Spiel des Lebens #11: Anfang einer Ära
Die Situation vor dem Spiel
Nach einer bestenfalls durchwachsenen Hinrunde 2009 begriff der FC Bayern das Spiel gegen Juventus Turin am letzten Spieltag der Champions-League-Gruppenphase als Wendepunkt der gesamten Saison. Von Platz 4 in der Bundesliga mit ebenso vielen Punkten Rückstand auf die Tabellenspitze -was damals noch Europa League bedeutet hätte!- und dem drohenden Aus in der Champions League, zu einer scheinbar absolut souveränen Meisterschaft mit 5 Punkten Vorsprung und dem nur um eine Niederlage verpassten Triple 2010. Dabei wird nur gerne vergessen, dass es selbst während dieser Rückrunde zwischenzeitlich ganz anders aussah.
In der Bundesliga verlor man vor den Spielen gegen Manchester United die Tabellenführung und in der Champions League war es ebenfalls ein holpriger Weg ins Viertelfinale. Gegen den AC Florenz gelang der Sieg im Hinspiel erst kurz vor Schluss, als das Schiedsrichtergespann nicht erkennen konnte, wie Miroslav Klose beim 2:1 gut eine Körperlänge im Abseits stand. Im Rückspiel führte die Fiorentina gleich zweimal mit zwei Toren Vorsprung, während beide Münchener Tore Weitschüssen entsprangen. Insbesondere Arjen Robbens Tor zum 2:3-Endstand ist in jedem Robben-Highlight-Video zu finden. Es waren diese Wochen, die den Niederländer zum absoluten Unterschiedsspieler machten. Und selbst wenn ich persönlich Arjen Robbens absolute Blütezeit auf das Kalenderjahr 2014 einschätze, ist die Meinung, er wäre nie besser gewesen als in diesem ersten Halbjahr der Dekade, mehr als nachvollziehbar.
Das Hinspiel
Etwa ein Jahr nach der Ära-definierenden Niederlage gegen Barcelona stand der FC Bayern also erneut im Viertelfinale der Champions League. Gegner war das von eben diesem Barcelona im Finale besiegte Manchester United.
Ohne Schweinsteiger (gesperrt) und Robben (verletzt) begann es denkbar schlecht für die Bayern: Direkt in der zweiten Spielminute gelang Manchester United die Führung. Nani brachte einen selbst herausgeholten Freistoß in die Mitte, wo Wayne Rooney völlig blank war. Bayern arbeitete sich nach und nach in die Partie, um dann in der Schlussviertelstunde komplett das Ruder an sich zu reißen.
Ribérys bestenfalls durchschnittlicher Freistoß wurde von Rooneys Hacke unhaltbar zum Ausgleich abgefälscht, doch schaute es danach aus, als hätte Bayern zu spät alles nach vorne geworfen. Dann allerdings kam Mario Gómez die wahrscheinlich wahnwitzigste Idee seiner gesamten Karriere: Gegen einen Haufen Champions-League-Sieger entschloss sich der gemeinhin wenig geschmeidige Stürmer in der Nachspielzeit vom Mittelkreis aus ins Dribbling zu gehen! Robust, mit maximal viel Herz, extrem viel Glück und auch ein wenig Können, schaffte er es tatsächlich drei seiner Gegenspieler – wohlgemerkt mit den Namen Rooney, Scholes und Giggs! – auszuspielen und wurde erst von Nemanja Vidić und Patrice Evra vom Ball getrennt. Vielleicht noch immer verdattert ob des von ihnen unterbundenen bizarren Dribblings, sahen sie nicht, wie sich von rechts Ivica Olić anschlich, Evra den Ball stibitzte, Ferdinand stehen ließ, van der Sar mit einem angetäuschten Schuss verlud, um dann genau dorthin zu treffen, wo der Holländer Sekunden zuvor noch stand. Die Bayern schlugen das große Manchester United! Der erste Akt des Dramas war erfolgreich überstanden, nun hieß es eine Woche später im Theater der Träume den Vorsprung über die Zeit zu bringen.
Falls ihr euch nicht mehr erinnern könnt
Die Aufstellungen
Louis van Gaal war für vieles bekannt, Formationsvariabilität gehörte jedoch nicht dazu. Von dem Moment an, als seine Ära begann Erfolg zu haben, bis zu seinem allerletzten Arbeitstag startete Bayern im 4-2-3-1. Martin Demichelis und Daniel van Buyten bildeten das Abwehrzentrum, Philipp Lahm war Rechtsverteidiger. Holger Badstuber pendelte die gesamte Saison über zwischen Linksverteidiger und linkem Innenverteidiger, gegen Manchester spielte er auf der Außenposition. Nach seiner Gelbsperre im Hinspiel kam Bastian Schweinsteiger an die Seite Mark van Bommels ins Mittelfeldzentrum für Danijel Pranjić zurück. Wie noch viele Male in diesem Jahrzehnt hieß die offensive Dreierreihe davor Franck Ribéry, Thomas Müller und Arjen Robben. Eigentlich als vierter Stürmer geholt, hatte sich Ivica Olić ins Strumzentrum gespielt.
Wayne Rooney handelte sich in den Schlusssekunden des Hinspiels eine Verletzung ein, wonach noch am Tag vor dem Rückspiel laut Sir Alex Ferguson “no chance” für einen Einsatz Rooneys bestände. Selbstverständlich begann Rooney also, der kalkulierende Ferguson hatte alle getäuscht. Für den routinierten Gary Neville kam Rafael ins Team, die beiden da Silva-Zwillinge galten damals als große Außenverteidigertalente, ein Versprechen, dem beide nie gerecht werden konnten. Patrice Evra war sein Gegenstück auf der linken Seite, in der Mitte bildeten Rio Ferdinand und Nemanja Vidić den damals physisch wohl kraftvollsten Abwehrblock der Welt. Im 4-3-3 bildete Michael Carrick den zentralen Part und wurde von Fletcher und dem für Scholes in die Mannschaft kommenden Gibson flankiert. Neben dem wundergeheilten Rooney spielten Antonio Valencia und Nani.
Die erste Halbzeit
Laut wurde Olićs Siegtreffer gefeiert, denn die Bayern hatten sich den Vorsprung hart erkämpft. Doch nach sieben Minuten schien man die ganze harte Vorbereitung weggeworfen zu haben. Zunächst fiel nach drei Minuten das erste Tor, Rafael behauptete den Ball gegen Ribéry, jagte ihn weit in die Mitte zu Rooney, der den Ball mit dem Rücken zum Tor mit einem Kontakt auf Gibson querlegte. All das schien für sämtliche Bayern zu schnell gewesen zu sein, inklusive Torwart Jörg Butt, der kurzerhand vergaß, die kurze Ecke richtig zu decken, wohin Gibson punktgenau traf. So blitzschnell wie United umschaltete, war es ein recht typisches Premier-League-Tor der damaligen Zeit. Keine vier Minuten später erhöhte Nani auf 2:0. Valencia bekam auf dem rechten Flügel den Ball und wurde von Badstuber gestellt. Der Kolumbianer dribbelte, stoppte ab, täuschte wieder an, doch der junge Badstuber blieb auf Distanz und riskierte nicht den direkten Zweikampf. Für Badstuber, Müller und in geringerem Maße Alaba kann man van Gaal nur dankbar sein, doch in dieser Situation merkte man eben, dass es sich schlussendlich um einen 21-Jährigen in seiner Debütsaison, auf schwächerer Position, auswärts, im Old Trafford handelte. Valencia verzögerte so lange bis Nani zwischen die Verteidiger lief, flankte flach an Badstuber vorbei, wo der Portugiese den Ball mit der Hacke ins Tor beförderte.
Manchester United presste weiterhin eng und erfolgreich, selbst Techniker wie Ribéry verloren den Ball im Mittelfeld und in einigen Szenen wurde deutlich, dass Torwart Butt aus der Schule Kahns und nicht seines Nachfolgers Neuer stammte. Die Engländer waren auch im weiteren Verlauf der Halbzeit die klar spielbestimmende und angreifende Mannschaft, doch schalteten sie mit Blick auf das Ergebnis einen Gang zurück. Bayern wurde zwar nicht mehr so eklatant überrannt wie in den ersten sieben Minuten, doch aus der eigenen Hälfte kamen sie trotzdem nur selten; von van Gaals ruhigem Spielaufbau war wenig bis gar nichts zu sehen. Es dauerte bis in die 26. Minute bis Bayern für wenige Momente gesammelt dem Ergebnis entsprechend Uniteds Strafraum belagern konnte. Eine Spielsituation, die in einem verzweifelten Weitschuss Schweinsteigers mündete, der van der Sar nicht einmal erreichte. Ein gutes Beispiel mit welchem Feuer Bayern spielte, wann immer sie es doch in die gegnerische Hälfte schafften, bot sich in der 34. Minute. Ribéry wurde weit linksaußen der Ball abgenommen und ein sich beim langen Ball verschätzender van Buyten später, ist Rechtsverteidiger Rafael durch und es stand bloß nicht 3:0, weil dem jungen Brasilianer am Ende der Mut ausging und er so die falsche Entscheidung traf
Nachdem sich Bayern Sekunden zuvor durch einen Konter die erste ernstzunehmende Torsituation erspielte, schien in der 41. Minute alles aus zu sein. Nach einem Einwurf legte Valencia den halbhohen Ball wohlüberlegt über den anrauschenden Demichelis, flankte flach und präzise zu Nani, der mit vollem Schwung in die linke Ecke vollendete. Schaut man sich an mit welch frenetischen Salti Nani und der Rest der Mannschaft dieses Tor feierten, ist man fast geneigt hineinzulesen, ein jeder Red Devil hielt die Messe bereits für gelesen. Wahrscheinlich waren kurze Zeit auch nicht wenige Bayernakteure darunter, doch änderte sich dies schlagartig zwei Minuten später. Schweinsteiger lupfte einen Ball hoch zu Müller, der vertikal zu Olić köpfte. Im Strafraum drängte der Kroate Carrick weg und obwohl es so aussah, als wäre er selbst zu weit nach außen gedrückt worden, um noch etwas produktives aus der Situation zu bekommen, legte er den Ball am verdutzten van der Sar in die lange Ecke. Die Hoffnung lebte und das noch vor der Pause! Noch bevor Rizzoli zur Pause pfiff übernahmen die Bayern die Kontrolle und drückten nach vorne. Zum ersten Mal zeigte Robben seinen mittlerweile berüchtigen Move des Nachinnenziehens, van der Sar parierte jedoch in der Nachspielzeit und nach diesen wilden Schlussminuten war diese ereignisreiche erste Halbzeit zu Ende.
Die zweite Halbzeit
Van Gaal schaltete komplett auf Angriff und wechselte bereits in der Halbzeit den in der Vorwoche so wichtigen Mario Gómez für Thomas Müller ein. Wer gedacht hatte, die Pause käme für Bayern zu einem schlechten Zeitpunkt, wo sie doch in den Minuten zuvor Manchester nach hinten drücken konnten, sah sich getäuscht. Das Bild blieb spiegelverkehrt identisch, auf einmal sah man Spielaufbau und Dominanz. Auf einmal sah man ein echtes Louis-van-Gaal-Team. Befeuert wurde das ganze in der 50. Minute durch die Hinausstellung Rafaels. Alex Ferguson würde nach dem Spiel poltern, die “typical Germans” hätten Rizzoli bedrängt, Rafael des Feldes zu verweisen, doch wer so penetrant Ribéry gute 10 Meter hält, darf sich über eine zweite Gelbe Karte wahrlich kaum beschweren.
In Unterzahl sah Ferguson ein, dass er zehn topfitte Spieler brauchte und nahm den sichtlich mitgenommenen Rooney runter. Statt mit Dimitar Berbatov einen Stürmer zu bringen, entschloss sich der Schotte jedoch mit John O’Shea das Mittelfeld zu verstärken. Mit Nani und Valencia sollten auch zwei statt drei Angreifer genügen, um Bayerns wackelige Defensive in Schach zu halten. Tatsächlich war jedoch das größte Opfer von Uniteds Auflösung des Dreiersturms, das Pressing. Waren die Bayern in der ersten Halbzeit noch derartig an Manchesters Pressing verzweifelt, wie sie es Jahre später höchstens noch an Kloppschem Pressing taten, überließ ihnen nun United fast wehrlos den Spielaufbau. Die zwei höchsten Pressingspieler konnten zumeist mühelos ausgespielt werden, das dominante Spiel aus der Bundesliga konnte Bayern nun endlich auch im Old Trafford betreiben. Dementsprechend wuchsen die Ballbesitzanteile, hatten die Bayern im ersten Abschnitt noch ungewohnte 49 %, waren es nach 90 Minuten ganze 60 %.
Ribéry, Gómez und Robben platzierten gefährliche, aber unerfolgreiche Torschüsse bis in der 74. Minute der legendäre Eckstoß kam. Ribéry malte in der Luft vor, wie er den Ball anzuschneiden gedachte, Robben war völlig blank und traf den Volley perfekt in die lange Ecke. Direkt danach nahm van Gaal seinen in der Woche zuvor noch verletzt fehlenden Torschützen runter und brachte Hamit Altintop. Ferguson wiederum musste nun dringend die Offensive stärken und wechselte seinerseits Dimitar Berbatov und den ewigen Ryan Giggs für Carrick und Gibson ein. Daraufhin stärkte van Gaal die Defensive, indem er für die letzten Minuten Danijel Pranjić ins defensive Mittelfeld für Olić stellte und auf ein 4-3-3 wechselte. Wer durch Manchesters Zugzwang gedacht hatte, nun kehre die erste Halbzeit zurück, sah sich getäuscht. United lief zwar verzweifelt an, doch Bayern hielt voll dagegen, kämpferisch wie spielerisch. Somit kamen für die Engländer keine weiteren Chancen mehr heraus und das Spiel endete mit einem 3:2-Sieg für United, einem 4:4-Unentschieden nach Hin- und Rückspiel und dem Halbfinaleinzugs Bayerns durch die Auswärtstorregel.
Dinge, die sonst noch auffielen
1. Vorbote zukünftiger Probleme
Die erste Halbzeit im Old Trafford wirkt aus heutiger Sicht ein wenig, wie der Blick ins Fernglas der damaligen Zukunft. Nun wo man weiß, wo alles endet und was noch unternommen werden wird, erscheint so manches unter einem anderen Stern. Dass Hans Jörg Butt kein Keeper war, der einem die Champions League gewinnt, war klar. Doch gerade das Abwehr- und Mittelfeldzentrum zeigten in der ersten Halbzeit Charakteristika auf, die Bayern in der Euphorie des Erfolgs nicht wahrhaben wollte und einfach unter den Tisch kehrte. Probleme, die im Laufe der Zeit sich dauerhaft manifestieren, zum Teil van Gaal den Job kosten und erst durch viele (Transfer-)Versuche behoben werden sollten.
Da ist zuerst der Geschwindigkeitsmangel. Um Dominanz herzustellen, müssen sich die Spieler hoch positionieren, doch für eine hohe Kette braucht man schnelle Verteidiger. Van Buyten, Demichelis, aber auch van Bommel waren das einfach nicht. Immer wieder mussten sie in mitunter hanebüchene Sprintduelle mit Valencia und Nani gehen. Selten wurde im Bayerntrikot so oft gegrätscht, wie an diesem Abend. Unter anderem deshalb sollte später Jupp Heynckes als eine seiner ersten Amtshandlungen, den Transfer Jérôme Boatengs erbitten.
Schlimmer als athletische Mängel waren jedoch die Mängel in der Reaktionsgeschwindigkeit. Die Spieler reagierten umringt von Spielern Uniteds einfach zu langsam. Zu langsam erkannten sie die Gefahr, in der sie schwebten, zu langsam wählten sie die beste Lösung, zu langsam gingen sie in die Zweikämpfe. Dazu waren es Passspieler aus einer anderen Generation. Demichelis und van Buytens Qualitäten reichten hier einfach nicht aus, obgleich der Belgier auf diesem Feld noch eine starke Entwicklung hinlegen sollte. Wenig überraschend hieß die Zukunft im Defensivzentrum dementsprechend Badstuber, Boateng und Dante.
2. Mark van Bastian
Ähnliches galt für den Kapitän Mark van Bommel. Wenn auch die Gründe für die Trennung mit dem Kapitän keine sportlichen sein sollten, zeigte dieses Spiel vielleicht ein erstes Zeichen, dass van Bommel nicht dauerhaft Bastian Schweinsteigers Partner bleiben könnte. Er sollte der “aggressive Leader” sein, als Kapitän die Mannschaft anführen und in einer Schwächephase diese stützen. Doch auch van Bommel hatte seine liebe Not Manchester Uniteds Angriffen Paroli zu bieten. Ihm wurde im Aufbau der Ball abgenommen, er wurde überspielt oder stand einfach nicht gut. Der 33-Jährige hatte auf absolutem Weltklasseniveau mit sich selbst zu kämpfen, sein Aufgabenbereich übernahm ein anderer: Sein Partner Schweinsteiger.
Schweinsteiger kämpfte und rackerte als hätte er jahrelang nichts anderes getan, als Zweikämpfe zu bestreiten. Jahre bevor er sich blutüberströmt in die Köpfe der Zuschauer einbrannte, stellte er sich fast alleine Uniteds Übermacht entgegen. Er war der einzige in Bayerns Zentrum, der dem Pressing und der individuellen Qualität etwas entgegensetzen konnte und seine Pässe zumeist gut an den Mann bekam. Es ist kein Zufall, dass es sein wohlüberlegter Lupfer auf Müller war, der das spielumkehrende Anschlusstor von Ivica Olić einbrachte. Vor dem Hinspiel philosophierte Uli Hoeneß noch, Bastian Schweinsteiger sei zum Mann geworden, seine eines Kapitäns würdige Leistung im Rückspiel pflichtete Hoeneß bei.
3. Lahm wirkt verschenkt
Es ist rückblickend fast schon bitter zu wissen, welch Weltklassemittelfeldspieler in Philipp Lahm steckte, denn neben Schweinsteiger wusste von allen Spielern Lahm am besten mit Uniteds Angriffen umzugehen. Das Problem: Er konnte es fast nie zeigen! Der Großteil von Manchester Uniteds Angriffen ging über Bayerns linke Seite. Logisch, schließlich spielte dort ein unerfahrener Innenverteidiger, den niemand in England überhaupt aussprechen konnte, während Lahm auch damals schon der beste Außenverteidiger der Welt war. Freilich bekam auch Lahm seine Probleme, wie könnte es bei einem derartigen Hyänenpressing und wirrer Positionierung seiner Mitspieler auch sein. Doch zusammen mit Schweinsteiger war der spätere Kapitän derjenige, der mit dem Niveau am besten zurecht kam. Beim Anblick wie spielend leicht United durch das Zentrum marschierte, wirkt Philipp Lahm mit dem Wissen der Zukunft in der ersten Halbzeit einfach vollkommen verschenkt.
4. Ribéry verweigert die Defensive
Als das Trainergespann um Jupp Heynckes im Sommer 2012 nach dem verlorenen Finale dahoam die Mannschaft zusammentrommelte, zeigte es dem Team Videos von Stürmern, die sich der Defensive verweigerten. Cristiano Ronaldo und Zlatan Ibrahimović, wie sie einfach am Mittelkreis stehen blieben. Gelächter sei ausgebrochen, hieß es. Das Team um Jupp Heynckes wollte den Stürmern, vor allem natürlich Ribéry und Robben, näher bringen, sich auch an der Defensivarbeit zu beteiligen. Hätten sie Ribéry nicht trainieren, sondern rausekeln wollen, hätten sie Ausschnitte der ersten Halbzeit zeigen können. Auf seiner Seite wird der unerfahrene Holger Badstuber von fast sämtlichen Angriffen Manchesters ins Visier genommen. Doch statt ihm und der Mannschaft zu helfen, sich vielleicht auch selbst ins Spiel zu hieven, bleibt Ribéry einfach stehen und verliert ohne Bindung zum Spiel, sofort fast jeden Ball.
Ähnliches gilt natürlich ebenfalls für Arjen Robben, doch hatte der Lahm hinter sich, Uniteds Angriffe liefen nicht gebündelt über seine Seite und nach überstandener Verletzung hatte er sogar eine gute gesundheitliche Entschuldigung.
Die Bedeutung des Spiels
Fast die gesamte 00er-Dekade war international ein Offenbarungseid Bayerns. Mit einer Ausnahme qualifizierten sie sich zwar immer fleißig für die nächste Runde, doch alsbald war dann gegen den ersten größeren Gegner Schluss. Das Arsenal um Henry und Vieira kämpfte man 2005 zwar noch nieder, doch direkt in der nächsten Runde zeigte Chelsea einem die Grenzen auf. Das Endergebnis von nur einem Tor Unterschied schmeichelt Bayern hier. Selbst der Triumph über Real Madrid 2007 erstrahlt im Kontext des damaligen Zustands Reals nicht mehr ganz so hell. Noch von der fehlgeleiteten Transferpolitik der Galácticos-Ära nicht ganz erholt, schied Madrid damals wie ein Uhrwerk Jahr für Jahr im Achtelfinale aus. Am härtesten traf Bayern vielleicht die Saison vor den Spielen gegen United. Viele mögen es vergessen haben, doch noch Wochen bevor man Jürgen Klinsmann mit Pauken und Trompeten rausschmiss, fertigte man Sporting Lissabon mit 12:1 im Champions-League-Achtelfinale nach Hin- und Rückspiel ab. Doch was bringen einem solche Ergebnisse, wenn man kurz darauf im Camp Nou deklassiert wird? Mit der Transferoffensive im Sommer 2007 glaubte Bayern diese Phase hinter sich zu wissen, stattdessen wurden sie vorgeführt, wie vielleicht kein zweites Mal in seiner Geschichte.
Und dann kamen ein Jahr später die Duelle mit Manchester United. Sicher, sie hatten Carlos Tévez und vor allem Cristiano Ronaldo verloren, doch war das keine Mannschaft im absoluten Tief. Kein Verein, der nur vom Namen lebte. Dreimal in Folge wurden sie englischer Meister, in der umkämpften Premier League eine Spitzenleistung. Praktisch jeder Spieler gewann zwei Jahre zuvor im epischen Moskauer Finale gegen Ballacks Chelsea die Champions League und im Jahr darauf standen sie wieder im Finale. Blickt man aus dem Jahr 2020 zurück, erkennt man noch mehr, dass dies kein Team im Niedergang war. Im Jahr nach diesen Spielen wurden sie wieder Meister und standen erneut im Champions-League-Finale. Hätten sie nicht jeweils mit Guardiolas Barcelona das vielleicht beste Fußballteam der Geschichte als Endspielgegner gehabt, vielleicht würden wir jetzt noch einmal anders über diese United-Elf reden.
Und diese Mannschaft hat Bayern besiegt. Und das nicht einmal unverdient. Insgesamt war Bayern in zwei der vier Halbzeiten die bessere Mannschaft und man kann durchaus argumentieren, die erste Halbzeit in München wäre leistungstechnisch mehr ein Remis gewesen. Als sie sang- und klanglos in Barcelona untergingen hieß es noch, dies sei unter Ribérys Würde. Arjen Robben empfand den FC Bayern gar als ein Rückschritt in seiner Karriere. Ein Stück weit nahm sich der FC Bayern an diesem Abend seinen Status als internationaler Spitzenverein wieder. Es zeigte, dieser Weg sei richtig, dass diese Mannschaft sich tatsächlich in eine Richtung entwickle, wo sie es mit den besten Vereinen des Planeten auf sich nehmen könne und dass der Gewinn der Champions League keine Utopie mehr sein müsse.
Man kann nur spekulieren, was für eine Kettenreaktion ausgelöst worden wäre, wären die Bayern ihrem Außenseiterstatus entsprechend gegen Manchester United rausgeflogen. Ob Ribéry ohne einer sichtbaren internationalen Entwicklung “5 Jahre mehr gemacht” hätte? Hätte Bastian Schweinsteiger daran glaubend, mit seinem Heimatverein die Champions League gewinnen zu können, seinen Vertrag verlängert? Wäre Philipp Lahm den Avancen Barcelonas vielleicht doch erlegen? Hätte Arjen Robben sich vielleicht bestätigt gefühlt und den Verein nach zwei, drei Jahren wieder verlassen? Hätte das Theater der Träume sie nicht glauben lassen, kann man nur spekulieren, ob das Team auch tatsächlich zusammengeblieben wäre.