Spiel des Lebens #09: Ein Höhepunkt des deutschen Fußballs

Dennis Trenner 07.01.2020

Der Artikel wurde geschrieben von Constantin.

Die Bedeutung des Spiels

Der Peak war allerdings zu jener Zeit noch nicht erreicht. So effektiv die Spielweise von Bayern und Dortmund in jenem Sommer auch war, die beiden Clubs lieferten sich in den darauffolgenden Jahren noch weitere hochklassige Schlachten. Der FC Bayern profitierte vom intellektuellen Input Pep Guardiolas, der versuchte, das pragmatische und gleichfalls erfolgsstabile System von Jupp Heynckes weiterzuentwickeln. Auf der anderen Seite war der BVB in der nicht ganz freiwillig gewählten Situation, die ständigen Spielerabgänge auf kreative Weise zu kompensieren. Jürgen Klopp hatte nicht nur einen Sinn für Intensitätsfußball, sondern auch ein Auge dafür, Spieler in gänzlich neuen Rollen auszuprobieren. Auch wenn Dortmund in der Hinrunde 2014 von Niederlage zu Niederlage und Enttäuschung zu Enttäuschung eilte, war die Borussia bei weitem stärker als ihr Punktekonto.

Klopp im Nacken.
(Bild: Adam Pretty/Bongarts/Getty Images)

So trafen sich am 1. November 2014 zwei Teams in der Münchener Allianz Arena, die innerhalb von 90 Minuten den fußballerischen Kulminationspunkt auf deutschem Rasen zur Schau stellten. Als Beobachter realisiert man die Tragweite der gezeigten Leistungen in der Flüchtigkeit des Moments nicht immer. In der Retrospektive wird diese jedoch auch aufgrund der enttäuschenden Entwicklungen der darauffolgenden Jahre deutlich.

Peps Angst vorm Konterfußball

Als Pep Guardiola in die deutsche Bundesliga kam, hatte er die Liga bereits intensiv studiert. Sein einjähriges Sabbatical hatte er nicht nur in New Yorker Coffeeshops verbracht, sondern mehrheitlich vor Bildschirmen und in Fußballstadien. Der Katalane war beeindruckt vom Gesehenen und ehrfürchtig vor dem Konterfußball der Deutschen. Er war so ehrfürchtig, dass er sich umgehend Gedanken darüber machte, wie er Abwehr und Mittelfeld formieren könnte, um dem Pressing der Deutschen zu entkommen, um nicht in die Konterfalle zu laufen. Fast eineinhalb Jahre reiften Guardiolas Überlegungen, bis es zu jenem Spiel im November 2014 kam.

Falls ihr es verpasst habt

Die Aufstellungen

Die Bayern begannen die Partie im 3-1-4-2, das viele interessante Spielerrollen beherbergte. Da wäre David Alaba als linker Halbverteidiger, Jérôme Boateng als Zentralverteidiger, Xabi Alonso als abkippender Sechser in der Dreierkette, Mario Götze und Philipp Lahm als Doppelacht und Arjen Robben als rechter Flügelläufer. Dieses Spielsystem war Guardiola.

Und dem gegenüber stand Jürgen Klopp mit einem nicht minder kreativen Entwurf. Die Dortmunder starteten ins Spiel in einem 4-3-1-2/4-3-3 und folgenden Spielerrollen: Sven Bender fungierte als rechter Achter neben Sebastian Kehl. Henrikh Mkhitaryan war offensiver Achter auf der linken Seite. Pierre-Emerick Aubameyang zog von der rechten Sturmposition häufig zum rechten Flügel. Marco Reus tat ähnliches als linker Halbstürmer. Und zwischen den beiden positionierte sich Shinji Kagawa als verkappte falsche Neun. Übrigens hatte Kagawa bis zu jenem Zeitpunkt in seiner Karriere noch nie gegen die Bayern verloren. Das sollte sich an diesem November-Abend ändern.

Alonso muss an den Ball

Die Partie verdeutlichte noch einmal, wie Guardiola stets damit zu ringen hatte, das Pressing von Gegnern zu negieren, um den eigenen Ballbesitzanspruch durchzusetzen. Die Dortmunder verteidigten hoch im 4-3-3 und stellten damit alle Abwehr- und Mittelfeldspieler der Bayern effektiv zu. Die mannorientierte Spielweise gepaart mit der Dortmund-typischen Intensität machte ein Vordringen der Bayern durch die Spielfeldmitte fast unmöglich.

Guardiola war immer auf der Suche nach einer Lösung, mit der er wenigstens einen seiner Spieler in der Spieleröffnung aus der gegnerischen Deckung befreien und ihm somit genügend Zeit am Ball ermöglichen konnte. Oftmals sollte dieser Spieler Boateng sein; in dieser Partie war es jedoch Xabi Alonso, der sich aus pragmatischen Gründen als optimaler Freispieler entpuppte. Der Spanier ließ sich vor die erste Dortmunder Pressinglinie fallen und stellte eine Überzahlsituation her. Wäre er in seinem angestammten Sechserraum geblieben, hätte ihn Kagawa weitestgehend aus dem Spiel genommen.

Alonso und sein schwarz-gelber Schatten.
(Bild: Adam Pretty/Bongarts/Getty Images)

Der BVB konnte trotz seiner mannorientierten Spielweise jedoch keinen Mittelfeldakteur zur Verfolgung nach vorn schicken und damit auf ein 4-2-4 wechseln. Dafür war die Mannschaft als solches zu stark auf Stabilität und Kompaktheit ausgerichtet. Die Lösung mit Alonso war jedoch auch für das Ballbesitzspiel der Bayern alles andere als optimal. Denn Lahm und Götze konnten sich im Mittelfeld keinesfalls entfalten. Sie befanden sich in Unterzahl gegen die zweikampfstarken Bender und Mkhitaryan sowie den erfahrenen Absicherungssechser Sebastian Kehl.

Viele Ballverluste hatten die Bayern trotzdem nicht zu verzeichnen. Mehrfach gelang ihnen ein Dribbling gegen die erste Pressingwelle des BVB, wodurch sie in die Mittelfeldzonen eindringen und den Angriff weiterentwickeln konnten. Durch die Dortmunder Hoheit im Zentrum, gingen viele Pässe jedoch in Richtung der Flügelläufer oder eines Mitspielers, der sich zu diesem Zeitpunkt zur Außenbahn abgesetzt hatte.

Die Umstellungsschlacht beginnt

Die numerische Überlegenheit Dortmunds im Mittelfeld sowie Bayerns aggressives Gegenpressing mit dem Mittelfeldtrio sowie vereinzelt nach vorn schießenden Abwehrspielern kreierte ein derart intensives Geschehen, das es glatt aus einem Werbefilm der DFL stammen könnte. Die Bundesliga war zu jener Zeit die spektakulärste Liga der Welt, wenn Spektakel mit ständigen Umschalt- und Pressingszenen und einem unvergleichlichen Intensitätslevel gleichzusetzen ist.

Einerseits war diese Konstellation gut für den BVB, weil dieser die starke Offensivmaschinerie Bayerns in Schach halten konnte und die Hausherren des Öfteren zu überhasteten Abschlusshandlungen zwang. Diese sahen sich dazu gezwungen mit hohem Tempo über die Flügel und Halbräume zu kombinieren, um den Zweikämpfen mit Dortmund aus dem Weg zu gehen, fanden sich allerdings dadurch in klarer Unterzahl im letzten Spielfelddrittel wieder. Gerade Robert Lewandowski war phasenweise komplett vom Angriffsspiel isoliert und erarbeitete sich nur Torchancen, weil er nun einmal Robert Lewandowski ist.

Andererseits hatten die Gäste erhebliche Probleme, ihre eigenen Angreifer überhaupt einmal vernünftig anzuspielen. Ganz selten konnten sie sich aus der Kompaktheit im Mittelfeld befreien und das Gegenpressing der Bayern brechen. Reus und Aubameyang hingen gänzlich in der Luft – und markierten in der 31. Minute trotzdem in Zusammenarbeit den Führungstreffer, nach einem schnell eingeleiteten Angriff über die rechte Seite, bei der Aubameyang einmal seine Schnelligkeit im offenen Feld ausspielen konnte.

Nun begann Guardiola mit dem Tüfteln. Er hatte sich eine halbe Stunde lang das Treiben angesehen und wollte Dortmund zurückdrängen. Deshalb schalteten sich David Alaba und Mehdi Benatia stärker nach vorn ein und besetzten die Räume hinter Juan Bernat und Arjen Robben. Und deshalb ließ sich Xabi Alonso nicht mehr ständig in die Abwehr zurückfallen, sondern schob nach der Spieleröffnung ins Mittelfeld und somit Lahm und Götze vor sich her. Zurück blieb zumeist nur Boateng als Absicherung. Guardiola war davon überzeugt, dass das Gegenpressing seinen Dienst verrichten und keine Dortmunder Angriffe zulassen würde.

Klopp blieb seinerseits nicht etwa untätig. Der Dortmunder Meistermacher nahm das Duell mit dem katalanischen Kollegen gerne auf und schob die Steinchen auf der imaginären Taktiktafel ein wenig umher. Aus dem 4-3-1-2 wurde zunehmend ein 4-4-2, womit Klopp die Flügelverteidigung stärken und somit Alaba und Benatia entgegenwirken wollte. Doch der BVB-Trainer gab damit mehr oder weniger das Angriffspressing auf, denn Reus und Aubameyang konnten nie wieder jenen Druck aus der Anfangsphase auf den Spielaufbau der Bayern ausüben. Boateng und Alonso hatten bei weitem mehr Zeit zur Spieleröffnung und sezierten zunehmend die Dortmunder Verteidigungsformation, die einzig aufgrund der beachtlichen Präsenz von Bender und Kehl auf der Doppelsechs dem bayerischen Sturmlauf etwas entgegensetzen konnte.

Der geschmeidige Ribéry

Wechsel blieben in der zweiten Halbzeit ebenso nicht aus. Und sie verdeutlichten nochmal die unterschiedliche strategische Ausrichtung beider Mannschaften. Dortmund wollte in Führung liegend die defensive Stabilität so gut wie möglich erhalten, weshalb Klopp seinen Allrounder Kevin Großkreutz für Shinji Kagawa einwechselte und damit die läuferische Intensität im 4-4-2 stärkte. Guardiola wiederum entschied sich für einen gänzlich anderen Schachzug: Franck Ribéry kam für Mario Götze und entwickelte sich anders als Thomas Müller, der nun auf die rechte Seite ging, zum Albtraum für Neven Subotić. Ribéry attackierte den Serben unablässig und machte ihm das Leben derart schwer, dass dieser in Fehler gezwungen wurde. Viel Unterstützung von seinen Nebenmännern konnte er nicht erhalten, weil diese mit Lewandowski und Robben beschäftigt waren.

Der Franzose bittet zum Tänzchen.
(Bild: Adam Pretty/Bongarts/Getty Images)

Hätte Klopp in dieser Situation auf eine Fünferkette umstellen müssen? Eventuell. Matthias Ginter hätte beispielsweise als Halbverteidiger für mehr Präsenz gegen Ribéry sorgen können. Bender hätte sich auch situativ zurückfallen lassen können. Aber nicht zum ersten Mal rannte der BVB sehenden Auges in der Schlussphase einer Partie in eine Niederlage gegen die Bayern. Erst besorgte Lewandowski nach einer unglücklichen Grätsche von Subotić den Ausgleich, bevor Robben wenig später per Elfmeter den Sieg perfekt machte. Das Foul beging Subotić gegen einen Ribéry auf der Überholspur. Die ohnehin kriselnden Dortmunder hatten sich bravourös geschlagen, aber nichts Zählbares für ihre prekäre Tabellensituation mitnehmen können.

Ein Abend für die Geschichtsbücher

Über die Jahre lieferten sich Bayern und Dortmund derart viele Duelle auf Augenhöhe, dass es manches Mal schwerfällt, die einzelnen Partien noch auseinanderzuhalten. Natürlich gab es die großen Schlachten im Champions-League-Finale sowie in den Pokal-Endspielen, aber eben auch viele „herkömmliche“ Duelle im Saisonalltag, die für sich genommen sehr oft interessante Geschichten schrieben. Man erinnere sich nur an den Kontersieg des BVB 2014, an Götzes Tor im Westfalenstadion, an das Elfmeterdebakel im DFB-Pokal, an Demütigungen für Tuchel und Favre.

Diese Partie im November 2014 war in meinen Augen schlichtweg der fußballerische Höhepunkt in alledem. Aufgrund der tabellarischen Konstellation wurde der Partie eventuell weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Oberflächlich betrachtet befand sich Dortmund in einer Identitätskrise, doch in Anbetracht dieser Partie war das nicht der Fall. Es war immer noch Klopp-Fußball – nur eben mit limitierten Mitteln. Die Guardiola-Bayern waren wiederum in der Blüte ihrer Schaffenskraft, die sich zum eigenen Missfallen nicht bis in das darauffolgende Frühjahr erstreckte.