Leroy Sané in der Analyse: Von diesen Stärken profitiert der FC Bayern

Louisa Trenner 02.03.2022

Sanés positive Entwicklung ist in den vergangenen Wochen nicht zum ersten Mal Thema. In der Hinrunde wurde er von der Miasanrot-Redaktion mehrfach als Spieler des Monats ausgezeichnet – völlig zu Recht. In der Berichterstattung wurden vor allem folgende Aspekte seiner Entwicklung thematisiert:

  • Sein Positionswechsel vom Flügel in den linken offensiven Halbraum
  • Seine stark verbesserte Defensivarbeit

Der Positionswechsel scheint ein „Knotenöffner“ gewesen zu sein. Durch die Zentrumsnähe stieg Sanés Anzahl an Ballkontakten und seine Einbindung ins Spiel gelang immer besser. Die Halbraum-Position wirkt sich zudem auf seine Defensivarbeit aus, da er kürzere Gegenpressing-Wege hat, erklärte Nagelsmann nach dem Spiel gegen Benfica Lissabon.

In Kombination mit seiner Antrittsschnelligkeit auf den ersten Metern gelingen ihm regelmäßig Ballgewinne. Insgesamt lässt die veränderte Position mehr Erfolgserlebnisse für ihn zu. Die braucht er, um Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten zu fassen. Mehr Aktionen, bessere Einbindung ins Spiel, mehr (Chancen auf) Erfolgserlebnisse, stärkeres Selbstvertrauen. Soweit die bis dato aufgegangene Rechnung von Julian Nagelsmann.

Doch schauen wir genauer hin. Welche individuellen Fähigkeiten, die in der vergangenen Saison allenfalls aufblitzten, hat der „Knotenöffner Positionswechsel“ so deutlich zum Vorschein gebracht? 

Tempokontrolle

Es ist kaum zu übersehen, dass Sané (vor allem auf den ersten Metern) sehr schnell ist. Seine Explosivität und Antrittsschnelligkeit wurden medial häufig thematisiert, dabei gehört er nicht einmal zu den zehn schnellsten Spielern der Bundesliga. Zugegeben, weit weg von den Spitzengeschwindigkeiten ist er nicht, aber dennoch: Es gibt genug andere Spieler, die ähnliche Schnelligkeitswerte auf den Rasen bringen.

 Was Sané jedoch außergewöhnlich gut kann, sind Tempowechsel im richtigen Moment. Durch das sehr gute Timing für einen Antritt, ist er seinen Gegenspielern den oft erwähnten “entscheidenden Schritt” voraus. Manchmal startet er explosiv aus dem Traben heraus, manchmal bewegt er sich bereits im vermeintlich höchsten Tempo, schafft es dann aber, durch kurze Abstoppbewegungen und sofortiges erneutes Beschleunigen, Gegenspieler abzuschütteln.

Diese Fähigkeit nutzt Sané häufig für Give-and-Go-Situationen: Er spielt den Ball ab und startet sofort in den gefährlichen Raum (oft in die Tiefe), um eine Anschlussaktion für sich selbst einzuleiten. Eine Beispielszene hierfür ist der Assist zum 4:0 am 3. Spieltag gegen Hertha BSC (ab 3:48).

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Nicht nur Sané selbst profitiert von seinen gezielt eingesetzten Tempowechseln und Tiefenläufen. Seine Laufwege suggerieren Gegenspielern „Gefahr im Verzug“, weshalb sie die Wege oft mitmachen. Das führt wiederum dazu, dass er mit seinen explosiven Antritten neben der Einleitung eigener gefährlicher Ballaktionen immer wieder Raum für Mitspieler freizieht. 

Durch sein Gespür für Tempowechsel ist Sané mittlerweile eine Art Motor für das Spiel der Bayern geworden. Wie wichtig seine punktgenauen Tempowechsel inzwischen sind, zeigt sich gerade in Situationen, in denen er sie nicht einsetzt.

Laufwege, Finten und Täuschungsmanöver

Ebenso, wie er seine Tempowechsel im genau richtigen Moment einsetzen kann, ist Sané in der Lage, sich zum richtigen Zeitpunkt aus dem Deckungsschatten seines Gegenspielers zu lösen. Er wartet so lange damit, seine (Körper-)Position anzupassen, bis er sich damit einen tatsächlichen Zeitvorteil verschafft. Das gelingt ihm häufig durch minimale Auftaktfinten: Er deutet eine kurze Gegenbewegung oder Drehung an, die in Realgeschwindigkeit manchmal gar nicht zu erkennen ist, die ihm aber den zeitlichen Vorsprung verschaffen, um sich vom Gegenspieler zu lösen. 

Zu Sanés weiteren regelmäßig eingesetzten Täuschungsmanövern zählen kurze, kaum wahrnehmbare Bewegungen – oft reicht ein „Zucken“ mit dem Fuß, um Gegenspieler auf eine falsche Fährte zu locken. Diese feinen Bewegungen sind häufig erst in der Zeitlupe erkennbar – ein gutes Beispiel ist der Assist zum 4:0 in Köln am 19. Spieltag (ab 8:30).

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Wichtig sind auch seine Pässe über den Standfuß, die er immer wieder bei Vertikalpässen aus einer zuvor horizontalen Bewegung spielt. Er spielt diese Pässe also nicht entsprechend der Ausrichtung seines Körpers, sondern ungefähr im rechten Winkel zu seiner Laufrichtung. Für Gegenspieler bleibt das Zuspiel dadurch schwer auszurechnen, da die Pässe über den Standfuß nur schwer durch Blickrichtungen oder Körperhaltungen vorauszuahnen sind. Auch hier dient der Assist zum 4:0 im Spiel gegen Köln am 19. Spieltag als Beispiel. 

Handlungsschnelligkeit und technische Präzision

Es ist spannend anzusehen, mit welcher Selbstverständlichkeit Sané sich mit Ball bewegt. Oft scheint es, als würde er Situationen intuitiv richtig lösen. Tatsächlich bereitet er diese „Intuition“ durch häufiges und variables Umblickverhalten und eine Aufmerksamkeitslenkung auf relevante Aspekte seines Spiels (z. B. das Erkennen potenziell gefährlicher Räume) und sich daraus ergebender Antizipation vor. Er benötigt weniger Zeit, um Aktionen durchzuführen, da er bereits vorher weiß, was er als nächstes Tun möchte.

 Das bedeutet gleichzeitig, dass er in der Lage ist, aus einer Fülle von antizipierten Möglichkeiten die Wahrscheinlichsten herauszufiltern und auf Basis dieser Auswahl eine schnelle Entscheidung für eine anschließende Handlung zu treffen. Hinzu kommt bei Sané die gute Voraussetzung zur Umsetzung von Aktionen durch seine technischen und physischen Fähigkeiten.

 Die Wahrnehmung kann noch so gut, die Anschlussaktionen können noch so treffend antizipiert und die Entscheidung für eine Handlungsoption noch so schnell getroffen sein – diese Fähigkeiten nutzen wenig, wenn der Ball beim ersten Kontakt verspringt oder ein Pass ins Leere gespielt wird. 

Zudem zeigt Sané Ansätze einer sehr guten inhibitorischen Kontrolle: Er ist in der Lage, Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit zu revidieren. Wenn er erkennt, dass eine antizipierte Situation sich als nicht ein- oder zutreffend erweist, kann er seine Entscheidung in Sekundenbruchteilen anpassen und findet eine andere, zur Spielsituation passendere Lösung. Gelingt es ihm, dieses Potenzial zu einer Fähigkeit reifen zu lassen, dürfen wir auf eine stabilere und konstantere Leistung mit weniger Flüchtigkeitsfehlern gespannt sein.

Gefühl für den Raum

Sanés Blick für gefährliche Räume – bereits offene wie auch sich potenziell öffnende – hängt eng mit seiner Handlungsschnelligkeit und der Tempokontrolle zusammen. Wahllos die Tiefe anzusprinten ist selten zielführend. Deshalb bedarf es eines komplexen kognitiven Prozesses im Vorfeld einer Aktion, in der ein potenziell gefährlicher Raum zunächst wahrgenommen und erkannt wird. Sanés explosiver Antritt in Richtung gefährlicher Räume zum richtigen Zeitpunkt sowie die Ausrichtung seiner Körperposition in Vorbereitung auf eine vielversprechende Anschlussaktion sprechen für seine gute und schnelle Informationsverarbeitung und daraus folgende Antizipation.

Das ist z. B. vor dem Assist zum 0:1 gegen den VfB Stuttgart am 16. Spieltag zu erkennen. (ab 4:23):

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Süle spielt im Aufbau einen Pass auf Sané im Zentrum. Zunächst löst Sané sich im richtigen Moment aus dem Deckungsschatten seines Gegenspielers und blickt sich dann kurz vor der Ballmitnahme um. Er erkennt sofort den freigewordenen und möglicherweise freiwerdenden Raum und passt seine Körperposition noch vor der Ballmitnahme durch eine Drehung so an, dass er schnellstmöglich ins Tempo kommt und den größtmöglichen Raumgewinn erreicht. 

Im Sportstudio wird diese Aktion so kommentiert: „Wieder ist es Süle mit einem klugen Ball auf Sané und der hat plötzlich viel Platz in der Mitte“. Diesen Platz hat er jedoch nicht „plötzlich“, sondern er bereitet ihn durch sein Umblickverhalten, die sofortige Verarbeitung des sich öffnenden, gefährlichen Raumes und die dahingehend angepasste Körperposition für die Anschlussaktion optimal vor.

Auch Sanés Tor zum 1:0 gegen Eintracht Frankfurt am 24. Spieltag ging sein Gespür für gefährliche Räume voraus (ab 6:15 min).

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Entscheidend für sein achtes Saisontor war das frühe Erkennen des potenziell gefährlichen Raumes zwischen da Costa und Tuta. Als Musiala im rechten Halbraum den Ball erhält, erkennt Sané diesen Raum bereits und signalisiert das, indem er den Arm hebt. 

Die Fähigkeit, gefährliche Räume früh zu erkennen, kommt Sané auch in Defensivsituationen zugute. Er ist dadurch inzwischen ein wichtiger Faktor zur Entschärfung von Kontersituationen. Es ist also nicht nur sein Anlauftempo im Gegenpressing, das immer wieder entscheidend für Ballgewinne der Bayern ist, sondern auch und vor allem die Antizipation gefährlicher Aktionen des Gegners mit vorausgehender Wahrnehmung (potenziell) gefährlicher Räume.

Arjen Robben 2.0? Sanés eigener Signature-Move

Lange wurde Sané als Nachfolger von Arjen Robben gehandelt. Es schien von ihm erwartet zu werden, seinen starken linken Fuß ähnlich wie Robben einzusetzen und von der rechten Außenbahn kommend nach innen zu ziehen, um von dort zum Abschluss zu kommen. Diese Rechnung ging nicht wie geplant auf.

Seine aktuelle Entwicklung ist aber sogar besser zu bewerten, denn zu Sanés Potenzialentfaltung unter Julian Nagelsmann gehörte auch die Schärfung seines eigenen Signature Moves. Sané muss nicht von der Außenbahn nach innen ziehen, um sich eine gute Abschlussposition zu verschaffen.

Er braucht nicht viel Zeit, um seine Umgebung (die eigene Position auf dem Spielfeld, die nächsten Gegenspieler, das Tor, die Position des Torspielers,…) wahrzunehmen, zu verarbeiten und in Anschlussaktionen umzusetzen. Zudem benötigt er wenig Anlauf für einen Torabschluss mit Wucht. Eine für ihn günstige Abschlussposition kann er sich entsprechend auch auf engstem Raum und mit hohem Gegnerdruck verschaffen.

In Strafraumnähe reicht ihm ein freier Fuß. Oft geht er deshalb in der Nähe der Strafraumkante in ein 1-gegen-1-Duell, bei dem er sich mit blitzschnellen Körpertäuschungen und kurzen Haken einen minimalen Zeitvorteil für einen Abschluss mit seinem starken linken Fuß verschafft. Er muss seinen Gegenspieler für einen vielversprechenden Abschluss nicht abschütteln, es reicht, wenn dieser nicht mehr in der Lage ist, seinen Schuss zu blocken. Das 1:0 gegen Bielefeld am 13. Spieltag ist ein gutes Beispiel dafür. Man kann dann doch eine Ähnlichkeit zu Robben erkennen: Auch wenn Sanés Signature Move den Gegenspielern mittlerweile bekannt sein dürfte, ist er unglaublich schwer zu verteidigen. 

Leroy Sanés Klasse in zehn Sekunden

In knapp 10 Sekunden können wir in folgender Szene eine ganze Bandbreite der individuellen Fähigkeiten Sanés erkennen (ab 7:35).

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Mit dem Pass auf Müller erkennt Sané im richtigen Moment den freien und gefährlichen Raum hinter Müller und zwischen den Linien, weil er sich frühzeitig umschaut. Sofort beschleunigt Sané und steuert diesen Raum gezielt an. Sein Laufweg ist hierbei handlungsleitend für Müller. Nach dem ersten Ballkontakt drosselt Sané sein Tempo kurz, um anschließend durch sofortiges Beschleunigen am Gegenspieler vorbeizuziehen. In diesem Moment verpasst er die Möglichkeit, den Ball durch die offene Lücke auf Gnabry zu spielen.

Er hat keine erfolgversprechende Anspielstation mehr und muss eine neue Lösung für die veränderte Spielsituation finden. Durch ein kurzes Zucken mit dem Fuß und einen Haken in hohem Tempo legt er sich den Ball in eine für ihn günstige Position auf seinen starken linken Fuß. Er erkennt jedoch, dass ein eigener Abschluss nicht zielführend ist, da er von vier Gegenspielern umringt ist und keinen freien Fuß hat. Stattdessen dribbelt er kurz horizontal an, bindet die Gegenspieler und entscheidet sich für einen Pass über den Standfuß auf Lewandowski, der zum 4:0 vollendet.

Long story short: Sané trifft in sehr kurzer Zeit sehr viele richtige Entscheidungen, weil er kognitive mit technischen Fähigkeiten vereint. 

Anhand dieses Assists wird deutlich, dass erst in der Verbindung der verschiedenen individuellen Fähigkeiten Sanés gesamtes Potenzial zu finden ist. Er bringt vor allem eine wunderbar ineinandergreifende Kombination aus kognitiven Fähigkeiten und motorischer Ausführung mit. Dies führt immer wieder zu beeindruckend schnell, vermeintlich intuitiv umgesetzten, perfekt getimten Pässen, Laufwegen oder Dribblings. 

Dieser Text legt einen bewussten Fokus auf individuelle Details der verschiedenen Fähigkeiten Sanés. Er ist keineswegs ein “fertiger” Spieler, sondern befindet sich seit dem “Knotenöffner Positionswechsel” in einer stetigen Entwicklung. Sané bringt viele Fähigkeiten mit, die er jedoch noch nicht konstant genug einsetzt. Zu häufig unterlaufen ihm einfache Fehlpässe, trifft er in wichtigen Momenten falsche Entscheidungen. Trotzdem zeigen Momente wie der oben beschriebene, welch riesiges Potenzial in ihm schlummert. Wir können gespannt sein, ob und wie es ihm gelingt, seine bereits vorhandenen Fähigkeiten zu stabilisieren und seine Potenziale zu Fähigkeiten auszubauen.