Vorschau: Nagelsmann hofft in Gladbach auf seine „Offensivmonster“

Justin Trenner 12.08.2021

„Alle wollen, dass wir nicht den zehnten Meistertitel in Serie holen“, sagte Julian Nagelsmann auf der Pressekonferenz vor dem Bundesligaauftakt in Gladbach. Die Erwartungshaltung beim FC Bayern ist indes riesig – auch und gerade an den neuen Trainer. Es gehe laut Oliver Kahn darum, die „gefräßigen“ Bayern „auf die nächste Stufe“ zu bringen.

Doch was ist die nächste Stufe eines Teams, das in den vergangenen zwei Jahren nahezu alles gewonnen hat? Wie soll Nagelsmann etwas weiterentwickeln, was seinen vermeintlichen Höhepunkt erst erreicht hat? Diese Frage bleibt von Klubseite weiter unbeantwortet. Schaut man sich die Summe aller Aussagen in den vergangenen Wochen jedoch genauer an, wird deutlich, worum es ihnen geht: Langfristigkeit und Nachhaltigkeit, eine solide sowie kontinuierliche Erfolgsbasis und vielleicht sogar ein bisschen Neuanfang.

Neuanfang insofern, als dass die Bayern in den letzten Jahren viele gestandene Spieler abgegeben haben. In deren Rollen sind Spieler wie Leon Goretzka, Joshua Kimmich oder Alphonso Davies hineingewachsen. Neue Gesichter wie Tanguy Nianzou, Jamal Musiala oder Dayot Upamecano sollen nun wiederum sukzessive in deren Positionen rücken. Dieser andauernde und stetig fortlaufende Prozess muss aufrecht erhalten werden, ohne an Konkurrenzfähigkeit zu verlieren – vor allem international. Und Nagelsmann ist der Sommertransfer, der für diese Entwicklung als prägende Figur eingeplant wurde. Nicht die sofortige Wiederholung des unglaublichen 7-Titel-Erfolgs von Hansi Flick ist die Messlatte, sondern die Frage danach, was der 34-Jährige beginnend ab dem ersten Spiel in Gladbach mittel- bis langfristig anstoßen kann.

Der Gegner

Die Diskrepanz zwischen sofortigem Erfolgsdruck und dem Verlangen nach einer nachhaltigen Entwicklung ist in Deutschland nirgends so groß wie in München. Verlieren die Bayern ihr erstes Spiel bei Borussia Mönchengladbach, ist der Druck sofort da. Kein Sieg in der Vorbereitung, erneut große Diskussionen über die Breite des Kaders und dann auch noch eine Auftaktniederlage?

Ein Szenario, das zumindest nicht unwahrscheinlich ist. Gladbach hatte ebenfalls eine schwierige Vorbereitung, weil einige Spieler verletzt ausgefallen sind, oder spät von der Europameisterschaft zurückkehrten. Breel Embolo und Neuzugang Manu Koné werden sicher ausfallen, während Marcus Thuram und Ramy Bensebaini fraglich sind. Adi Hütter konnte dennoch mehr experimentieren und seine Ideen intensiver vermitteln als sein Kollege in München, mit dem er im regelmäßigen Austausch steht. Außerdem konnte er seine Mannschaft bereits in einem Pflichtspiel beobachten: Mit 1:0 zog Gladbach beim Auswärtsspiel in Kaiserslautern in die nächste Runde des DFB-Pokals ein.

Für die Gladbacher ist es trotzdem eine eher ernüchternde Erkenntnis, dass sie zum Saisonstart nicht so weit sind, wie sie es gerne wären. Gegen Kaiserslautern verlor die Borussia zu häufig ohne Gegnerdruck den Ball und auch vorn fiel es ihnen schwer, regelmäßig gute Chancen herauszuspielen.

Stärken

  • Hohes Tempo – sowohl rein physisch, als auch in der Erschließung von einzelnen Situationen
  • Viel Erfahrung mit Spielern wie Sommer, Ginter oder Stindl
  • Gutes spielerisches Niveau – insbesondere im Mittelfeldzentrum
  • Viele eingespielte Abläufe
  • Gutes Freilaufverhalten
  • Mitunter schnelle Kombinationen

Schwächen

  • Bank zum Auftakt eher dürftig besetzt
  • Neue Ideen des Trainers können noch nicht greifen
  • Einige einfache Ballverluste im Spielaufbau
  • Fehlende Genauigkeit in Drucksituationen
  • Offensive findet noch zu selten den Weg in den Strafraum
  • Oft zu viel Risiko im Ballvortrag, wodurch die Passgenauigkeit leidet

Typische Spielweise

  • Mittelfeldpressing mit einzelnen Momenten des höheren Anlaufens
  • In der Vorbereitung oft Viererkette, wobei Hütter auch gern mit Dreier-/Fünferkette spielt (meist 3-4-2-1) – zuletzt aber 4-2-3-1
  • Kompaktes Zentrum mit und ohne Ball
  • Fokus auf eine saubere Besetzung der Halb- und Zwischenräume, um dort Gegenspieler aus ihren Positionen zu ziehen
  • Fokus auf die rechte Seite mit hohem Außenverteidiger (oft Lainer)
  • Aggressives Gegenpressing, wenn viele Spieler in Ballnähe
  • Lassen sich bei ausbleibender Balleroberung aber auch schnell wieder tiefer fallen
  • Stindl nimmt viel am Spiel teil und lässt sich häufig ins Mittelfeld fallen, um Raum für diagonal hinter die Abwehr startende Außenspieler zu öffnen

FC Bayern: Wie gelingt der Auftaktsieg?

Um in Gladbach direkt erfolgreich in die Saison und in die angepeilte Nagelsmann-Ära zu starten, wird es womöglich eine Menge Geduld und Ruhe benötigen. Hütters Mannschaften sind bekannt dafür, es dem Gegner mit viel Laufbereitschaft, einer hohen Grundaggressivität und guter Grundausrichtung im Defensivbereich schwer zu machen.

Die Bayern werden dafür Lösungen entwickeln müssen, die die eigene defensive Stabilität nicht gefährden. Nagelsmann hatte bereits mehrfach angekündigt, dass eine seiner wichtigsten Aufgaben darin bestehen wird, das Team hinten zu stabilisieren. In der Vorbereitung ließ er dafür einige taktische Mittel bereits erkennen.

Gerade die Außenverteidiger stehen dabei buchstäblich im Zentrum. Der 34-Jährige scheint kein Fan vom Flick’schen Harakiripressing mit sehr, sehr, sehr … wirklich sehr hohen Außenverteidigern zu sein. Stattdessen beschränkte er deren Anlaufarbeit im Angriffsdrittel zunächst auf ein Minimum. Die offensiven Flügelspieler und die Achter sind meist verantwortlich dafür, den gegnerischen Außenverteidiger zu isolieren. Und wenn doch mal ein Außenverteidiger sehr weit heraus schiebt, wird hinten konsequenter abgesichert – entweder durch den ballfernen Außenverteidiger oder sogar durch einen sich bereits in Position bringenden Mittelfeldspieler.

Balanceakt: Lassen sich Offensive und Defensive vereinen?

Auch wenn sich das in der Anzahl an Gegentoren bisher nicht gezeigt hat, so wird es doch interessant zu sehen, wie die Bayern diese Abläufe nun mit nahezu voller Kapelle umsetzen können.

Eines der Grundprobleme im Vorjahr war, dass die Mannschaft mitunter zu schnell Angriffe erzwungen und dabei den Ball verloren hat. Hier sollen die neuen Rollen der Außenverteidiger helfen: Durch gute Absicherung bei Ballverlusten und eine vielbeinige Grundstruktur im Mittelfeldzentrum.

Den Ball laufen zu lassen und Gladbach immer wieder mit klugem Anlaufverhalten zu Fehlern zu zwingen, ist sicher etwas, was die Bayern schon vor Nagelsmann gut konnten. Letztendlich ist die große Frage aber, wie stabil die Defensive noch ist, wenn die Borussia den ersten Riegel doch mal knackt.

Kann Nagelsmann sich etwas Ruhe erspielen?

Demnach wird es spannend, ob Nagelsmann dieser Balanceakt schon in Gladbach ausreichend gelingt. Einerseits soll das Team weniger Gegentore kassieren, andererseits sollen die „Offensivmonster“, auf die sich der Trainer bereits freut, vorn weiter munter Tore schießen.

Rein logisch betrachtet wird wohl eher nicht beides gehen. Auch Nagelsmann steht, wie seine vorherigen Trainerstationen zeigen, primär für Offensivfußball – wenngleich er seinen Vorgänger hier fast nur unterbieten kann.

Bei den Bayern kann man sich zumindest auf einen Fußball einstellen, der durchdachter ist als der von Hansi Flick – sagen jene, die es gut mit Nagelsmann meinen. Seine Kritiker:innen sagen wiederum, er zerdenke den Sport zu sehr. Ob eines der beiden Extreme zutrifft, wird sich in Gladbach sicher nicht entscheiden. Aber ein erfolgreicher Auftakt würde zumindest für etwas Ruhe beim FC Bayern sorgen – bis zum nächsten Spiel.