Wohin führt Oliver Kahn den FC Bayern
Welche Ziele kann der größte Sportverein der Welt nach zehn Meisterschaften in Folge und zwei Triples innerhalb dieser zehn Jahre noch haben? Wir blicken auf die schwierige Suche nach einer Vision und Mission für den neuen Mann an der Spitze des FC Bayern.
Blick zurück ins Jahr 1979
Hoeneß übernimmt den FC Bayern in einer kritischen Phase
Oliver Kahn und seine Aufgabe können nicht verstanden werden, ohne die Entwicklung des Vereins in den vergangenen Jahrzehnten zu berücksichtigen. Eine Entwicklung, die maßgeblich mit dem Wirken von Uli Hoeneß zusammenhängt.
Jener Hoeneß wechselte 1979 im Alter von nur 27 Jahren nach dem frühen Ende seiner Spielerkarriere ins Management des FC Bayern. Er übernahm einen im heutigen Vergleich kleinen Verein mit einem Jahresumsatz von 6,1 Millionen Euro und 3,6 Millionen Euro Schulden.
Sportlich war der FC Bayern gut, aber weit von den heutigen Erfolgen entfernt. In den 14 Bundesligasaisons vor Hoeneß sammelten der FC Bayern rückblickend fast bescheidene vier Meistertitel.
Die Konkurrenz war auf Augenhöhe. Borussia Mönchengladbach war mit fünf Titeln Bundesligarekordmeister, Nürnberg deutscher Rekordmeister. 1978 und 1979 feierten die Clubs aus den anderen westdeutschen Millionenstädten die Meisterschaft: Köln und Hamburg. Jener Hamburger SV sollte auf nationaler und europäischer Bühne die dominierende deutsche Mannschaft der ersten Hoeneß-Jahre werden. Von 1979 bis 1984 wurden die Norddeutschen dreimal Meister und dreimal Vizemeister und standen zwischen 1977 und 1983 viermal in einem Europapokalfinale, von denen sie zwei gewinnen konnten.
Beim FC Bayern war der Glanz von Maier, Beckenbauer, Müller, ihren Europapokalsiegen und dem WM-Titel 1974 bereits am Verblassen, die Tendenz ging nach unten. In den fünf Jahren vor Hoeneß landete man in der Liga nur auf den Plätzen 10, 3, 7, 12 und 4.
Hoeneß schafft den Turnaround und führt den FC Bayern nach ganz oben
Dann kam Hoeneß und führte den Verein in verschiedenen Funktionen – gemeinsam mit vielen Weggefährten wie Scherer, Hopfner, Beckenbauer und Rummenigge – 40 Jahre lang steil nach oben.
Der Blick zurück verklärt und verkürzt, dennoch hatte Hoeneß klare Visionen, wo er den FC Bayern letztlich hinführen würde:
- an die deutsche und europäische Spitze,
- in ein eigenes Stadion,
- zu großer Bedeutung und wirtschaftlicher Stärke.
Zurück an die deutsche Spitze schaffte der FC Bayern es mit sechs Meisterschaften in den 80ern vergleichsweise schnell. Bis zum ersehnten Triumph im Europapokal der Landesmeister beziehungsweise dem Nachfolgerwettbewerb Champions League sollte es bis 2001 dauern, als nicht zuletzt Oliver Kahns Paraden im Giuseppe Meazza für den Sieg im Elfmeterschießen gegen den FC Valencia sorgten.
Vier Jahre später folgte der Umzug in die eigene Allianz Arena, deren Bau nach vielen Jahren zähen Ringens mit der Stadt im Münchner Norden verwirklicht wurde.
Der Schock dahoam wurde durch das Triple 2013 wettgemacht. In der Folge dominierte der FC Bayern gemeinsam mit Barcelona, Real und zuletzt den Engländern den europäischen Fußball. Nochmal sieben Jahre später wurde aus dem Triple ein Sextupel, und 2021/22 krönte die zehnte Bundesligameisterschaft in Serie die bayerische Dynastie.
Das alles schaffte der FC Bayern mit Mannschaften, in denen Eigengewächse wie Lahm, Alaba und Müller zu den Stars gehörten und Welttrainern wie Heynckes, Ancelotti und Guardiola an der Seitenlinie standen.
Parallel dazu ist der FC Bayern der mitgliederstärkste Sportverein der Welt, einer der umsatzstärksten Fußballclubs, und das Festgeldkonto weist immer noch ein Guthaben aus.
Hoeneß Vision ist Realität, seine Ziele sind erreicht.
Zurück in die Gegenwart: Wohin soll die Reise des FC Bayern mit CEO Oliver Kahn gehen?
Schwierige Ausgangslage für Kahn
Was macht man als Organisation, wenn die Vision Realität geworden ist? Als Person zieht man weiter oder setzt sich zur Ruhe. Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge haben das getan. Oliver Kahn übernahm im Juli 2021 das Amt des Vorstandsvorsitzenden von Rummenigge, Herbert Hainer bereits 19 Monate vorher jenes des Aufsichtsratsvorsitzenden Hoeneß.
Es ist nun an Oliver Kahn, dem FC Bayern einen neuen Anstrich zu geben, ihn zu seinem FC Bayern zu machen. Es ist gleichzeitig die einfachste Aufgabe, denn der Verein ist trotz Corona sportlich und wirtschaftlich glänzend aufgestellt, und die schwierigste Aufgabe. Denn wohin soll man einen Verein führen, der auf dem Gipfel steht? In der Natur geht es von dort bergab.
Auch die europäische Fußballgeschichte zeigt, dass es fast unmöglich ist, konstant an der absoluten Spitze in Europa zu bleiben. Ob Manchester United, der AC Mailand oder der FC Barcelona: Kaum ein großer Clubs hält sich über jahrzehnte hinweg konstant an der europäischen Spitze.
Kahns bisherige Bilanz: engagiertes Verwalten und Detailarbeit
Oliver Kahn ist auffällig engagiert, seit er im Vorstand des FC Bayern sitzt. So berichtet er detailliert von seiner Arbeit hinter den Kulissen. Er hat die üblichen Personalrochaden eingeleitet, wenn ein Vorstand neu übernimmt. Jörg Wacker verließ den Vorstand, ebenso einige Führungskräfte der zweiten und dritten Reihe. Zuletzt übernahm Dee Kundra die Leitung des US-Büros von Rudolf Vidal.
Und nicht zuletzt initiierte er bereits vor fast zwei Jahren ein großes Strategieprojekt.
Echte Impulse oder eine Neuausrichtung sind bisher kaum zu sehen. Das ist aufgrund der Ausgangslage nachvollziehbar, aber auf Dauer nicht genug.
Auch hier taugt Hoeneß als Positivbeispiel. Hoeneß gelang es auch mit damals unorthodoxen Methoden wie der von den amerikanischen Ligen inspirierten Merchandise-Offensive neue Einnahmequellen zu erschließen.
Ausblick: Wo könnte Kahn den FC Bayern hinführen?
Mittelfristig muss Oliver Kahn eine neue Vision, neue Ziele für den FC Bayern identifizieren und vorleben. “Oben bleiben” ist schwierig und dennoch zu wenig für das höchst ambitionierte Team auf und neben dem Platz beim FC Bayern, das 40 Jahre lang nur “weiter, mehr, aufwärts” kannte.
Kahn braucht eine eigene Vision, vielleicht sogar eine unpopuläre. Eine Vision, an der er wachsen kann und an der er gemessen werden kann. In welchen Bereichen will Kahn den Verein prägen? Was wird man bei ihm im Rückblick als selbstverständlich wahrnehmen? Aktuell ist das noch nicht absehbar.
Wo könnte es den Kahnschen FC Bayern bis 2030 und darüber hinaus hinziehen? Bleiben 50%+1 Anteile im Besitz des e.V.? Überstrahlt der Herrenfußball weiterhin alles? Frauenteam? E-Sports? Weitere Sportarten? Wie gewinnt der FCB die Generation TikTok? Wie gelingt der Spagat aus Münchner Verein mit lokalem Vereinsleben und globalem Entertainment Superbrand?
Potentielle Ziele für den FC Bayern
Ziel: Im Herrenfußball in Deutschland dominant und in Europa vorne dabei bleiben.
Urteil: Ein logisches Ziel. Aber auch das per Selbstverständnis und Statu quo vorgegebene. Dem Ziel fehlt das Visionäre, das Herausfordernde.
Ziel: Im Herrenfußball in Europa noch mehr dominieren.
Urteil: Ein utopisches Ziel. Mehr als zwei Titel pro Dekade in der Champions League sind nicht planbar in einem Wettbewerb mit K.O.-Modus mit fünf bis zehn fast gleichwertigen Herausforderern.
Ziel: Aus der Bundesliga herausgewachsen wechselt der FC Bayern in die Super League und ist auch dort sportlich und wirtschaftlich erfolgreich.
Urteil: Ein provokantes Ziel. Stand heute wären die Fans und Mitgliedern des FC Bayern nicht davon zu überzeugen.
Ziel: Im Frauenfußball Rekordmeister und europäische Spitze werden.
Urteil: Ein wichtiges Ziel. Der Frauenfußball boomt europaweit, auch wenn Deutschland zuletzt hinterherhinkt. Der FC Bayern hat bereits einiges unternommen. Er sollte sein bisheriges Engagement ausweiten.
Ziel: Im Basketball erfolgreich werden und neue Sportarten wie American Football erschließen.
Urteil: Ein untergeordnetes Ziel. Solange Bayern ein FC ist, können andere Sportarten nur eine Nebenrolle spielen. Sonst droht eine Verzettelung.
Ziel: Eine führende Rolle bei den E-Sports spielen.
Urteil: Ein potentiell notwendiges Ziel. Bisher stehen E-Sports nicht im Fokus des FC Bayern. Dabei ist es vorstellbar, dass E-Sports dem Sport auf dem Rasen eines Tages den Rang ablaufen.
Ziel: Ein neues Stadion bauen. Ein beliebtes Ziel für neue Vorstände. Tatsächlich gibt es im Bereich der Fußballstadien als Erlebnisort verschiedene Entwicklungen. Die Anforderungen an Nachhaltigkeit im Energieverbrauch bei der An- und Abreise steigen. Wie verschmelzen Stadien künftig mit dem Metaverse? Vielleicht ist es in zehn Jahren normal, dass zu den 70.000 Fans im Stadion weitere fünf Millionen Fans live via VR-Brille ebenfalls “im Stadion” sitzen.
Urteil: Ein zukünftiges Ziel. Die Allianz Arena ist 17 Jahre alt. Ein Stadionumbau oder -neubau erfordert erheblichen zeitlichen Vorlauf. Noch ist es zu früh für diese Pläne, perspektivisch wird auch dieses Thema auf den FC Bayern zukommen.
Bewertung: Es gibt keine einfachen Ziele
Potential für eine ambitionierte Weiterentwicklung gibt es für den FC Bayern und seinen neuen CEO aktuell nur dort, wo er vom bisherigen Schwerpunkt Männerfußball abwiche – oder wo dieser in Richtung radikaler Veränderungen gedacht würde.
Das macht es zu einer schwierigen Aufgabe für Oliver Kahn. Der Gegenwind wäre erheblich. Vielleicht arbeit er längst an den genannten oder ganz anderen Zielen und Visionen. Auch wenn sie für manche Anhänger unangenehm sein könnten: Auch das macht Führung aus.