Die große Überraschung in Europa

Maurice Trenner 20.10.2020

Die Abgänge von Star-Center Greg Monroe und den deutschen Leistungsträgern Danilo Barthel und Maodo Lo wogen zu schwer, war die einhellige Meinung. Zumal die Neuzugänge auf europäischem Top-Level noch nicht groß in Erscheinung getreten waren.

„Neu-Coach Trinchieri ist die einzige Hoffnung“, twitterte ein spanischer Kollege vor Saisonstart. Trinchieri ist ein Perfektionist, er legt größten Wert auf Details. Jeder Spielzug, jede Defensivsequenz ist bis auf den letzten Zentimeter ausgetüftelt. 

Obwohl das System des Italieners derart komplex ist, sind die ersten Ergebnisse bereits sichtbar. Die Bayern sind keineswegs Kanonenfutter in Europas Königsklasse: Nach einer bitteren Heimpleite nach Verlängerung zum Auftakt gegen Mailand folgten drei Auswärtssiege in Serie: beim nationalen Rivalen in Berlin, bei den Spitzenteams von Maccabi Tel Aviv und Fenerbahçe Istanbul. Damit hätten wohl selbst die kühnsten Optimisten im Münchner Lager nicht gerechnet.

Dabei wurde bei den Siegen die Handschrift Trinchieris mehr als sichtbar. „Unsere DNA ist die Verteidigung“, sagt der Italiener, der seiner Mannschaft binnen weniger Wochen ein variables Defensivkonzept eingeimpft hat, das die besten Mannschaften des Kontinents vor Herausforderungen stellt. Keinem Gegner gestattete man bislang mehr als 82 Zähler. 

Die Neuzugänge Wade Baldwin und Nick Weiler-Babb können Gegenspieler auf verschiedenen Positionen vor sich halten, genau wie Jalen Reynolds oder Leon Radošević, die eigentlich auf der Center-Position beheimatet sind. Die Switch-Verteidigung stellte schon viele Teams vor erhebliche Probleme.

Umso wichtiger: Neben dem System und den Ergebnissen stimmt auch der Einsatz. Die Mannschaft spielt ihr Spiel, glaubt an den Plan des Trainers. „Keep going and trust the process“, wiederholte Vize-Kapitän Vladimir  Lučić fast gebetsmühlenartig. Beim Gastspiel am Bosporus lagen die Bayern in der ersten Halbzeit zwischenzeitlich mit 21 Punkten im Hintertreffen. Nichts ging. Vergangene Saison gab es solche Auswärtsauftritte zuhauf. Damals fiel die Mannschaft oft auseinander, ließ die Köpfe hängen und kassierte Schlappen mit mehr als 30 Punkten. Diesmal nicht: Es wurde gekämpft, freien Bällen hinterher gehechtet, einfach nie aufgehört zu spielen. Und letztlich gewonnen.

Die unsäglichen Auswärtsauftritte scheinen der Vergangenheit anzugehören. Trinchieris Bayern sind die positive Überraschung der ersten EuroLeague-Spieltage. Auch wenn die aktuelle Tabellensituation (wahrscheinlich) nur eine schöne Momentaufnahme ist, zeigt sie eindrucksvoll: Bayern hat unter Trinchieri ein anderes Gesicht. Geht man den Weg des Italieners weiter, sollte man mit den letzten Tabellenplätzen voraussichtlich nichts zu tun haben.

In der Bundesliga, die Anfang November starten soll, ist man erster Herausforderer von Double-Gewinner ALBA Berlin. Mit Trinchieri an der Seitenlinie soll der Titel unbedingt wieder in den Süden wandern.