Spiel des Lebens #07: Die emotionalste Meisterschaft
Artikel wurde geschrieben von Alex Feuerherdt.
Die Situation vor dem Spiel
Als am vorletzten Spieltag der Saison 2000/01 die 90. Minute anbrach, deutete alles darauf hin, dass der FC Schalke 04 und der FC Bayern vor der finalen Runde punktgleich sein würden, allerdings mit einem Vorsprung der Gelsenkirchener bei der Tordifferenz von immerhin fünf Treffern. Die Ausgangslage wäre für die Münchner dadurch wesentlich schlechter gewesen, zumal sie nach Hamburg zum HSV reisen mussten, während Schalke sein letztes Spiel vor eigenem Publikum gegen den Tabellensechzehnten, die SpVgg Unterhaching, bestreiten konnte.
Doch in dieser 90. Minute änderten sich die Vorzeichen komplett, und das auf spektakuläre Art und Weise: In Stuttgart kassierten die Schalker das 0:1 durch Krassimir Balakov, exakt sieben Sekunden später besorgte in der gleichzeitig stattfindenden Partie im Münchner Olympiastadion der erst kurz zuvor eingewechselte Alexander Zickler für die Bayern mit einem Gewaltschuss den Siegtreffer zum 2:1 gegen den 1. FC Kaiserslautern. Dadurch lag der Rekordmeister nun drei Zähler vor den „Knappen“, ein Punkt in Hamburg würde also auf jeden Fall zur 17. deutschen Meisterschaft und zum dritten Titel-Hattrick der Roten in der Geschichte genügen.
Doch nichts war in dieser Spielzeit so beständig wie die Unbeständigkeit des FC Bayern München. Bereits neun (!) Niederlagen standen in der Liga zu Buche, darunter solche vollkommen unerwarteten und unnötigen wie jene zu Hause gegen Rostock und auswärts in Unterhaching (jeweils 0:1). Dafür lief es auf internationaler Bühne umso besser: Zwei Jahre nach der traumatischen Last-Minute-Niederlage im Champions-League-Finale von Barcelona gegen Manchester United gelang den Münchnern erneut der Einzug ins Endspiel, wo sie in Mailand auf den FC Valencia treffen sollten, vier Tage nach der Begegnung in Hamburg.
Falls ihr es verpasst habt
Die Aufstellungen
HSV-Trainer Frank Pagelsdorf musste auf Mittelfeldspieler Niko Kovač und Verteidiger Milan Fukal verzichten, dafür rückten Jochen Kientz und Ingo Hertzsch ins Team. Beim FC Bayern nahm Coach Ottmar Hitzfeld im Vergleich zum Spiel gegen Kaiserslautern drei Änderungen vor: Für Roque Santa Cruz, Ciriaco Sforza und den gelbgesperrten Hasan Salihamidžić spielten Giovane Elber, Mehmet Scholl und Willy Sagnol.
Die Hamburger liefen vor Ersatztorwart Matthias Schober, der zu seinem dritten Bundesligaspiel in dieser Saison kam, mit einer Vierer-Abwehr auf, wobei sich Nico Jan Hoogma zentral hinter den anderen drei Verteidigern positionierte. Außen hatte es Hertzsch mit Scholl, der sich immer wieder ins Mittelfeld zurückfallen ließ, und Bernd Hollerbach mit Carsten Jancker zu tun, in der Mitte war Elber bei Tomáš Ujfaluši fast völlig abgemeldet.
Der Bayern-Zentrale mit Owen Hargreaves und Stefan Effenberg setzte der HSV mit Kientz und Stig Töfting vor allem Physis entgegen. Hinter dem Hamburger Drei-Mann-Sturm mit Torjäger Sergej Barbarez in der Mitte und Mehdi Mahdavikia (rechts) sowie Roy Präger (links) agierte Marek Heinz. Die Münchner Defensive bildete vor Keeper Oliver Kahn wie so oft eine Dreierkette aus Thomas Linke, Patrik Andersson und Sammy Kuffour, flankiert von den offensiv ausgerichteten Außenverteidigern Willy Sagnol (rechts) und Bixente Lizarazu (links).
Erste Halbzeit
Der Anpfiff verzögerte sich, weil aus dem Publikum mehrere Dutzend Bananen in den Strafraum von Oliver Kahn geworfen worden waren – zu dieser Zeit ein so dümmliches wie befremdliches Ritual bei Auswärtsspielen der Bayern – und erst einmal beseitigt werden mussten. Kurz nach Spielbeginn folgte eine mehrminütige Unterbrechung, weil dicke Pyro-Rauchschwaden durchs Stadion zogen. Danach übernahmen die Hausherren, im Niemandsland der Tabelle angesiedelt und damit bar aller Sorgen und Hoffnungen, die Initiative, angetrieben von einem emotionalen Publikum, das nach der Sensation gierte. Die Bayern ließen den HSV kommen und setzten darauf, bei eigenem Ballbesitz das Tempo zu verschleppen.
Es schien auch nicht unbedingt erforderlich, ein Risiko einzugehen, denn im Gelsenkirchener Parkstadion gingen die Unterhachinger überraschend mit 2:0 in Führung. In Hamburg kamen die Gastgeber derweil zu zwei guten Torchancen durch Barbarez, die Kahn jedoch gewohnt reaktionsschnell vereitelte. Auf der Gegenseite scheiterte Jancker zweimal an Schober. Es blieb zur Pause beim torlosen Remis, während Schalke kurz vor dem Ende der ersten Hälfte noch zu zwei Treffern kam und das Zwischenresultat damit auf 2:2 stellte.
Zweite Halbzeit
Nach dem Seitenwechsel das gleiche Bild: Der HSV tat mehr für das Spiel, die Münchner versuchten vor allem, die Bälle zu halten, und beschränkten sich auf sporadische Vorstöße. Bei einem davon in der 61. Minute verlängerte Jancker eine Hereingabe von Lizarazu ins Gehäuse der Hamburger, doch der Treffer zählte nicht, weil sich der Torschütze im Abseits befunden haben soll – eine Fehlentscheidung. Auf Schalke gingen die Hachinger unterdessen erneut in Führung, doch die Gastgeber drehten die Partie schließlich und lagen kurz vor Schluss mit 5:3 vorne. Nun war klar, dass die Bayern ihr Spiel nicht verlieren durften.
Das stachelte die Hanseaten zusätzlich an, und tatsächlich schien den Münchnern die sicher geglaubte Meisterschale in letzter Minute zu entgleiten: Hargreaves und Kuffour bekamen zwei Hereingaben nicht entscheidend geklärt, und beim dritten Versuch setzte sich Barbarez im Kopfballduell gegen Patrik Andersson durch. Vom rechten Pfosten sprang der Ball zum 1:0 ins Tor der Gäste. Damit wäre der FC Schalke 04 Deutscher Meister gewesen. Der FC Bayern versuchte nun mit dem Mute der Verzweiflung, das Unheil abzuwenden, doch seine Angriffe waren zu planlos.
Bis Stefan Effenberg in der dritten Minute der Nachspielzeit einen Außenristpass auf den für Scholl eingewechselten Paulo Sergio spielte und Ujfaluši den Ball in höchster Not zu Schober zurückspitzelte. Statt die Kugel einfach wegzuschlagen, nahm der Keeper sie mit den Händen auf – ein Verstoß gegen die sogenannte Rückpassregel. Schiedsrichter Markus Merk entschied deshalb zu Recht auf indirekten Freistoß zehn Meter vor dem Hamburger Tor. Und wie schon vor Wochenfrist schlugen die Bayern in buchstäblich letzter Sekunde zu: Effenberg tippte den Ball an, und Patrik Andersson drosch ihn durch eine Lücke in der Mauer ins Tor. 1:1, Bayern war Meister. Unfassbar.
Dinge, die auffielen
Weiter, immer weiter!
„Ich habe das 0:1 gekriegt und mir eigentlich gar nichts gedacht. Und dann schoss es mir durch den Kopf: Es geht bestimmt noch drei Minuten. Da dachte ich mir, wir müssen weitermachen! Immer weitermachen! Immer weiter! Wieso sollten wir es nicht noch schaffen? Was da noch alles passieren kann! Wir haben noch in der 90. Minute an uns geglaubt, mit einem immensen Willen. Man kann die Dinge anscheinend erzwingen. Genau dieser Charakter hat uns zum Meister gemacht.“ So hat es Oliver Kahn damals nach dem Spiel gegenüber dem Kicker formuliert.
Tatsächlich war es keine Meisterschaft, die auf Eleganz und spielerischer Klasse beruhte, sondern eine, bei der es zum Schluss auf wilde Entschlossenheit und rohe Gewalt ankam. Die Tore von Zickler und Andersson, also die entscheidenden beiden letzten Treffer der Bayern in dieser Bundesligasaison, waren ein sinnbildlicher Ausdruck davon. Die Münchner wussten seit dem Champions-League-Finale zwei Jahre zuvor aus eigener, bitterer Erfahrung, wie es sich anfühlt, einen Titel in letzter Minute zu verlieren. Sie zerbrachen daran jedoch nicht, sondern machten sich diese Erfahrung vielmehr zunutze: Solange der Schiedsrichter nicht abgepfiffen hat, ist alles möglich.
Für diese Haltung stand neben Kahn, der sich vor der Freistoßausführung zwecks Einschüchterung durch die halbe Hamburger Mannschaft rempelte, vor allem Stefan Effenberg. „Ich habe auf die Stadionuhr geschaut, sie zeigte genau 17.16 Uhr“, sagte er dem Kicker. „Da dachte ich, wir müssen noch ein-, zweimal vor das Hamburger Tor kommen. Und dann dieser Rückpass, dieser Pfiff.“ Es war der damals 32-Jährige, der entschied, dass Patrik Andersson den Freistoß aufs Tor bolzen muss. „Aus dieser Entfernung ist es das Beste, voll draufzuhauen, also kam nur noch Patrik in Frage. Da habe ich ihn gerufen und gesagt: Komm her, hau das Ding rein, dann fahren wir nach Hause. Es hat wunderbar geklappt.“
Das wichtigste Tor seiner Karriere
Als die Bayern Anfang März 2001 in der Champions League mit 0:3 bei Olympique Lyon baden gingen und Klubpräsident Franz Beckenbauer bei seiner anschließenden Bankettrede ätzte, das Team habe „Altherrenfußball“ gespielt wie „die Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft“, war damit auch Patrik Andersson gemeint. Der Innenverteidiger hatte keine gute Figur abgegeben, überhaupt war die Saison für den schwedischen Nationalspieler auch aufgrund von Verletzungen bis dahin alles andere als optimal verlaufen. Doch Andersson, zur Saison 1999/2000 für vier Millionen Mark von Borussia Mönchengladbach zum FC Bayern gewechselt, steigerte sich nach dieser desaströsen Partie wie das gesamte Team. Er wurde zur defensiven Säule, zum Abwehrchef.
Torgefahr ging von ihm beim FC Bayern jedoch nicht aus, deshalb kam es durchaus überraschend, dass er es war, der in Hamburg den indirekten Freistoß aufs Tor zimmern sollte. „Als ich vorgegangen bin, dachte ich mir: Cool bleiben, jetzt liegt es an dir“, sagte Andersson später. „Ich versuchte nur, den Ball sauber zu treffen. Ich habe keine Lücke gesehen, sondern wollte den Ball einfach nur durchpressen. Mit Gewalt eben. Und dann war er drin. Dann ist in meinem Kopf alles geplatzt, es war die totale Explosion.“ Das Tor war sein einziges für den FC Bayern – und das wichtigste seiner Karriere.
Im Champions-League-Finale vier Tage später wäre Patrik Andersson beinahe zur tragischen Figur geworden: Schon nach zwei Minuten verschuldete er durch ein Handspiel einen Strafstoß, den der FC Valencia zur Führung verwandelte, später scheiterte er im Elfmeterschießen an Torwart Santiago Cañizares. Am Ende aber triumphierte der seinerzeit 29-Jährige wie schon in Hamburg. Mit diesem Double verließ er München nach nur zwei Jahren wieder: Für eine Ablösesumme von 15 Millionen Mark ging er zum FC Barcelona.
Fußball ist geil – und grausam
Um 17.18 Uhr und zwölf Sekunden ertönte im Gelsenkirchener Parkstadion der Schlusspfiff – der letzte überhaupt bei einem Bundesligaspiel an dieser Stätte. Der FC Schalke 04 hatte seine Partie gegen Unterhaching mit 5:3 gewonnen, die Bayern lagen zu diesem Zeitpunkt hinten. 44 Sekunden später machte die (Falsch-)Meldung die Runde, dass die Partie in Hamburg abgepfiffen worden sei. Daraufhin brachen auf Schalke alle Dämme. Tausende strömten auf den Rasen und feierten euphorisch die erste Meisterschaft seit 43 Jahren. Es waren unbeschreibliche Szenen voller Glückseligkeit. Wie hätte man diesen Menschen den Erfolg ernsthaft missgönnen können?
Doch plötzlich flackerten die Bilder aus Hamburg über die Videowand im Stadion: Die Begegnung dort lief doch noch. Wer hinschaute, sah, wie der Ex-Schalker Matthias Schober den Ball nach dem Rückpass von Ujfaluši mit den Händen aufnahm. Wie Markus Merk daraufhin pfiff. Wie Stefan Effenberg sich den Ball zurechtlegte. Wie Patrik Andersson traf. Wie die Bayern jubelten. Schalke war nur vier Minuten lang Meister, dann wich die Euphorie erst lähmendem Entsetzen und schließlich hemmungsloser, abgrundtiefer Trauer. Ein Schuft, wer da als Bayernfan bei aller Freude keine Empathie empfand – ein ähnliches Gefühl war den meisten ja nach dem Drama von Barcelona zwei Jahre zuvor bekannt. Fußball kann eben geil sein. Und unfassbar grausam.
Die Bedeutung des Spiels
Man kann die Behauptung natürlich nicht beweisen, aber abwegig dürfte sie auch nicht sein: Hätte der FC Bayern in Hamburg die Meisterschaft verspielt, dann wäre wahrscheinlich auch das Champions-League-Finale verloren gegangen. Zumindest wäre es für Ottmar Hitzfeld eine fast übermenschliche Aufgabe gewesen, die Mannschaft zwei Jahre nach dem Drama von Barcelona innerhalb von wenigen Tagen nach einem weiteren Last-Minute-Titelverlust so weit wieder aufzurichten, dass sie im Endspiel eine Chance hat. So aber nahm sie Euphorie und Selbstvertrauen mit nach Mailand. Um dort erneut den Widrigkeiten zu trotzen: Früher Rückstand durch einen Elfmeter und einen eigenen Strafstoß verschossen, danach einen weiteren verwandelt und schließlich im Elfmeterschießen gewonnen, vor allem dank eines Oliver Kahn in Weltklasseform.
Für viele, die den letzten Spieltag der Saison 2000/01 als Bayernfan verfolgt haben, ist diese Meisterschaft bis heute die emotionalste überhaupt. Die Dramatik der letzten beiden Spieltage ist schwerlich zu steigern und noch heute kaum zu fassen. Überhaupt war die Jahrtausendwende für die Fans des Rekordmeisters eine irre Zeit: Ein Jahr nach der so schmerzlichen Niederlage gegen ManUnited gelang dem FC Bayern am letzten Spieltag doch noch die Titelverteidigung, weil Bayer 04 Leverkusen in Unterhaching völlig überraschend verlor, und mit dem Pokalsieg gegen Werder Bremen die Revanche für die Niederlage ein Jahr zuvor. Und nun dieses Double aus Meisterschaft und europäischer Krone, jeweils in letzter Sekunde.
Dass nach diesen überaus intensiven Triumphen inklusive exzessiver Feiern die Luft raus war, ist nur allzu verständlich. Das Team wusste genau, dass es in den Jahren 1999 bis 2001 auf seinem Zenit war und zumindest nicht in der Lage sein würde, seinen internationalen Erfolg zu wiederholen. Mit dem Sieg über den FC Valencia wurde die grausame Nacht von Barcelona wettgemacht, mit dem Meisterschafts-Hattrick nach einer in der Bundesliga eher durchwachsenen Saison deutlich gemacht, dass man die Konkurrenz, wie schon im Vorjahr, notfalls am letzten Spieltag auf die Plätze verweist. Das Sahnehäubchen folgte schließlich Ende November mit dem Gewinn des Weltpokals gegen die Boca Juniors aus Buenos Aires durch ein Tor von Sammy Kuffour in der Verlängerung. Die Bayern machten es damals oft besonders spannend.