Vorschau: Marsch-Route Bayern-Jäger oder Rückentwicklung bei Leipzig?

Justin Trenner 10.09.2021

Will man den Status-quo des Wettbewerbs um die Deutsche Meisterschaft erklären, muss man aktuell nur nach Leipzig schauen. Trainerteam weg, einer der besten Innenverteidiger der Liga weg, Kapitän weg – alle sind nun für den FC Bayern tätig. Leipzig, im Vorjahr Vizemeister, muss sich neu aufstellen. Doch nicht etwa der FC Bayern allein ist hier der Bösewicht, der seine Konkurrenz schwächt. Ibrahima Konaté zog es beispielsweise nach Liverpool. Gehen die Stars des Klubs nicht nach München, zieht es sie wie Timo Werner im Vorjahr eben nach England oder in andere Regionen des europäischen Spitzenfußballs.

Leipzig und auch Dortmund, die diese Erfahrung bereits seit mehreren Jahren machen, sind gefangen in einem ewigen Kreislauf aus Umbrüchen und Übergangsjahren, schaffen es nur selten, ihren Kader ausreichend zusammenzuhalten, um sich in Ruhe zu einem Spitzenklub weiterzuentwickeln. Zwischen diesen Teams aus der zweiten Reihe in der europäischen Elite und jenen aus der ersten ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein riesiger Graben entstanden.

RaBa ist mit dem finanzstarken Brausekonzern im Rücken ein gutes Beispiel dafür, dass Geld nicht zwingend die Lösung aller Probleme ist. Es ist komplizierter. Aber es läuft immer wieder darauf hinaus, dass die deutschen Klubs hinter Bayern maximal als Ausbildungsvereine der Großen fungieren – und der Meisterschaftskampf selbst dann zuletzt nicht wirklich einer war, wenn es Startschwierigkeiten bei den Münchnern gab.

Leipzig im Umbruch

Leipzig konnte die eingestrichenen Ablösesummen und das bereits vorhandene Kapital gut nutzen: Mit Josko Gvardiol und Mohamed Simakan kamen zwei hochtalentierte Innenverteidiger, die Dayot Upamecano und Konaté mittelfristig beerben sollen. Darüber hinaus wurden Angeliño und Benjamin Henrichs fest verpflichtet und auch der Sabitzer-Transfer wurde im Mittelfeld durch ein weiteres Talent aufgefangen: Ilaix Moriba kam für stolze 16 Millionen Euro aus Barcelona und bringt ein großes Potential mit.

Am wichtigsten dürfte mit Blick auf die letzte Saison aber sein, dass André Silva von Eintracht Frankfurt verpflichtet wurde. Der Portugiese war mit 28 Treffern in der vergangenen Saison der Top-Torjäger hinter Robert Lewandowski. Einen derartigen Abschlussspieler vermisste Leipzig zuletzt sehr.

Qualitativ erscheint das alles Hand und Fuß zu haben, aber in Verbindung mit dem Verlust von Julian Nagelsmann wird es schlicht Zeit brauchen, bis diese Spieler sich wieder finden. Und dann ist die große Frage, ob die nun fehlende Erfahrung sich bemerkbar macht. Upamecano und Konaté sind zwar noch 22 Jahre jung, haben aber schon viel in ihrer Karriere erlebt und das defensive Zentrum sehr stabilisiert. Sabitzer war nicht umsonst Kapitän. Er war mit seinen konstant guten Leistungen ein Anker in der Mannschaft. Gerade junge Spieler tendieren hingegen dazu, dass sie Schwankungen in der Leistungskurve unterliegen.

Mehr Vertikalität und viel Gegenpressing

24,8 (2-mal) und 26,0 – so jung waren die elf Spieler im Durchschnitt, die Jesse Marsch in den drei Bundesliga-Partien eingesetzt hat. Neben Torwart Péter Gulácsi und Willi Orban sind Kevin Kampl und Emil Forsberg die älteren Spieler im Kader, die regelmäßig Einsätze sammeln werden. Womöglich etwas dünn – aber eben auch alternativlos.

Fußballerisch wird sich in Leipzig hingegen nicht allzu viel verändern. Das haben die ersten Partien gezeigt. Wenn es eine größere Veränderung gibt, dann ist es wohl das extrem vertikale und direkte Spiel unter Marsch. Der US-Coach fordert ein hohes Tempo ein. Während Nagelsmann doch sehr viel Wert auf Präzision legt und seinen Spielern dabei eher zwei als einen Kontakten empfiehlt, will Marsch seine Gegner überfallartig überraschen.

Nach zweimal 84 Prozent Passquote gegen Mainz und Stuttgart kamen die Leipziger in Wolfsburg nicht über eine Quote von 77 % hinaus. Marsch will die daraus häufiger entstehenden Ballverluste mit einem kompakten und aggressiven Gegenpressing auffangen. Schon in Ballbesitz stehen die Spieler vergleichsweise eng beieinander. Einkalkulierte Fehlpässe also. Das Spiel ist unter Marsch wilder geworden.

Rückschritt im Vergleich zur Nagelsmann-Zeit?

Das führt wiederum auch dazu, dass es ballfern Räume gibt, die der Gegner nutzen kann, wenn er sich aus dem Gegenpressing der Leipziger befreit. So gab es in allen drei Partien viele Momente, in denen die Arbeit gegen den Ball zu spät gegriffen hat und sich dem Gegner die Möglichkeit für lukrative Konter bot. Darüber hinaus ist die Rückwärtsbewegung der Offensivspieler noch ein Problem. Hinter der ersten Pressinglinie ergeben sich viele Räume, die laufstarke Spieler wie Thomas Müller, Leon Goretzka oder Serge Gnabry ausnutzen können.

Der Zwischenlinienraum ist insbesondere nach Ballverlusten zu lange zu offen. So entstand das entscheidende Gegentor in Wolfsburg aus einem solchen. Leipzig hatte gerade einen Angriff verteidigt, wollte aber sofort wieder in einen Konter gehen. Statt das Spiel zu beruhigen, schickte man Forsberg mit einem langen Ball in eine ungünstige Situation. Wolfsburg eroberte den Ball und konnte die unsortierten Leipziger mit wenigen Kontakten herspielen.

Beim einzigen Saisonsieg gegen Stuttgart hingegen zeigte die Mannschaft von Marsch, zu was sie in der Lage ist, wenn ihnen der Raum geboten wird. In einem häufig recht offen wirkenden Schlagabtausch setzte sich vor allem die technische Qualität durch. Die große Herausforderung für den Trainer wird es sein, die richtige Balance aus überfallartigem Gegenpressingfußball und kontrollierten Momenten zu finden. Denn wenn er der Mannschaft keinen Umgang mit ruhigen Phasen vermitteln kann, droht nach Nagelsmann ein Rückschritt in alte Zeiten.

Stärken

  • Tempo
  • Technische Qualität
  • Direktes Spiel nach vorn
  • Kombinationsfußball
  • Gegenpressing
  • Ausgewogenes Team ohne Starspieler, aber mit durchgängig hoher Qualität

Schwächen

  • Abstimmung untereinander nach kleinem Umbruch
  • Vertikale Abstände, wenn erste Pressinglinie überspielt wird
  • Rückwärtsbewegung der Angreifer
  • Zu viele Ballverluste – Mittelfeld lässt sich noch zu leicht aus dem Spiel nehmen
  • Verteidigung von ballfernen Räumen

Typische Spielweise

  • Viererkettensystem
  • Sehr vertikales Passspiel
  • Hohes Mittelfeldpressing mit Phasen des Angriffspressings
  • Viele Spieler in Ballnähe – bewusste Überladung dieser Räume
  • Besonderer Fokus auf Gegenpressingmomente
  • Viel Steil-Klatsch im Spiel nach vorn – meist aber Spieleröffnung durch die Außenverteidiger

FC Bayern: Wie puzzelt Nagelsmann seine Einzelteile zusammen?

Für die Bayern wird es darum gehen, weiter Fahrt aufzunehmen. Der Saisonstart war gut, ein Kern des Teams konnte sich in der Länderspielpause weiter einspielen. Hansi Flick hatte bei seinem Debüt als Nationaltrainer auf einen starken Bayern-Block gesetzt.

Daraus haben sich aber auch weitere Fragen für Nagelsmann ergeben. Schon vor der Pause hatte er beispielsweise Leroy Sané wieder auf der linken Außenbahn eingesetzt. Was er dort leisten kann, zeigte er sowohl für die Bayern als auch besonders jetzt für die Nationalmannschaft. Bei Flick konnte er in seiner Paraderolle als Breitengeber glänzen.

Nagelsmann hingegen muss sich der Herausforderung stellen, Alphonso Davies und Sané gewinnbringend einzusetzen, obwohl beide ihre Stärken eher als breit positionierte Außen haben. Mit Thilo Kehrer hatte Sané beim DFB einen Außenverteidiger hinter sich, der absichernd und tief agierte, während Davies eher jemand ist, der offensiv seine Räume selbst nutzen möchte. Deshalb spielte vor ihm auch häufig Serge Gnabry, der sich im Halbraum und auf zentraleren Positionen wohl fühlt.

Achtungserfolg für Leipzig oder Ansage der Bayern?

Dass Sané im Halbraum nicht so stark ist, hat er oft genug unter Beweis gestellt. Entweder findet Nagelsmann also eine zentralere Rolle für Davies, in der der Kanadier seine Qualität dennoch einbringen kann, oder er versucht, Sané wieder auf der rechten Seite einzusetzen, wenn das Selbstbewusstsein beim 25-Jährigen zurückgekehrt ist. Eine Lösung, in der sich Sané und Davies abwechseln könnte natürlich auch möglich sein. Genauso könnte Lucas Hernández in der Kehrer-Rolle agieren.

Dann ist aber auch die Frage, wer auf der rechten Außenbahn offensiv Breite gibt. Müller hat das hin und wieder übernommen, fehlt dann aber im Zentrum. Gnabry ist aktuell auch deshalb in Top-Form, weil er eben die Wege von außen nach innen gehen kann. Einen offensiv ausgerichteten Rechtsverteidiger gibt es nicht. Dass Nagelsmann häufiger auf Davies verzichtet, erscheint unwahrscheinlich.

Und so wird er noch ein wenig puzzeln müssen. Hat er die Einzelteile aber erstmal entsprechend zusammengesetzt, könnten die Bayern wieder allen enteilen. Am Samstag wollen sie in Leipzig schon mal einen Konkurrenten auf sieben Punkte distanzieren. Die wiederum wollen unter Marsch den ersten Achtungserfolg einfahren – und beweisen, dass der Umbruch doch kein so großes Problem für sie ist.