Kroos Abgang oder das Scheitern einer Idee

Steffen Trenner 08.07.2014

Dabei ist Kroos nicht gescheitert in München. Vier Jahre in Folge machte der Mittelfeldspieler um die 30 Spiele in der Bundesliga. Er stand 2012 als Stammspieler in seiner bisher besten Saison im Champions League-Finale. Er darf sich mit Fug und Recht Champions League-Sieger nennen obwohl er die entscheidende Phase der Saison 2012/2013 verletzungsbedingt verpasste. Kroos wird für immer mit einer der erfolgreichsten Mannschaften in der Geschichte des FC Bayern verknüpft bleiben – und doch wird er nicht geliebt. Er wird von vielen Fans respektiert für seine nahezu perfekte Technik, seine herausragenden Ballmitnahmen, seine Passsicherheit und (alle paar Monate mal) auch für seine gefährlichen Fernschüsse. Und trotzdem blieb so oft das Gefühl, dass von ihm mehr kommen könnte. Dass er ein Spiel an sich reißen und entscheiden können muss, gerade weil er die angesprochenen Fähigkeiten besitzt.

Ganz Unbegründet ist dieses Gefühl sicher nicht. Kroos hat vor allem durch seine manchmal teilnahmslose aber in jedem Fall wenig emotionale Körpersprache viel zu dieser Bewertung beigetragen. Ich habe nie viel von der Führungsspieler-Diskussion gehalten, aber ich ertappte mich in der Vergangenheit nicht nur einmal bei dem Gedanken wie Toni Kroos wohl aufgetreten wäre, wenn ihm Stefan Effenberg neben ihm im Mittelfeld 90 Minuten lang die Hölle heiß gemacht hätte. Fraglos täuschte der Eindruck des spielerisch genialen, aber meist nur elegant trabenden Kroos allzu häufig. Seine Lauf- und Sprintleistungen waren fast nie zu beanstanden. Selbst gegen den Ball verbesserte sich Kroos mit zunehmender Verantwortung im Mittelfeldzentrum. Nicht unbedingt durch physische Zweikämpfe und Ballgewinne, aber durchaus mit passablem Timing im Pressing und der Fähigkeit lose Bälle aufzusammeln und Gegenangriffe zu starten.

Es ist aber auch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Kroos gerade in seiner Anfangszeit in München meist dann gut war, wenn seine Mannschaft gut war. In schwierigen Phasen der Saison 2010/2011 und auch in den entscheidenden Niederlagen im Jahr darauf gegen Dortmund war Kroos häufig einer der schwächeren Münchener. Viel vergaßen damals, dass er, der zu diesem Zeitpunkt schon 4-5 Jahre Bundesliga-Erfahrung auf dem Buckel hatte, doch erst 21 war.

Die Potenzial-Falle

Ohnehin war Kroos schon zu Beginn seiner Karriere so ein wenig ein Opfer der Potenzialfalle. Es war so in der Saison 2006/2007 als das erste Mal über ihn geraunt wurde im Umfeld des Rekordmeisters. Da komme ja noch einer aus der Jugend, der ist noch viel besser als die Schweinsteigers und Lahms. Selbst gestandene Profis wie Mehmet Scholl und Oliver Kahn ließen sich öffentlich zu Lobpreisungen hinreißen. „Das Beste, was ich seit Jahren im Nachwuchsbereich gesehen habe“, sagte Kahn wohl damals über Kroos. Solche Sätze bleiben hängen. Als Zé Roberto nach dem Abgang von Roy Makaay bei den Bayern-Verantwortlichen anklopfte, ob er die prestigeträchtige Rückennummer 10 übernehmen könne, gab es ein Nein. Die sei schon mal für den damals 16-Jährigen Toni Kroos reserviert. Als der gebürtige Greifswalder dann noch zum besten Spieler der U17 WM 2007 gewählt wurde war der Hype perfekt.

Es war ein Hype über einen Spieler den wohl 95 Prozent der Journalisten und Fans noch kein einziges Mal hatten spielen sehen. Manager Uli Hoeneß verschlimmerte die Situation sogar noch in dem er so oft und laut darüber sprach, dass man Kroos behutsam aufbauen und vor der Presse abschotten wolle, dass sich erst recht der Eindruck verfestigte. Da kommt ein neuer Weltstar aus der eigenen Jugend. Schon bevor Kroos sein erstes Spiel für die Münchener machte, schnappte die Potenzial-Falle zu, die zuvor schon Roque Santa-Cruz oder Sebastian Deisler in München ein wenig zum Verhängnis wurde. Hinzu kam die Fehleinschätzung, dass Spieler auch heute noch eine lineare Leistungsentwicklung haben und erst mit 27-30 auf ihrem Zenit ankommen. Das war vielleicht in den 90ern oder frühen 2000ern so. Heute erreichen viele Fußballer ihre maximale Leistungsfähigkeit schon viel früher. Die Frage ist dann eher wie lange sie diese aufrecht erhalten, konservieren und verfeinern können.

Spielte der junge Kroos also gut, hieß es häufig, dass das nur ein Vorgeschmack sein könne auf das was kommt. Wie gut muss er schließlich erst mit 25 oder 26 sein. Spielte er ordentlich oder durchschnittlich, hieß es häufig er könne sein riesiges Potenzial nicht vollständig abrufen. Diese Haltung versperrt häufig den Blick auf eine realistische Bewertung eines Spielers. Vor allem dann wenn ein Spielertyp wie Kroos nicht unbedingt durch Tore oder Assists auffällt. Als Franck Ribéry in seiner ersten Saison in München 11 Bundesligatore und 8 Vorlagen auflegte, war sichtbar, dass er ein wertvoller Spieler für den FC Bayern ist. Kroos ist nicht unbedingt ein Spieler, der regelmäßig entsprechende Statistiken vorweisen kann. Nur einmal. In seiner zweiten Saison in Leverkusen legte Kroos bemerkenswerte Zahlen auf. Zuvor hatte er weder unter Hitzfeld noch unter Klinsmann die Spielanteile bekommen, die seiner Entwicklung zuträglich gewesen wären.

Durchbruch unter Heynckes

9 Tore und 10 Vorlagen standen für Kroos nach leichten Anlaufschwierigkeiten in Leverkusen in der Saison 2009/2010 zu Buche. Es ist kein Zufall, dass diese Spielzeit fortan als Referenzpunkt für Kroos Leistungsfähigkeit galt. Endlich wurde sein Wert sichtbar. Dass unter den Toren und Vorlagen viele Standardsituationen und/oder Fernschüsse waren blieb eine Randnotiz. Kroos spielte unter Heynckes in Leverkusen im 4-4-2 mit flacher 4 im Mittelfeld meist auf der linken Außenbahn. Kroos hatte viele Freiheiten. Er konnte auf der Außenbahn als Passstation agieren, mit seinem starken Fuß nach innen ziehen und relativ frei immer wieder den 10er Raum besetzen. An die Zahlen seiner zweiten Leverkusener Saison kam er nicht wieder heran. Als er nach seiner Ausleihe nach München zurückkehrte musste er sich umstellen. Hier spielte er zunächst im statischen van Gaal-System auf der 10 oder der 6. Die Räume waren enger. Die Gegner standen tiefer. Kroos sollte von der 10 ein kreatives Element sein. Unter van Gaal gelang ihm das selten. Unter Heynckes in der Saison 2011/2012 schon eher. 10 Vorlagen gab Kroos in der unvollendeten Spielzeit 2011/2012 in der Bundesliga. Auch in der Champions League hatte der inzwischen 22-Jährige nennenswerten Anteil am Finaleinzug. 2 Tore und 6 Torvorlagen steuerte er in dieser Champions League-Saison bei. Im Halbfinale scheiterte er, der so eine tolle Schusstechnik besitzt im Elfmeterschießen an Iker Casillas. Im Finale gegen Chelsea trat er nicht an. Er wollte nicht. „Es ist natürlich immer gut, wenn einer antritt, der unbelasteter ist, als wenn man selbst einmal und gerade erst kurz zuvor verschossen hat“, sagte Kroos damals. Es war auch für ihn ein Tiefpunkt.

In der historischen Saison 2012/2013 verpasste er nach gutem Saisonstart die komplette Endphase der Saison nach einer Muskelverletzung. Als ein Jahr später Guardiola kam, definierte sich Kroos endgültig neu. Als er 18 war – so im Jahr 2007 da war er durchaus von der Veranlagung ein klassischer 10er. Ein Spieler, der mit vielen Freiheiten ausgestattet durch geniale Momente ein Spiel entscheiden konnte. Einer für den tödlichen Pass. Im Jahr 2014 gibt es diesen Spielertypen nicht mehr wirklich. Das Spiel hat sich verändert. Freiheiten gibt es gerade im Zehnerraum kaum noch. Heute spielen auf der 10 meist kleine wendige Spieler, die das Dribbling und den kleinen Kurzpass in den Strafraum beherrschen und gleichzeitig als Flügelspieler agieren können. Kroos ist nicht unbedingt ein solcher Spieler. Er schlägt nach wie vor gute Standards. Er ist extrem passsicher, seine Ballverarbeitung ist eine Augenweide. Seine langen Diagonalbälle können ein Spiel aufreißen. Er ist der Mann für den vorletzten Pass geworden. Kroos kann eine funktionierende Mittelfeldzentrale gut ergänzen. Er hat jetzt drei gute Saisons bei Bayern hinter sich. Die Potenzial-Falle schnappt nur noch selten zu. Er ist heute angekommen auf internationalem Top-Niveau – das hat er auch über weite Strecken der WM 2014 gezeigt. Das gilt es bei aller Kritik im Detail festzuhalten.

Schmerzgrenze nicht verschoben

Für Kroos stellte sich mit Auslaufen seines Vertrags im Jahr 2015 eine Richtungsfrage. Verlängerung in München oder Sprung ins Ausland. Natürlich wird er registriert haben in welchen Gehaltsregionen Spieler wie Mario Götze, Thomas Müller oder Philipp Lahm vorgedrungen sind. Der FC Bayern und auch Pep Guardiola wollten grundsätzlich mit Kroos verlängern. Das haben alle Seiten immer wieder deutlich gemacht. Kroos und seine Berater wollten offenbar mehr. Mehr Gehalt, mehr Einfluss, mehr Anerkennung. Was auch immer. Der FC Bayern war nicht bereit für ihn die Schmerzgrenze zu verschieben. Und das hat Gründe. Kroos ist trotz seiner Qualitäten bis heute keiner, der enge Spiele an sich reißt und regelmäßig den Unterschied ausmacht. Das Pokalfinale 2014 ist da in der Gesamtbetrachtung eher ein Einzelfall. Müller, Lahm, Ribéry, Schweinsteiger, Robben haben immer wieder bewiesen, dass sie den Unterschied ausmachen können. Von Götze wird das zumindest in den kommenden Jahren erwartet. Gleiches gilt für Thiago. All das spiegelt sich im Gehalt wieder. Kroos ist vielleicht so etwas wie der ideale fünftbeste Spieler einer Mannschaft. Es braucht Andere, die Spiele entscheiden. Kroos ist derjenige, der den Boden bereitet, der durch geschickte kleine Aktionen Spieler in Szene setzt, der Balance gibt und der durch seine Ballsicherheit dafür sorgt, dass der Ball selten verloren geht. Einer, der dabei hilft Struktur zu geben. Das kann er.

Die Zeit von Toni Kroos beim FC Bayern, die in jungen Jahren so romantisch verklärt und voller Vorfreude auf einen besonderen Spieler begonnen hat, geht zu Ende. Von Romantik ist dabei nicht mehr viel übrig. Es ging am Ende um eine Güterabwägung. Um Geld. Um Gehaltsstrukturen. Der Entschluss des FC Bayern bei Kroos anders als bei Anderen nicht bis zum Äußersten zu gehen, ist wie dargestellt gut begründet. Am Ende reizte Kroos, der nicht so stark im Verein verwurzelt ist wie Schweinsteiger, Lahm oder Müller wohl auch der Schritt zum sagenumwobenen Club aus der spanischen Hauptstadt.

Højbjergs Chancen steigen

Der FC Bayern verliert einen sehr guten Fußballer, der wohl auch in Madrid gut zurechtkommen wird. Kroos kann so den Neustart-Button drücken. Er wird als der Spieler geholt, der er ist. Nicht als der, der er mal irgendwann zu sein verspricht. Vielleicht belehrt er viele dort auch eines Besseren. Toni Kroos ist nicht gescheitert in München. Gescheitert ist die Idee aus dem Jahr 2007, dass da einer aus der Jugend kommt, der Dinge kann, die noch niemand gesehen hat. Einer, der im Trikot des FC Bayern zum Weltstar wird. Einer wie Zidane oder später Messi. Einer, der den Verein ein Jahrzehnt lang prägt. Vielleicht war genau diese Idee vom Anfang das Problem, das bis heute eine nüchterne Betrachtung der Stärken und Schwächen von Toni Kroos erschwert.

Ich hätte die Entwicklung des Spielers Toni Kroos, den ich perspektivisch eher als 6er sehe, gern weiter aus nächster Nähe beobachtet. Nach seinem Abgang könnte beim FC Bayern wieder ein 18-Jähriger stärker in den Mittelpunkt rücken. Pierre Emile Højbjerg könnte einen nennenswerten Anteil der Kroos-Minuten übernehmen. Auch von ihm wird in Zukunft Großes erwartet. Auch er wird sich mit der schwierigen Balance aus Erwartungen und realistischem Leistungsvermögen auseinandersetzen müssen. Die Rückennummer 10 hat dem Vernehmen nach bisher keiner für ihn reserviert. Und das ist auch besser so.