FC Bayern – Miasanrot-Adventskalender, Nummer 6: Thiago

Daniel Trenner 06.12.2022

Beim Klang des Namens “Thiago” gibt es unter Bayern-Beobachtern eigentlich nur zwei unterschiedliche Reaktionen. Die einen nicken respektierend, sahen sie in Thiago doch jahrelang nur einen Schönspieler und schlossen erst ganz am Ende in Lissabon ihren Frieden mit ihm. Und dann gibt es da noch die anderen, denen sofort ein nostalgisches, leicht trauriges Lächeln über die Lippen huscht.

Probleme unter seinem Meister

Als Pep Guardiola Thiago 2013 nach München mitbrachte, galt dieser noch als offensiver Achter, dem man lieber in keinen Zweikampf schicken sollte. Logisch, ausgebildet in Barças berühmter Talenteschmiede La Masia, wurde ihm von Beginn an Passspiel eingetrichtert. Als neuer Xavi oder Iniesta sollte er zaubern. Ackern – das war eher was für Deutsche.

Thiago Alcântara
(Quelle: Lukas)

Wie anders doch alles kam. Unter seinem einst größten Förderer durchlebte er seine schwierigsten Jahre beim FC Bayern. Ständig musste er mit Verletzungen und anschließenden Formproblemen kämpfen. Zudem hatte der FC Bayern gerade zu Anfang von Thiagos Zeit eine Art Luxusproblem, das er seitdem leider nie wieder hatte: Ein schieres Überangebot an kreativen Mittelfeldspielern. Doch mit dem Abschied des Trainers und einer ganzen Reihe an Spielern, war Thiago irgendwann fast der einzige Kreativkopf im Mittelfeld. Ganz fließend wurde aus dem FC Bayern eine Thiago-Mannschaft. Er war der Chef der Mannschaft, ohne wirklich Führungsspieler zu sein. Jeder Angriff ging über ihn. 

Zu Zeiten Ancelottis noch als extrem klassische Nummer 10, wie sie im Fußball eigentlich seit über einem Jahrzehnt ausgestorben ist, zwang ihn später Bayerns fragwürdige Transferpolitik – Jahr für Jahr kamen neue Dynamiker statt Spielgestalter – immer mehr nach hinten.

Der Zauberkrieger

Zu dieser Zeit entstand in einem nicht gerade geringen Ausmaß eine Art “Wir gegen den Rest der Welt”-Mantra unter so manch Thiago-Connaisseur. Denn es gab nicht wenige, die einfach nicht wahrhaben wollten, dass dieser kleine Wundertechniker mittlerweile zu einem waschechten Kampfzwerg mutiert ist. Wenn irgendetwas nicht lief beim FC Bayern, war schnell der Ruf zu hören, im Mittelfeld fehle es an Zweikampfhärte. Dabei setzte einst selbst der größte Verehrer Javi Martínez’ -Jupp Heynckes- den kampfstarken Basken auf die Bank, wohlwissend, dass ein einsamer Thiago gegen Real Madrids Mittelfeldhoheit genüge.

Erst von seinem Meister auf sich alleine gestellt, blühte Thiago auf.
(Quelle: Goalimpact)

Oft – zu oft – mit Xavi und Iniesta verglichen, wurde Thiago zu etwas ganz anderem. Nicht minder technisch begabt – tatsächlich in diesem Bereich eher sogar höher! – aber gepaart mit Fähigkeiten gegen den Ball, die die Altmeister nie besaßen.

Doch natürlich lagen die offensichtlichsten Qualitäten immer noch im Spiel mit Ball am Fuß und Thiago vermochte ihn zu führen, wie kaum ein Spieler es je im scharlachroten Trikot Bayerns vor ihm tat. Möglicherweise ist der einzige Spieler in Bayerns Geschichte, der mit Thiagos Technik mithalten kann, der große Franz Beckenbauer.

Thiago ließ regelmäßig Gegenspieler alleine mit der Ballannahme ins Leere laufen. Ihm eigen ist sein Signature Move, bei dem er einen eigentlich scheinbar harmlosen Pass im Mittelfeld in einer Bewegung mitnimmt, an seinem verdutzten Gegner vorbeilegt, sich um gut 150° dreht und mit Tempo auf das Tor marschiert. In beinahe jedem Spiel kommt es zu so einem Moment und nie verliert er dabei den Ball.

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Thiagos Last Dance

Thiago traf das Pech, dass seine eigene Blütezeit auf nicht wenige Trainerfehlbesetzungen auf der Bayern-Bank traf. Bei Ancelotti und besonders Kovač hielt er fast im Alleingang ein dysfunktionelles Spielsystem zusammen. Erst unter Hansi Flick konnten Spielerform und System eine Symbiose bilden.

Den Wechsel zum FC Liverpool bereits im Kopf, war das Champions-League-Finalturnier in Lissabon Thiagos ganz eigener Last Dance. Oft kurz vor Schluss gescheitert, wollte er diesmal den Henkelpott nach München bringen. Als Hirn auf der Sechs sog er alles auf, Angriffe der Gegner, wie Bälle der Mitspieler. Wurde ein Kollege gepresst, gab er den Ball einfach Thiago. Selbst wenn er gedoppelt wurde, konnte ihm niemand den Ball abluchsen. Thiago war die Ein-Mann-Antwort auf jede Pressingfalle. Ein unpressbarer Gott.

Seine Leistung im Finale – so legendär wie seine letzten Worte als Bayern-Spieler: “Fight with life, hermano!” rief der Magier Coco Tolisso zu, als er die Bühne im Bayern-Shirt ein letztes Mal verließ. Spätestens da begriff auch der Letzte, dass aus dem schlichten Zauberer, ein magischer Krieger geworden war. In seinem letzten Spiel konnte Thiago sich endlich, endlich vergolden. Die Schmach unvollendet zu bleiben, sie war abgewehrt. Am Ende waren doch alle vereint im Loblied auf Thiago. Und nicht wenige begriffen, wer da dem Verein “Servus” zurief: Der beste Mittelfeldspieler Bayerns dieses gar nicht mehr so jungen Jahrhunderts.