Gegentoranalyse: So entstand das zweite Tor der Ungarn

Justin Trenner 25.06.2021

In letzter Konsequenz war Leroy Sané der Gegenspieler, der nur noch dabei zusehen kann, wie András Schäfer zum 2:1 für die Ungarn einköpft. Die Leistung des Flügelspielers, sie war ohnehin schon sehr unglücklich, wenn man es wohlwollend formulieren möchte und so war für viele nach der Partie klar: Auch das 1:2 geht auf seine Kappe.

Wenn man sich den ganzen Hergang des Tores aber nochmal ansieht, dann wird viel mehr klar: Diese Mannschaft hat immer wieder mit Abstimmungsproblemen zu kämpfen. Und das in allen Bereichen.

Also machen wir das doch mal. Schauen wir uns das Tor nochmal an und analysieren Schritt für Schritt, was die DFB-Elf besser hätte machen können. In dieser Wiederholung (ab 5:43) lässt sich alles sehr gut nachvollziehen:

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Vorab: Bitte verzeiht uns, dass nicht jeder Spieler in unseren folgenden Grafiken exakt an der richtigen Stelle steht. Es ist nur eine Rekonstruktion des Hergangs, um anschaulicher darzustellen, wo Fehler gemacht wurden.

Die Ausgangslage ist nach dem Ausgleich der Deutschen klar: Ungarn hat nach dem Gegentreffer Anstoß. Deutschland hatte gerade gewechselt und Müller sowie Werner für Havertz und Gnabry gebracht. Die Formation ist nach wie vor das 3-4-3 mit leichten personellen Anpassungen im Vergleich zur ersten Halbzeit. Sané spielt für Kimmich rechts, der ist nun im Zentrum und Goretzka übernimmt eine Offensivrolle.

Ungarn spielt den Ball zunächst auf den linken Halbverteidiger, der sofort querlegt auf den rechten Halbverteidiger. Deutschland versucht, sofort wieder druckvoll nach vorn zu schieben. Die Staffelung ist soweit ok, wenngleich hier bereits deutlich wird, woran das deutsche Pressing schon in der gesamten Partie zuvor krankte. Sie bekommen keinen wirklichen Druck auf den Ball. Zwar sind sechs Deutsche in Ungarns Hälfte oder knapp hinter der Mittellinie, aber obwohl Werner und Müller durchaus im Sprint anziehen, gelingt es nicht, den langen Ball zu verhindern. Vielleicht gibt es hier auch schon ein erstes Missverständnis. Durchaus möglich, dass die frischen Angreifer sofort Druck machen wollen, während die Spieler hinter ihnen direkt nach dem Treffer erstmal absichern. Hier gibt es aber Interpretationsspielraum, weil nur wenige Sekunden zwischen den beiden Pässen vergehen. Fakt ist: Die vertikalen Abstände sind recht groß.

Als Fehler kann man das alles noch nicht bezeichnen, aber es ist unvorteilhaft, dass zwei Spieler druckvoll pressen, während dahinter alle anderen Spieler recht unterschiedlich handeln. Als sich der lange Ball andeutet, machen die drei Innenverteidiger Schritte zurück, was ein ganz normaler Prozess ist. Hummels bereitet sich auf das Kopfballduell vor, während Rüdiger und Ginter absichern. Da sich Goretzka, Kroos und auch Kimmich wenige Augenblicke zuvor aber nach vorn orientieren, entsteht kurzzeitig ein kleines Loch zwischen der Dreierkette und den Mittelfeldspielern.

Hummels gewinnt das Kopfballduell, kann aber nicht kontrolliert klären. Jetzt beginnen die ersten Bewegungen, die man schon als Fehler bezeichnen kann. Hummels und Ginter orientieren sich wieder nach vorn, um hinter Kimmich nachzuschieben, Rüdiger bleibt aber stehen. Die Staffelung der Dreierkette ist damit durcheinandergebracht. Zwar ist das nicht entscheidend, aber auch Kroos und Goretzka hätten sich hier etwas tiefer und zentraler orientieren können, dürften aber nicht damit rechnen, dass diese Unterzahlsituation gefährlich werden könnte. Eine Interpretation der recht unterschiedlichen Handlungsweisen könnte sein, dass es in diesem Fall zu wenig Kommandos gibt und/oder es keine einstudierten gruppentaktischen Handlungsmuster für solche Situationen gibt, auf die die Spieler zurückgreifen können. Es scheint so, dass jeder Spieler intuitiv für sich handelt.

Hätte Rüdiger mit rausgeschoben, könnte die deutsche Hintermannschaft jetzt druckvoller nachschieben. Auch Ginter und Hummels füllen den Raum hinter Kimmich aber nicht richtig auf. Der Zwischenraum wird größer und Ádam Szalai kann sich dort in Position bringen. Kimmich kommt beim Pressing einen Schritt zu spät und wird überspielt. Kroos und Goretzka bleiben eher passiv als aktiv. Gerade Kroos hätte vielleicht noch eingreifen können, Goretzka ist vermutlich eh schon zu weit weg. Das Kernproblem bleibt aber die Abstimmung in der Dreierkette. Rüdiger hat immer noch keine Bewegung nach vorn gemacht, Ginter und Hummels nehmen erstmal Tempo heraus.

Dass bei Rüdiger so viel Zeit vergeht, bis er eine Entscheidung trifft, spricht für die These, dass er nicht auf ein bereits mehrfach trainiertes und durchdachtes Handlungsmuster zurückgreifen kann, sondern selbst erst nach einer Lösung sucht. Nicht zu vergessen: Zwischen all diesen Momenten vergehen mitunter nur Bruchteile einer Sekunde. Aber es zeigt anschaulich, wie wichtig es für Trainer ist, den Spielern für möglichst viele Spielsituationen Lösungswege an die Hand zu geben – das, was gern als Automatismus bezeichnet wird. Es kann selbstverständlich auch sein, dass Rüdiger und seine Mitspieler das haben, es in diesem Moment aber einfach an Konzentration und Aufmerksamkeit mangelt, oder der Ernst der Situation unterschätzt wird, weil sie in klarer Überzahl verteidigen.

Erst als Ginter erkennt, dass der Ball zu Szalai weitergespielt wird, nimmt er richtig Tempo auf. Hummels wiederum orientiert sich bereits in die gegenläufige Richtung, weil er sieht, dass der Gegenspieler von Sané durchstartet. Sané nimmt ebenfalls das Tempo auf und macht prinzipiell noch nichts falsch. Szalai kann den Ball im Zwischenlinienraum kurz kontrollieren und dann über den heranstürmenden Ginter hinweg in die Tiefe spielen. Sané verliert das Laufduell, auch Hummels kommt zu spät. Und Rüdiger? Der ist komplett abgemeldet. Auf Abseits hätten sie in dieser Situation nicht spielen können, aber ein aggressiveres Herausrücken aller drei Verteidiger hätte womöglich den Pass von Szalai verhindern können.

Dass Sané das Laufduell verliert und nicht mehr eingreifen kann, ist angesichts der Abstimmungsprobleme der drei Innenverteidiger nur eine Randnotiz. Zumal Sané ganz bewusst von Löw in der Halbzeit auf die Wingback-Position des 3-4-3 gestellt wurde, um dort in der Offensive Durchschlagskraft zu erzeugen. Das defensive Risiko wurde also in Kauf genommen. Seine primäre Aufgabe war nicht das Verteidigen, sondern das Angreifen. Die Hintermannschaft muss das wissen und sich dementsprechend auch aufstellen. Auch Manuel Neuer muss sich den Gegentreffer mehr ankreiden als Sané. Zwar ist er das Ende der Fehlerkette, aber kommt er nicht heraus, kann er den Schuss viel eher parieren oder Schäfer kommt vielleicht gar nicht erst zum Abschluss, weil er den springenden Ball nicht rechtzeitig kontrolliert bekommt.

Was hätte anders laufen können?

  • Aggressiveres Herausschieben der ganzen Mannschaft beginnend mit dem Anstoß – vertikale Abstände waren seit dem langen Ball zu groß
  • ENTWEDER: Gemeinsames Herausschieben der Dreierkette nach Hummels‘ Kopfball
  • ODER: Gemeinsames Fallenlassen, um den Tiefenlauf aufzufangen, den sie aber anscheinend nicht antizipiert haben
  • Schnellere und aktivere Rückwärtsbewegung der Offensiv- und Mittelfeldspieler
  • Neuer hätte angesichts des für Schäfer schwer zu kontrollierenden Balls abwartender agieren können
  • Sané hätte vor dem Strafraum mehr Körperkontakt zum durchstartenden Schäfer aufnehmen können, ist aber halt kein klassischer Außenverteidiger

Das Gegentor ist im Detail und auch oberflächlich betrachtet ein Teil des Problems, das die Deutschen bei diesem Turnier haben: Weil vor der Europameisterschaft lange nicht klar war, welchen Fußball Joachim Löw mit welcher Mannschaft spielen lassen möchte, erfolgte die Zusammenstellung des Kaders erst sehr spät. Dadurch scheint es den Spielern an Automatismen zu fehlen, die das Handeln in komplizierten Situationen auf eine intuitive Entscheidungsebene verlagern. Aufgrund der hohen individuellen Qualität der Spieler geht das oft gut. In einigen Situationen aber eben nicht.