Warum Reschkes Abgang schmerzt
Wer die Bedeutung von Michael Reschke für den FC Bayern verstehen will, muss die veränderten Ansprüche des Rekordmeisters und die veränderten Verhältnisse im europäischen Fußball verstehen. Als Reschke 2014 dank Uli Hoeneß von Bayer Leverkusen losgeeist wurde, weil der Verein spürte, dass sich der Markt radikal verändert, spielte die Scouting-Abteilung beim FC Bayern eine eher untergeordnete Rolle. Das ist nachvollziehbar, denn in den Jahrzehnten zuvor konzentrierten sich die Münchner vor allem darauf, die besten Spieler der Bundesliga, darüber hinaus den einen oder anderen Top-Spieler aus dem europäischen Ausland oder ein vermeintliches Top-Talent aus Südamerika zu verpflichten. Es brauchte keine anspruchsvolle Scouting-Abteilung, um zu erkennen, dass Michael Ballack gut ist. Oder Sebastian Deisler. Oder Miroslav Klose. Oder Mario Gomez. Oder Arjen Robben.
Schon 2012 änderte sich etwas. Die Münchner wollten Marco Reus aus Mönchengladbach holen. Der entschied sich für Borussia Dortmund. Ein Paukenschlag nach einer Saison, die die Münchner ohne Titel beendeten. Der auf nationaler Ebene unumstößliche Satz: „Wen der FC Bayern will, den bekommt er auch“, wurde erstmals in Frage gestellt. Die Bayern reagierten ungewöhnlich. Ein bis dato nur in Fachkreisen bekannter Baske wurde zum teuersten Transfer der Vereinsgeschichte. Für das Trainerteam in München war Javi Martínez allerdings kein Unbekannter. Jupp Heynckes und Peter Hermann kannten Martínez gut. Schon bei ihrer vorherigen Station in Leverkusen war Martínez Thema. Michael Reschke, der damals noch in Diensten der Rheinländer stand, wollte den Defensiv-Allrounder nach Leverkusen holen. Die 40 Millionen Euro festgeschriebene Ablösesumme verhinderten einen Wechsel. Aber Hermann und vor allem Heynckes, der Martínez‘ Club Athletic Bilbao einst selbst trainierte und den Verein weiter eng verfolgte, verloren ihn nicht mehr aus den Augen. 2012 machten sie in München ernst. Nach der Absage von Reus brauchten die Münchner ein Statement. Martínez kam und wurde zum Schlüsselspieler der Triple-Saison. Wenn man so will, war er der erste typische Reschke-Transfer, auch wenn dieser erst zwei Jahre später zum FC Bayern stieß.
Heute bewegt sich der FC Bayern in einem noch einmal deutlich verschärften Markt. Der Fall Reus ist heute nicht mehr ungewöhnlich. Der Triple-Gewinn hat die Ansprüche an neue Spieler deutlich erhöht. Gleichzeitig haben China, England und dazu ausländische Investoren wie in Paris die Preise völlig versaut. Der Fall Reus ist heute durchaus normal. Kevin De Bruyne oder Leroy Sané sind dafür zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. Der FC Bayern ist schon lange kein zwingender Schritt mehr für die besten Spieler der Bundesliga, zumal auch das nicht zu unterschätzende Argument „Guardiola“ inzwischen wegfällt. Der FCB muss sein Radar inzwischen deutlich erweitern, um Spieler zu finden, die den Kader auf hohem Niveau ergänzen, bezahlbar und vor allem verfügbar sind.
Dazu sind Spielerberater an vielen Stellen nachhaltiger und professioneller geworden. Der Schritt zum FC Bayern ist für viele talentierte 20 bis 25-Jährige eher ein Risiko. Warum nicht in Leipzig, Hoffenheim oder Dortmund den nächsten Schritt machen statt in München das Risiko einzugehen, zwei Jahre auf der Bank zu sitzen? Wer den komplizierten Transfer von Serge Gnabry verfolgt, bekommt eine Ahnung davon, dass Spielzeit und Entwicklungsmöglichkeiten bei vielen inzwischen im Mittelpunkt stehen.
Reschke als „Ein-Mann-Armee“
Im Jugendbereich spielte die Musik in den vergangenen Jahren ohnehin woanders. Während in Hoffenheim, Leipzig und Dortmund professionelle, personell hochgerüstete Scouting-Abteilungen die besten Jugendspieler des Landes in ihre Systeme lockten, hatten die Münchner oft das Nachsehen. Bis heute ist Bayerns Scouting-Abteilung der Konkurrenz personell deutlich unterlegen. Dass der FC Bayern seit 2014 auch im Nachwuchs wieder Top-Talente wie Timothy Tillman und Bruder Malik oder zuletzt ein Trio von Hertha BSC an die Isar holte, hat viel mit Reschke zu tun. Er hielt hier mehr oder weniger als „Ein-Mann-Armee“ mit wenigen Helfern dagegen. Gleichzeitig professionalisierte er die Strukturen im langfristigen Scouting.
Der 59-Jährige ist ein Phänomen. Reschke kennt wahrscheinlich jeden sehr guten Spieler dieser Welt und seinen Berater, seit er 15 ist – und wahrscheinlich auch noch seinen Cousin und dessen Mutter. Reschke ist unermüdlich unterwegs auf allen Plätzen des Planeten. Erreicht man ihm am Handy, ist er entweder im Auto oder auf irgendeinem Flughafen. Bei U-Nationalmannschaften, bei der Copa Amerika, in der U19-Bundesliga, in allen europäischen Ligen. Videostudium allein reicht ihm nicht. Deshalb kennt er Javi Martínez seit der U17 gut. Deshalb gilt einer seiner ersten Anrufe beim Rekordmeister dem Berater von Joshua Kimmich, einem Zweitliga-Spieler aus Leipzig. Deshalb nennt er sofort Juan Bernat vom FC Valencia als Wunschspieler für den Backup auf der Linksverteidiger-Position. Und deshalb bekommt er Kingsley Coman und Renato Sanches, bevor die Konkurrenz merkt, dass der FC Bayern bei ihnen längst ernst gemacht hat. In einer Phase, in der genau diese Fähigkeiten für den FC Bayern immer wichtiger werden, verliert der Verein den wohl profiliertesten Mann für diesen Job.
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Über Reschkes Transfer-Bilanz wird nun kräftig gestritten. Nicht immer ist das fair.
Sanches wird jetzt häufig als Beispiel für die angeblich miese Bilanz seiner Amtszeit herangezogen. Dabei wird der Transfer im Sommer 2016 als Coup gefeiert. Sanches wird zurecht zum Golden Boy der EM. Er gilt als absolutes Top-Talent und die 30 Millionen Euro Ablöse beinahe als Schnäppchen. Es ist das Los eines jeden Scouts, für Transfers erst Jahre im Nachhinein bewertet zu werden. Dabei ist die Arbeit des Trainers für die konkrete Entwicklung eines Spielers meist viel entscheidender.
Auch Medhi Benatia wird als Flop herangezogen. Der Marokkaner kam 2014 als Nottransfer kurz vor dem Ende der Transferperiode, weil sich Javi Martinez und Holger Badstuber langfristig verletzt hatten. Der Markt war zu. Benatia hatte ebenfalls kaum jemand auf dem Schirm und war im Prinzip ein toller Verteidiger, der leider immer wieder verletzt war.
Transfergremium entscheidet
Andere inzwischen umstrittene Transfers wie Douglas Costa (dessen Einfluss insgesamt auch nicht so negativ war, wie er heute gemacht wird) sind nicht zweifelsfrei Reschke zuzuordnen. Es gibt bei den Münchnern ein Transfergremium mit den Bossen, dem Sportdirektor, dem Finanzverantwortlichen und natürlich auch dem jeweiligen Trainer. Für Reschke, der in Leverkusen mehr oder weniger freie Hand hatte, war das eine Umstellung. Nicht auf jedem Bayerntransfer der vergangenen drei Jahre prangt deshalb zurecht das Reschke-Banner. Costa war zum Beispiel eher der Wunschspieler von Guardiola. Ohne den Einblick in die genauen Entscheidungsprozesse ist eine endgültige Bewertung schwierig. Gleiches gilt für die Situation am Markt. Es ist undurchsichtig, welche Spieler überhaupt zu welchem Preis zu haben und gleichzeitig wechselwillig sind. Wer sich Marktwerte auf Transfermarkt.de anschaut und denkt „Spieler X wäre doch auch für den Preis zu haben gewesen“, verkennt völlig die Realitäten. Es gibt in jedem Sommer nur wenige sehr gute Spieler, die überhaupt für einen Wechsel in Frage kommen. Zudem stimmen die Marktwerte dort längst nicht mehr mit der Realität überein.
Fakt ist, dass der Kader heute in der Breite besser aufgestellt ist als bei seiner Ankunft. Damals gab es auf den offensiven Außenbahnen und der Linksverteidigerposition zum Beispiel keinen echten Ersatz. Bei der Bewertung von jungen Spielern wie Coman, Sanches, Gnabry und Süle muss für eine endgültige Bewertung noch etwas abgewartet werden. Ein Top-Star der Marke Robben, Lewandowski war bei den Transfers seit 2014 gewiss bisher nicht dabei.
Es wird nun spannend, ob und wie die Münchner Reschke ersetzen. Es braucht wie erwähnt keine hoch anspruchsvolle Scouting-Abteilung, um zu erkennen, dass Naby Keita oder Marco Reus gute Bundesliga-Spieler sind. Aber es braucht viel Erfahrung, extrem gute Kontakte und vor allem Verhandlungsgeschick, um Spieler dieser Kategorie zu finden und von einem Wechsel zu überzeugen, bevor sie 60-80 Millionen Euro kosten. Wer diese Aufgabe beim FC Bayern übernehmen kann und soll, ist völlig fraglich. Das gilt auch für die Frage, warum Reschke überhaupt den Verein verlässt. Reschke war ein Hoeneß-Mann und bisher nie wirklich interessiert an einem Job in der ersten Reihe. Was genau den Ausschlag gegeben hat, bleibt wohl erstmal offen. Sicher reizt einen Typen wie ihn die Herausforderung in Stuttgart mit großem Entscheidungsspielraum etwas aufzubauen.
Ob Reschkes rechte Hand Marco Neppe im Verein bleibt, ist ebenfalls unklar. Hasan Salihamidzic bringt kein wirkliches Netzwerk mit und hat auch keine Erfahrung als Scout. Nicht ausgeschlossen, dass die Münchner Bosse in Kürze mal wieder bei der Konkurrenz wildern. Es bleibt zu hoffen, dass sie erkennen, wie wichtig ein kluges, langfristiges Scouting selbst für den deutschen Marktführer inzwischen ist. Nicht für die Hummels und Lewandowskis. Aber für die Martínez und Kimmichs der Zukunft.