Meisterschaft gewonnen und viel verloren – der FC Bayern 2022/23

Georg Trenner 29.05.2023

Der FC Bayern wird zum 11. Mal in Folge deutscher Meister

Der Borsigplatz war abgesperrt, die Dortmunder Meisterfeier geplant. Der Neustart des FC Bayern ebenso. Dann passierte Fußball. Mainz führte früh in Dortmund, Bayern musste nur in Köln gewinnen, um den Titel doch noch zu behalten.

Und die Bayern machten, was sie in dieser Saison zu oft machten: Elfmeter verursachen und Führungen verspielen. Ljubičić traf zum 1:1, Dortmund war in der Live-Tabelle vorne. 

Doch der FC Bayern ist der FC Bayern. Weiter, immer weiter. Und so kam die 89. Minute. Schwäbe pariert gegen Sané, Köln klärt, Kimmich fängt den Ball ab, über die linke Seite kommt der Ball zu Gnabry, der zu Musiala spielt. Ballannahme und Drehung um den Gegenspieler herum, aus einem Guss der Abschluss flach ins lange Eck. Tor. Jubel. Meister. 

Sportliche Achterbahnfahrt des FC Bayern

Gute Hinrunde 

Die Saison des FC Bayern startete bereits vor dem ersten Spieltag positiv. Das Transferfenster des Rekordmeisters wurde fast allerorten gelobt. Durch die Verkäufe von Lewandowski Nianzou, Roca, Chris und Omar Richards, Zirkzee, Mai und Früchtl nahm der FC Bayern über 100 Millionen Euro ein. Lewandowski bedeutete sportlich einen immensen Verlust, aber 45 Millionen Euro für einen fast 34-jährigen sollten den Abgang verschmerzbar machen. Vor allem, da der FC Bayern die Ablöse bereits vorab reinvestiert hatte. Mané, de Ligt, Tel, Gravenberch und Mazraoui kamen für insgesamt 137 Millionen Euro. 

Auch der Saisonstart selbst verlief mit fünf Siegen aus den ersten sechs Spielen nach Maß. 26 erzielte Tore in sechs Spielen machten Lust auf mehr. Lewandowski war vergessen. Das neue fluide Offensivsystem mit Mané, Musiala, Müller und Gnabry saß auf Anhieb. 

Julian Nagelsmann schien die enttäuschende Rückrunde 2022 überwunden zu haben und der neue FC Bayern nah am Nagelsmannschen Idealbild zu spielen. Auch Hasan Salihamidžić konnte zufrieden sein. Und der Club mit ihm. So zufrieden, dass sein 2023 auslaufender Vertrag als Sportvorstand bis 2026 verlängert wurde. 

Mané, einer der beiden Königstransfers, überzeugte in der Hinrunde mit Beständigkeit und 11 Toren bis zur WM-Pause. Der zweite Königstransfer de Ligt brauchte Zeit zur Eingewöhnung, zeigte aber ebenfalls von Beginn an, dass er die Ablöse wert sein würde.  

Aus einer kleinen Spiel- und Ergebniskrise zum Herbstbeginn halfen unter anderem die Tore von Choupo-Moting. Der FC Bayern ging als Tabellenführer und mit blütenreiner Champions-League-Weste in die lange Winterpause. 

Rückrundenabsturz mit Happy End in der Bundesliga

Eine für den FC Bayern verheerend lange Winterpause, wie sich zeigen sollte. Mané verletzte sich noch vor der WM, Neuer danach. 

Mit drei Unentschieden kam der FC Bayern schlecht aus der Pause. Es sollte ein Vorzeichen für die weitere Saison sein. In der Kalenderjahrestabelle für 2023 belegt der FC Bayern nur den dritten Platz hinter Dortmund und Leipzig. 

Trainer Julian Nagelsmann musste nach einer Niederlage in Leverkusen und dem Verlust der Tabellenführung gehen. Auf ihn folgte Thomas Tuchel. Sein durchwachsener Einstand beim FC Bayern manifestierte sich im Viertelfinalaus im DFB-Pokal und in der Champions League.

Große Teile der Mannschaft kamen nach der Weltmeisterschaft und Verletzungen nicht in Tritt. Sadio Mané und Leon Goretzka waren die komplette Rückrunde außer Form. Auch Serge Gnabry und Leroy Sané schwächelten. Der in der Hinrunde noch so wichtige Eric Maxim Choupo-Moting fehlte oft verletzt. Shooting-Star Jamal Musiala konnte nicht an die überragende Hinrunde anknüpfen. Thomas Müller musste immer wieder für andere Platz machen. Dayot Upamecano streute zu viele Böcke in sein Spiel ein. Alphonso Davies pendelte zwischen Verletzung und Formkrise. Yann Sommer konnte sich nicht als ernsthafter Neuer-Herausforderer empfehlen. Noussair Mazraoui, Ryan Gravenberch und Mathys Tel kämpften um Spielminuten. 

Zu den wenigen Lichtblicken im Kader gehörten ein stabiler Benjamin Pavard und Matthijs de Ligt, dessen eingesprungene Rettungsaktionen zu den Highlights der Rückrunde gehören.  Kingsley Coman war der konstanteste Flügelspieler, aber sein ewiges Manko der zu geringen Scorer-Ausbeute haftete auch in der Rückrunde an ihm. João Cancelo empfahl sich für eine dauerhafte Verpflichtung. Joshua Kimmich zeigte individuell gute Leistungen, aber er schaffte es nicht, die Mannschaft als Anführer aus ihrem Tal zu reißen.

Der 2:1-Sieg in Köln war sinnbildlich für die Saison: Führung verspielt, schlecht gespielt, aber es sind immer noch die Bayern, und die individuelle Klasse reicht irgendwo dann doch.

Meisterschaft feiern und würdigen

Den Spielern und Fans war die ehrliche Freude über die unerwartete Meisterschaft anzumerken. Spielerisch überzeugt und dominiert hat der FC Bayern im letzten Jahrzehnt oft.

Diese Saison war es eine neue Qualität, die zum Titel führte: kontrolliertes Abstürzen. 

Denn ganz implodiert sind Verein und Mannschaft am Ende doch nicht, obwohl es phasenweise danach aussah. Immerhin sechs Siege aus neun Ligaspielen unter Tuchel reichten, um punktgleich mit den Borussen auf Platz eins zu stehen. 

Dass ausgerechnet das Torverhältnis dank 92 geschossener Tore den Ausschlag gab, ist eine jener Pointen, die auch zeigen, dass die scheinbar einfachen Bierdeckel-Analysen (“Stürmer fehlt”) vielleicht doch zu kurz greifen.

Juventus dominierte die Serie A mit neun Titeln in Folge, bevor sie zuletzt zweimal als Vierter abschlossen. In der aktuellen Saison dürfte es ein ähnlicher Abschlussplatz werden. Paris Saint-Germain dominiert die französische Liga finanziell mindestens ähnlich wie der FC Bayern die deutsche. Paris verspielte den Titel in den vergangenen elf Jahren zweimal. 

Finanzielle Kraft hin und Dortmunder Patzer her, diese Meisterschaft ist auch und gerade wegen der Nebengeräusche eine besondere, eine die auf ihre ganz eigene Art und Weise beeindruckt. Vor dieser Mannschaft darf man den Hut ziehen und ihr zu diesem Erfolg gratulieren.  

Was bleibt darüber hinaus?

Unklarheit über die Kaderstärke

Hatte Nagelsmann schon das Optimum aus der Mannschaft herausgeholt? Wie viel Verantwortung trägt Tuchel? Wie gut ist dieser Kader überhaupt noch? Gehört der FC Bayern noch zu den europäischen Topteams oder wurden bei der Kaderplanung Fehler gemacht und der FC Bayern muss in den nächsten Jahren eher nach unten schauen und sich neu aufbauen? 

Die aktuelle Wahrnehmung wirkt klar: In der Bilanz stehen die nach Punkten schlechteste Bundesligasaison seit 2011, in der Champions League wartet der FC Bayern seit dem Titel 2020 auf einen Halbfinaleinzug, zudem stieß das Team gegen Manchester City an klare Grenzen.

Im Team fehlen ein Mittelstürmer und ein (Anker-)Sechser. Darüber hinaus kann man Argumente finden, dass die Hierarchie im Team Lücken bekommen hat. Lewandowski  und Alaba sind weg, Neuer war lange verletzt, Müllers Rolle ist kleiner geworden. Nach Einsatzzeit belegte er 2022/23 nur noch den zehnten Platz, nach Platz 2 im Vorjahr. 

Doch so klar ist die Lage nicht. Manchester City war an den beiden Tagen eine Klasse für sich. Aber welches andere Team in Europa steht vor dem FC Bayern? Der FC Liverpool verpasst die Champions League, Real Madrid ist in LaLiga deutlich abgeschlagen und sah gegen Manchester City noch schlechter aus als der FC Bayern. Der spanische Meister aus Barcelona wiederum verabschiedete sich früh aus Europa. Chelsea und Manchester United überbieten sich weiterhin darin, möglichst wenig aus ihren Mitteln herauszuholen. 

In der Champions League ließ der FC Bayern in der Gruppenphase den FC Barcelona und mit Inter Mailand den späteren Finalisten klar hinter sich, im Achtelfinale folgten zwei überzeugende Siege gegen das Pariser Starensemble.  

Der FC Bayern erzielte 2,7 Tore pro Spiel. Das ist der Bestwert in den großen europäischen Ligen. Selbst die fulminante mit Erling Haaland bestückte Offensive von Manchester City kommt nur auf 2,5 Tore pro Spiel. Alle anderen Teams folgen mit deutlichem Abstand. Ganz planlos kann also insbesondere die offensive Ausrichtung des FC Bayern nicht gewesen sein. Die These vom glasklaren Fehler, auf den Einkauf eines neuen Mittelstürmers zu verzichten, wird von diesen Zahlen nicht gedeckt.

Auch der Kader hat mindestens ein Fundament, auf dem der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Hasan Salihamidžić aufbauen kann. Wenn Jamal Musiala Thomas Müller beerbt, bleibt nur noch Manuel Neuer vom 2013er Team. Neben Musiala könnten de Ligt, Kimmich, Davies, Coman noch jahrelang Eckpfeiler eines internationalen Top-Teams sein.

Ob der FC Bayern 2023 ein Top-Team mit Schwächephase ist oder ein Top-Team mit Tendenz zum Abstieg, wird erst die Zukunft zeigen. Denkbar ist an der aktuellen Weggabelung beides. 

Rückkehr des FC Hollywood

Begleitet wurde die sportliche Krise des FC Bayern von der Wiederentdeckung des FC Hollywood.

Angefangen mit Manuel Neuers Verletzung, in deren Folge auch die Trennung von Torwarttrainer Toni Tapalović zu verorten ist, über den aufgebauschten Auslug von Serge Gnabrys auf die Fashion Week bis zur Auseinandersetzung zwischen Mané und Sané bestimmten zunehmend Boulevard-Themen die Berichterstattung über den Verein. 

Geleakte Informationen über die Entlassungen von Nagelsmann und jüngst von Kahn und Salihamidžić tragen zu diesem Bild ebenso bei, wie die generell unglückliche Kommunikation.  

Offene Führungsfragen

Jan-Christian Dreesen folgt unmittelbar auf Oliver Kahn und hat die Chance, den Verein intern wieder zu befrieden. Als amtierendes Vorstandsmitglied sollte er eine “Plug and Play”-Lösung sein. 

Anders sieht es in der Abteilung Sport aus. Ein Nachfolger für Hasan Salihamidžić wird noch gesucht. Dabei wartet viel Arbeit auf die Transferabteilung. Cancelos Leihe läuft ab. Die Zukunft von Pavard und Hernández ist unklar. Der FC Bayern plant die Verpflichtung eines Mittelstürmers. Wunschlisten dürften bereits erstellt, Spieler bewertet und Gespräche geführt worden sein. Eine zu lange Vakanz der Rolle könnte Transfers gefährden oder dazu führen, strategisch wichtige Transfers zu tätigen, bevor ein neuer Sportvorstand eingestellt ist. Beides keine Wunschszenarien. 

Bisher ohne personelle Einschläge kam der Aufsichtsrat aus. Zu Recht? Auch die Rolle des Gremiums wirkt zumindest in Teilen fragwürdig. Bei der Trennung von Oliver Kahn macht niemand eine gute Figur. Die Trennung von Hasan Salihamidžić verlief zwar relativ harmonisch. Doch in der Sache wirkt der Aufsichtsrat hier nicht stringent. Erst Ende August wurde der Vertrag mit Salihamidžić um drei Jahre verlängert. Hainer lobte den Bosnier überschwänglich für seine bisherige Arbeit und insbesondere für den Transfersommer 2022. Reicht eine Saison – ohne Frage eine enttäuschende, für die Salihamidžić eine große Mitverantwortung trägt -, um das vorher sehr positive Urteil von fünf Jahren zu revidieren? Oder war bereits die Vertragsverlängerung im August eine Fehleinschätzung des Aufsichtsrats? Oder waren bereits die Einstellungen von Kahn und Salihamidžić die eigentlichen Fehler? 

Die Philosophie von Uli Hoeneß, die Vereinsführung vorrangig mit Ex-Bayernspielern zu besetzen, kann nach den Freistellungen von Kahn und Salihamidžić nicht länger oberste Doktrin des FC Bayern bleiben. 



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