EM-Blog: Löw Scoring Game
Eine 0:1-Niederlage gegen den amtierenden Weltmeister und den absoluten Top-Favoriten dieses Turniers klingt erstmal gar nicht so schlecht, bedenkt man, mit welchen Erwartungen viele Beobachter:innen der deutschen Nationalmannschaft in dieses Turnier gegangen sind.
Und tatsächlich: Schlecht war die Leistung keinesfalls. Joachim Löw hatte sich einen Matchplan zurechtgelegt, über den standesgemäß zwar diskutiert wurde, der aber in den meisten Phasen der Partie besser funktionierte, als viele dachten. Am Ende fehlt aber trotzdem zu viel, um von einer starken Leistung oder gar Augenhöhe zu sprechen.
Ein Eigentor von Mats Hummels war es letztendlich, das Frankreich in die Karten spielte und den Favoriten auf Kurs brachte. Deutschland fehlte es vor allem an offensiver Durchschlagskraft, um nochmal zurück in die Partie zu finden. Zwar hatte Serge Gnabry eine gute Gelegenheit kurz nach der Pause, als er per Volley nur knapp das Tor verfehlte, aber darüber hinaus gab es nur wenige klare Chancen für die DFB-Elf.
Frankreich gegen Deutschland: Löws Matchplan geht auf und nicht
Nach einer 0:1-Niederlage ohne große eigene Torchancen davon zu sprechen, dass der Matchplan des Bundestrainers aufging, mag zunächst etwas verwunderlich sein. Gewissermaßen hängt das aber auch mit dem Status-quo beider Mannschaften zusammen. Einerseits die Franzosen, die mit viel Selbstvertrauen, einem fast schon unfair gut besetzten Kader und einer Spielidee kommen, in der sie sich in den letzten Monaten und Jahren gefunden haben. Andererseits eben die Deutschen. Ein Team, das sich weder gesucht noch gefunden hat. Eine große Unbekannte in diesem Turnier, bei der keiner so wirklich weiß, ob sie die durchaus vorhandene individuelle Qualität auf den Rasen bringen kann.
Fast schon folgerichtig priorisierte Löw deshalb die Defensive gegen Frankreich. Gegen diese Offensive wäre es womöglich eine sehr deutliche Angelegenheit geworden, hätte er auf eine Viererkette gesetzt. Zu dynamisch, zu temporeich und zu kreativ sind die Franzosen im letzten Drittel. Wirklich viel zugelassen haben die Deutschen dahingehend lange Zeit nicht. Zur Halbzeitpause war es eigentlich ein typisches 0:0-Spiel. Was die Löw-Elf besonders gut gemacht hat: Sie schob in den richtigen Augenblicken auch mal nach vorn heraus. Sie verschanzte sich nicht am eigenen Strafraum und wartete darauf, dass Frankreich sie auseinanderspielen würde, sondern sie hatten eine Grundaggressivität in ihrem Spiel, die es dem Gegner verkomplizierte.
Gerade Toni Kroos, der sonst gern für sein Defensivverhalten kritisiert wird, führte viele wichtige Zweikämpfe und gewann einige von ihnen. Auch das Gegenpressing war wirkungsvoll. Verloren die Deutschen den Ball, waren sie schnell am Gegenspieler und konnten so viele Konter im Keim ersticken. Im ersten Durchgang gab es den einen oder anderen hohen Ballgewinn, den sie schlussendlich aber nicht gut ausspielten.
Mit dem Ball: Gut und nicht
Mit dem Ball ging es vor allem darum, das Spiel zu kontrollieren und geduldig auf Angriffsmöglichkeiten zu warten. Aus einer 3-2-5-Staffelung heraus versuchte die deutsche Mannschaft, das Zentrum dynamisch zu besetzen. Löw analysierte vorab richtig, dass das Mittelfeld sehr eng sein würde, weil Frankreich eine Mannschaft ist, die mit vielen Spielern das Zentrum verteidigt. Das war natürlich auch gegen Deutschland so.
Trotzdem war es wichtig, dass die in der Grafik grün markierte Zone nicht ignoriert wurde. Immer wenn Rüdiger, Hummels oder Ginter den Ball in den grünen Bereich spielten, versuchte Frankreich zuzupacken. Dadurch zog sich die Formation zusammen. Kroos und Gündogan wurden regelmäßig von Müller, Havertz und Gnabry unterstützt, die sich in das Mittelfeld zurückbewegten, um die beiden Sechser in Position für eine Verlagerung zu bringen.
Deutschland versuchte also, Frankreichs ohnehin schon kompakte Formation noch mehr in die Spielfeldmitte zu lenken, um dann mit Verlagerungen Gosens und Kimmich freizuspielen. Bis dahin funktionierte der Matchplan auch sehr gut. Dann aber wurde es komplizierter. Frankreich hat mit Pavard und Hernández zwei Außenverteidiger, die den Leser:innen dieses Blogs bestens bekannt sein dürften. Beide verteidigen aggressiv nach vorn, sind in der Lage, schnell zu verschieben und stehen ihren Gegnern somit oftmals auf den Füßen, bevor sie den Ball richtig kontrolliert haben.
Gegen Kimmich behielt Hernández oft die Oberhand, auf der anderen Seite tat sich Pavard nur unwesentlich schwerer mit Gosens. Auf beiden Seiten kamen zu wenig Durchbrüche der deutschen Mannschaft – zumal Kimmich und Gosens eher keine Spieler sind, die Tempo aufnehmen und am Gegner vorbeigehen können. Beide kommen eher über das Kombinationsspiel. Deshalb lag es nicht nur an den beiden Flügelverteidigern, sondern auch daran, dass die Mitspieler nach der Verlagerung häufig unsauber nachrückten. Das Resultat waren letztendlich viele (Halbfeld-)Flanken, die in der Mitte nur selten Abnehmer fanden. Als Deschamps in der zweiten Halbzeit dann auf ein massiveres 4-5-1 umstellte, wurden auch die Flügelräume enger für die DFB-Elf. Vor allem jemand wie Goretzka ging dem Spiel der Deutschen sehr ab. Der Bayern-Spieler hätte mit seinen Tiefenläufen durchaus einen Unterschied in der Offensive machen können.
Auch hier gilt aber: Schlecht war die Leistung keinesfalls. Im Kontext der enormen Defensivqualität Frankreichs erspielte sich Deutschland sogar überraschend viele gute Angriffssituationen. Immer wieder gelang es ihnen, sich durch das Mittelfeld der Franzosen zu kombinieren, oder in den Halbräumen Spieler mit viel Raum in die Tiefe zu schicken. Dann aber fehlte die Anschlussaktion und so wurden die guten Ansätze eben zu selten in Zählbares umgemünzt: Nämlich Chancen und Tore. Dass der Mannschaft ein klassischer Neuner abgeht, ist kein großes Geheimnis. Gerade in dieser Partie hätte es Löw sehr geholfen, hätte er sich von Frankreich jemanden wie Benzema oder auch Giroud leihen können.
Kimmichs Rolle und der Sechserraum: Sinnvoll und nicht
Viel diskutiert wurde auch über Kimmich. Seine Rolle auf der Außenbahn ergab gegen sehr kompakte Franzosen auf dem Papier durchaus Sinn. Er bekam viele Möglichkeiten, um von außen das Spiel an sich zu reißen. Er schaffte es aber nicht. Die Gründe wurden bereits angerissen: Seine Mitspieler unterstützten ihn nicht ausreichend im Nachrück- und Verschiebeverhalten. Aber ganz so einfach ist es dann auch nicht. Er selbst erwischte keinen überragenden Tag, verlor einige Eins-gegen-eins-Duelle mit Hernández und fand keinen Weg, sich selbst aus dieser Situation herauszuhelfen. Im zweiten Durchgang versuchte er es mit einrückenden Läufen und für einen Moment konnte er Frankreich damit sogar überraschen. Aus dem Zentrum heraus zeigte er, wenn auch nur kurz, dass er aktuell der beste zentrale Mittelfeldspieler des Kaders ist.
Ist die Schlussfolgerung jetzt, dass Löw sich verzockt hat? Es ist etwas komplizierter. Für diese These spricht, dass Deutschland in einigen Situationen vor allem im Sechserraum große Verteidigungsprobleme hatte.
Eine Szene in der 15. Minute ist beispielhaft dafür. Kroos lässt sich ohne Not aus dem Mittelfeld herausziehen und auch Gosens wird ein Stück aus seiner Position herausgezogen. Im Mittelfeld schiebt sich Kanté hinter Kroos und wird zu inkonsequent von Gündogan und/oder Müller verfolgt. Griezmann bekommt außen den Ball, lässt in den nun freien Raum auf Kanté klatschen und der initiiert einen Angriff über außen, wo Pavard im Rücken von Gosens freigespielt wird. Deutschland kann für den Moment nur zusehen und verliert innerhalb von wenigen Sekunden die Kontrolle über die Situation. Die Équipe hat die sich ihr bietenden Räume vor der Abwehr des Gegners effizient ausgespielt. Selten, aber effizient.
Was Frankreich ebenfalls über die volle Distanz sehr gut gelang: Die Zwischenräume in der deutschen Dreierkette wurden meist extrem sauber besetzt. Meist durch Benzema und Mbappé, manchmal aber auch durch andere Spieler – in diesem Fall sogar Außenverteidiger Pavard. Durch die Positionierung im Zwischenraum werden alle drei Verteidiger vor Kompromisse gestellt. Manndeckung fällt schwer, weil dann die Abstände an mindestens einer Stelle horizontal zu groß werden. Auch das Herausrücken aus der Kette ist nicht möglich, weil man dann die Überzahl aufgibt. Es erfordert ein hohes Level an Abstimmung, um diese Bewegungen verteidigen zu können.
Beim Gegentor werden beide Probleme sehr gut deutlich. Beim Einwurf ist die Abstimmung der deutschen Mannschaft sehr schlecht. Rüdiger lässt sich aus der Kette ziehen, statt seinen Gegenspieler zu übergeben. Gündogan und Kroos stehen beide weit nach links verschoben und nicht direkt an einem Franzosen. Gerade weil der Einwurf nicht sonderlich schnell ausgeführt wurde, hatte die DFB-Elf genug Zeit, um die Situation zu erkennen. Stattdessen aber bleibt Rüdiger weit vorne, weshalb die restlichen Verteidiger nachrücken müssen. Auch Kimmich steht dadurch enger, als er es in einer Fünferkette eigentlich müsste.
Letztendlich wird Pogba im offenen Sechserraum freigespielt, obwohl Deutschland drei Spieler in der Nähe hat. Die suboptimale Positionierung beim Einwurf führt aber schon dazu, dass der Weg für alle zu weit ist. Gündogan hätte von Anfang an tiefer stehen müssen, Rüdiger in der Abwehrkette und auch Kroos kam zu langsam zurück. Alles andere ist dann französische Magie, die sich kaum noch aufhalten lässt. Pogba spielt Hernández links frei, der findet das Bein von Hummels. Eigentor und bereits der erste Fuß in der Tür zum Sieg. Kimmich trifft in diesem Fall keine Schuld mehr, auch wenn es so aussieht, als käme er zu spät. Das starke Einrücken ist aber aufgrund der Fehler seiner Mitspieler zwingend notwendig. Deutschland hat einfach zu spät realisiert, dass sie ungünstig stehen.
Die Frage nach der Ausrichtung
Dass Löw gegen derart schnelle und technisch starke Franzosen auf eine Fünferkette setzt, ist nicht sonderlich verwerflich. Deutschland startete solide in die Partie, machte bis zum 0:1 nur wenige Fehler und stand auch danach solide. Dass er nicht direkt nach dem Gegentreffer aufmacht, war ebenso erwartbar wie richtig. Mit einer Viererkette wäre das Risiko groß gewesen, dass Frankreich die Hintermannschaft auseinandernimmt. Da ist Löw eben Realist: Er weiß genau, dass sein Team nicht eingespielt genug ist.
Im zweiten Durchgang aber verpasste Löw den richtigen Zeitpunkt, um den Druck auf den Weltmeister zu erhöhen. Die starke Phase nach der Halbzeit verpuffte relativ schnell wieder. Löw hätte gegen Ende der Partie stärker auflösen, beispielsweise Sané für einen Verteidiger bringen können. Stattdessen wechselte er erst spät Volland für Gosens ein – und das auch noch positionsgetreu. Volland musste also am linken Flügel spielen, während Sané zentraler agierte.
Es bleibt ein Grundproblem, dass Löw für seine Spieler keine Formation findet, in der sich nahezu alle auf ihren Positionen wohlfühlen. Gündogans Rolle war nicht optimal, über Kimmich kann man aufgrund der taktischen Ausrichtung diskutieren, aber auch er spielte letztlich auf einer Position, auf der er sich weniger wohlfühlt, die Rollen der Angreifer sind nicht harmonisch aufeinander abgestimmt – da kommt dann letztendlich eben zu viel zusammen.
Ein weiteres Problem war die Rolle von Toni Kroos, der sich trotz einer Dreierkette hinter sich immer wieder sehr weit hinten positionierte. Damit nahm er dem Spiel aber Tiefe im Spiel nach vorn. Es ist typisch für Kroos, diagonal aus dem Mittelfeld herauszukippen, aber wenn er hinter sich bereits Mats Hummels und Antonio Rüdiger als Aufbauspieler hat, ergibt das keinen Sinn. Diese vielen Kleinigkeiten tragen am Ende dazu bei, dass die Deutschen in der Abstimmung das eine oder andere Defizit haben. Eine Rückkehr zur Viererkette könnte insbesondere bei den Abläufen mit dem Ball dazu führen, dass einige Spieler sich wieder wohler in ihren Rollen fühlen. Andererseits sind gerade in der Defensive viele Akteure mit der Fünferkette vertraut und so könnte die Stabilität leiden. Denn auch wenn Frankreich Chancen für mehr Tore hatte: Das Abwehrverhalten der deutschen Mannschaft ist mit wenigen Abstrichen einer der Lichtblicke gewesen.
Fazit: Hoffnung und nicht
Auf diesem Niveau werden die beschriebenen Fehler eben bestraft. Frankreich hat sicher nicht mit Spielwitz, dafür aber mal wieder mit großer Qualität in den entscheidenden Momenten überzeugen können. Die Ausgewogenheit des französischen Kaders sowie deren besondere individuelle Fähigkeiten machen den einen Unterschied. Der andere ist wiederum die angesprochene Abstimmung. Frankreichs Mannschaft ist eingespielt, die Spieler wissen jeweils genau, was der Mitspieler zu welchem Zeitpunkt des Spiels macht. Das ist bei einem solchen Turnier extrem wertvoll.
Bei den Deutschen hingegen geschieht zu viel intuitiv. So gut ihre Ansätze im Übergang nach vorn auch sind, aber wenn sie am letzten oder vorletzten Pass scheitern, dann bringen sie wenig. Spieler wie Sané, Havertz oder auch Gnabry brauchen mitunter zu lange, um die Spielsituation zu lesen und den nächsten Schritt vorauszudenken. Auch Thomas Müller konnte keinen entscheidenden Einfluss nehmen. Viele seiner bei den Bayern sehr präzisen Tiefenpässe kamen einfach nicht an.
Das bedeutet nicht, dass die Spieler die erforderliche Qualität nicht haben. Aber auf diesem Niveau zeigt sich dann eben, was die letzten zwei Jahre des DFB bedeutet haben. Während andere Mannschaften sich in dieser Zeit gefunden haben und an einer konkreten Spielidee feilten, ging bei den Deutschen nur wenig voran. Es wurde viel experimentiert, Rhythmus konnten sie aber nicht aufnehmen. Und so sah sich Löw letztendlich dazu gezwungen, kurz vor dem Turnier nochmal vieles über den Haufen zu werfen. Die Qualität von Hummels und Müller steht außer Frage, aber gerade weil sie eben erst spät zurückkehrten, ist ihr Einfluss noch stark begrenzt. Das sieht man vor allem dann, wenn Müller und Havertz sich gegenseitig die Räume zulaufen.
Deutschland ist – um es ganz einfach zu formulieren – nicht eingespielt genug, um zu den großen Favoriten zu zählen. Aber, und das sollte nicht unter den Tisch gekehrt werden, die Leistung gegen Frankreich war unter diesen Umständen deutlich besser, als es viele erwartet hatten. Sie kann der deutschen Mannschaft Hoffnung machen, dass es gegen Portugal und Ungarn fürs Weiterkommen reicht. Und ab da wäre vieles möglich für ein Team, das gerade noch dabei ist, sich zu finden. Einige Ansätze überzeugen, andere weniger. Die wichtigste Frage ist gar nicht so sehr die nach der Grundordnung, sondern eher, ob die Zeit ausreicht, um die Abstimmungsprobleme zu beheben. Schon das zweite Gruppenspiel gegen Portugal wird viele offene Fragen beantworten können. Gerade die vielen kritischen Beobachter:innen sollten aber nicht vergessen, wo diese deutsche Mannschaft herkommt und gegen wen sie da gespielt haben.
Nach dem ersten Spieltag: Wer sind die Favoriten?
Die Niederlage der Deutschen war zugleich das letzte Spiel des ersten Spieltags in der EM-Gruppenphase. Zeit, auf die Leistungen der einzelnen Mannschaften zurückzublicken: Wer konnte sich in den Kreis der Favoriten spielen?
Der Top-Favorit
Auch nach dem ersten Spieltag bleibt Frankreich der absolute Top-Favorit auf den Titel. Spielerisch war das gegen eine gut verteidigende deutsche Mannschaft oft sehr dürftig und auch taktisch zeigt der Weltmeister, dass er durchaus anfällig ist. Sie sind nicht die unschlagbare Übermannschaft, doch sie sind eben besser besetzt als jedes andere Team. Spielen sie sich wieder in einen gewissen Rhythmus, wird an ihnen wohl kaum ein Weg vorbei führen.
Die Mitfavoriten
Eine Mannschaft, die den Franzosen durchaus gefährlich werden kann, sind die Italiener. Im ersten Spiel gegen die Türkei hinterließen sie beim 3:0-Erfolg großen Eindruck. Italien hat bewiesen, dass sie vor allem im taktischen Bereich sehr komplett agieren. Gegen den Ball haben sie ihre Grundtugenden nicht verlernt, dafür aber spielen sie im Vergleich zu anderen Turnieren plötzlich ansehnlichen Fußball. Ihr sauberes Positionsspiel, das gut organisierte Pressing und das hohe Tempo bei Angriffen sind Waffen, die sie letztendlich weit im Turnier tragen können. Lediglich die individuelle Klasse lässt noch Zweifel zu. Auf der einen oder anderen Position fehlt es den Italienern auf dem höchsten Niveau vielleicht ein Stück weit an Qualität. Die große Frage also: Kann das taktische System diese Schwächen ausreichend kaschieren?
Eine ausführlichere Analyse zu Italien lest ihr hier.
Auch England darf sich nach dem Auftaktsieg gegen Kroatien Hoffnungen machen. Vor allem die dynamische Offensive sorgt dafür, dass sie zum Favoritenkreis zählen. Mit viel Tempo, Bewegung und einer ihresgleichen suchenden technischen Qualität wussten die Engländer in einigen Spielphasen sehr zu überzeugen. Allerdings ist ihr Positionsspiel in Ballbesitz oft zu unsauber. Ihr Flügelfokus ist vorhersehbar und im Mittelfeldzentrum geht nur wenig. Hier muss Trainer Southgate für mehr Variabilität sorgen, will er England weit bringen. Zu den Favoriten zählen sie nach dem ersten Spiel aber allemal.
Der erweiterte Kreis
Bei den Belgiern ist schwer vorherzusagen, wo sie genau stehen. Ihr 3:0-Sieg gegen Russland hinterließ zwar Eindruck, aber fehlerlos war die Leistung nicht. Vor allem im Umschalten in die Defensive wackelten sie einige Male bedenklich. Nach vorn haben sie mit Lukaku aber eine riesige Qualität und wenn de Bruyne zurückkehrt, wird diese nochmal steigen. Mit Belgien ist grundsätzlich immer zu rechnen. Sie sind lange kein Geheimfavorit mehr. Aber ob es am Ende ganz weit gehen kann, hängt auch davon ab, ob sich das Team in den Umschaltmomenten noch stabilisieren kann.
Auch Portugal gewinnt am Ende deutlich mit 3:0 gegen Ungarn, zeigt aber rund 80 Minuten lang keine so richtig überzeugende Leistung. Der amtierende Europameister verfügt über viel Qualität und Breite im Kader und kann auf ein funktionierendes System zurückgreifen. Das allein katapultiert sie schon in den erweiterten Kreis der Favoriten. Allerdings scheinen die Portugiesen nicht mehr so stabil zu sein wie noch 2016. Gerade im zweiten Durchgang gelang es Ungarn mehrfach, Portugal auszukontern. Und auch das Offensivspiel war mitunter sehr behäbig. Portugal muss sich strecken, wenn sie wieder weit kommen wollen.
Über Spanien wurde mal wieder hitzig diskutiert. Viel Ballbesitz, keine Tore und am Ende sogar fast noch eine Niederlage – das soll reichen? Den Spaniern fehlt ein Vollstrecker im Angriff. Das könnte letztendlich dazu führen, dass sie schlicht zu wenig Tore machen. Ansonsten sah das aber schon sehr gut aus, was sie beim 0:0 gegen Schweden auf den Platz brachten. Nur ist auch klar, dass andere Mannschaften die Räume bei Kontergelegenheiten eher ausnutzen werden. Spanien wirkt noch zu unfertig, um zum Kreis der Top-Favoriten zu zählen, aber außer Acht lassen kann man sie nicht.
Und Deutschland? Nun. In der Heimat neigen viele dazu, dieses Team schon wieder schneller abzuschreiben, als es sinnvoll wäre. Für die Mannschaft von Joachim Löw kann es nach wie vor in beide Extreme gehen. Ein klägliches Vorrundenaus ist ebenso denkbar wie ein überraschend starkes Turnier. Die Leistung gegen Frankreich war jedenfalls eine gute Basis für den Turnierstart und sieht man sich an, wie andere Nationen gegen weitaus schwächere Gegner gestartet sind, dann muss man sich davor nicht verstecken. Sehr viel wird davon abhängen, wie sie diese Gruppe meistern können. Aber abschreiben sollte man die Deutschen nicht – trotz der letzten Jahre.
Ein Team im Schatten des erweiterten Kreises
Abschließend sei noch die Niederlande erwähnt, bei der eine Einordnung extrem schwer fällt. Lange Zeit sah das gegen die Ukraine sehr ansprechend aus, doch dann verspielten sie eine 2:0-Führung beinahe. Am Ende war es Denzel Dumfries, der den 3:2-Sieg besorgte. Spannender als eigentlich notwendig. Denn Oranje zeigte ein durchaus kontrolliertes und dominantes Spiel. Ihre taktische Ausrichtung scheint eingespielt zu sein. Das Positionsspiel ist gut, die Räume sind stets sauber besetzt und im Angriff hat man mit Memphis Depay und Wout Weghorst verschiedene Varianten, um zum Ziel zu kommen. Letztendlich fehlt der Mannschaft aber etwas Besonderes. Nicht nur, weil ihr die Superstars abgehen, sondern auch, weil der letzte Punch im Spiel nach vorn oft fehlt. Außerdem war das Defensivverhalten in einigen Spielphasen eine Katastrophe. Riesige Räume boten sich den Ukrainern zwischen den Linien und die Abstände untereinander aber auch zu den Gegenspielern waren teilweise riesig. Da muss Trainer Frank de Boer noch viel justieren, um die Niederländer in den erweiterten Kreis der Favoriten zu bekommen.
Kurzbewertung der Bayern-Spieler
Die Bewertungsskala umfasst den Bereich von 1-10, wobei auch halbe Punkte möglich sind. 10 ist perfekt, 1 ist der schlechteste Wert.
David Alaba – 7 – durchschnittliche erste Halbzeit, entschied das Spiel im zweiten Durchgang fast alleine.
Robert Lewandowski – 4,5 – ihm gelang wenig, bekam aber auch kaum Bälle, am Ende fast den Ausgleich aufgelegt.
Benjamin Pavard – 7,5 – offensiv einige gute Szenen, defensiv solide, kaum Fehler im Spiel.
Lucas Hernández – 8 – defensiv überragend, Tor vorbereitet, ansonsten im Offensivspiel manchmal zu zaghaft.
Manuel Neuer – 6,5 – hatte wenig zu tun – sowohl mit als auch gegen den Ball, rettete ein-, zweimal per Ausflug.
Joshua Kimmich – 5,5 – fand lange Zeit nicht ins Spiel, am Ende dominanter, beim Gegentor ohne Schuld.
Thomas Müller – 6 – probierte viel, aber ihm gelang wenig. Auch gegen den Ball nicht immer optimal.
Serge Gnabry – 6,5 – war sehr bemüht, legte viele Bälle klug ab, hatte die größte Chance.
Leroy Sané (eingewechselt) – 5,5 – noch aktiver als die anderen Einwechslungen, aber kaum gelungene Aktionen.
Corentin Tolisso (eingewechselt) – ohne Bewertung, weil er zu spät kam.
Ohne Einsatz: Leon Goretzka, Niklas Süle, Jamal Musiala, Kingsley Coman.
Bayern-Spieler des ersten Spieltags: Lucas Hernández. Der Franzose überzeugte mit Aggressivität, Offensivdrang, Zweikampfstärke und einer rundum starken Leistung. Joshua Kimmich hatte er weitestgehend in der Tasche und Fehler machte er nur äußerst selten. Sicher ein Kandidat für den besten Spieler des Spiels.