich und Leon Goretzka könnte er im rechten Halbraum eine wichtige Ergänzung sein, um den 2-3-Aufbau zu stabilisieren, den Nagelsmann im Saisonverlauf wieder verworfen hatte.

Pavard und auch Josip Stanisic hatten in dieser Rolle zu große Probleme. Dass der Trainer diese Idee aber noch nicht zu den Akten gelegt hat, lässt das Bild bei Instagram erahnen. Mazraoui bringt mehr Ruhe unter Druck mit als die Alternativen im Bayern-Kader. Er kann sich mit seiner Beweglichkeit schneller befreien als andere. Gleichzeitig ist er in der Ballverarbeitung etwas sauberer und zuverlässiger als Davies, der manchmal selbst für den Ball zu schnell ist und dabei kuriose Ballverluste einstreut.

FC Bayern: Hohe Erwartungen an Mazraoui

Weniger optimal wäre eine Einbindung als breiter und tiefer Rechtsverteidiger. Auch diese Rolle kann Mazraoui grundsätzlich spielen, weil er über ein gutes Aufbauspiel und Zweikampfstärke verfügt. Allerdings kann er dort weniger Einfluss auf das Offensivspiel nehmen. Man würde ihm damit einige seiner Stärken nehmen. Denkbar wäre ein klar abgestimmtes Wechselspiel mit Davies: Steht einer der beiden hoch, muss der andere tiefer agieren.

Mazraoui ist sowohl von seinem Fähigkeitenprofil als auch von der Flexibilität her ein hervorragender Nagelsmann-Transfer. Die Umstellung von Ajax auf den FC Bayern dürfte dem Rechtsverteidiger rein fußballerisch nicht allzu schwer fallen – zumal er im Gegensatz zu einigen anderen Neuzugängen in der Vergangenheit viel Vorbereitungszeit mit dem Team haben wird.

Die Erwartungen an ihn sind riesig, das bestätigte auch Salihamidzic. Aber auf dem Papier könnte sich Mazraoui tatsächlich als fehlendes Puzzleteil erweisen. Dass Nagelsmann nach dem Davies-Ausfall die komplette Statik seiner Ausrichtung umbauen musste, war eines der vielen Probleme in dieser Saison. Mit Mazraoui hätte er den Schwerpunkt auf die rechte Seite verlagern können, ohne an anderen Stellen umbauen zu müssen.

Mazraoui und sein Wechsel zum FC Bayern: Der folgerichtige Schritt?

Abseits von taktischen Themen wird beim FC Bayern auch gern mal über schwer greifbare Aspekte wie Mentalität oder Wille gesprochen. Mazraoui hat in seiner Karriere schon oft bewiesen, dass er mit Rückschlägen umgehen kann.

„Ich hatte nie das Potenzial für die Ajax-Profis“, gestand er 2018 in der YouTube-Show Bij Andy in de auto mit Ex-Profi Andy van der Meyde. 2016 erhielt der baldige Bayern-Spieler nicht mal einen neuen Vertrag von den Niederländern. Dass er dennoch in Amsterdam blieb, hatte einen simplen Grund: Die zweite Mannschaft brauchte Spieler.

„Mazraoui war dort in der Saison 2016/17 der einzige Spieler, der keinen Vertrag und folglich auch kein Gehalt, keine Prämien und kein Auto bekam“, wird Chris Meijer vom Portal Voetbalzone bei Spox und Goal zitiert. Mit seinen starken Leistungen spielte er sich aber in den Fokus des Klubs und bekam einen neuen Vertrag. In Amsterdam verliert kaum jemand ein schlechtes Wort über ihn.

Ablösefrei zum FC Bayern und trotzdem Abschied mit Applaus

Dass er ablösefrei zum FC Bayern wechselt, wird im Umfeld von Ajax durchaus kritisch gesehen. Dennoch gab es am Mittwoch viel Applaus bei seiner Auswechslung. Das ist nicht selbstverständlich. Mazraoui gilt als bodenständig, diszipliniert und sympathisch. Gute Voraussetzungen für einen weiteren Karriereschritt nach oben.

Die Karriere des Marokkaners ist eine mit Auf und Abs, aber sie ist auch eine, die jetzt folgerichtig zu einem Top-Klub führt. In München wird Mazraoui zweifelsohne weitere Entwicklungsschritte gehen müssen, was Konstanz und Stabilität angeht.

Die Anlagen dafür bringt er aber mit. Der Abschied zum „Traumklub“ FC Bayern könnte somit zum Aufbruch für ihn persönlich werden – ein Stück weit aber auch für Nagelsmann.



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