EM-Blog: Das „U“ steht nicht für Unterhaltung
Nüchtern und für sich betrachtet, sind im Halbfinale der Europameisterschaft zwei Teams weitergekommen, die keinen wirklich spektakulären Fußball geboten haben. Die Italiener haben sich ihr Glück spätestens ab der 20. Minute ermauert, während England sich mit vielen öden Ballbesitzphasen ins Finale schlich. Wer nur diese beiden Spiele gesehen hat, wird vielleicht urteilen, dass wie schon 2016 ein Team Europameister wird, das die Unterhaltung der Zuschauer:innen in den Hintergrund stellt.
Im Gesamtkontext des Turniers ergibt sich aber ein anderes Bild. Und selbst im Kontext der beiden Halbfinals, wenn man sich die Gegner der Finalisten genauer ansieht. Italien musste gegen Spanien spielen. Die Spanier waren mit dem Ball das stärkste Team in diesem Turnier. Vor allem deshalb, weil sie das Handwerk des Ballbesitzfußballs nah an der Perfektion beherrschen. Tobias Escher hat in seinem EM-Tagebuch von dem Duell zwischen „Projekt“ und „Philosophie“ geschrieben. Einerseits die Italiener, die sich unter Roberto Mancini einem ballbesitz- und offensivorientierten Fußball angenähert haben und diesen auf fast allen Niveaus sehr sauber und durchschlagskräftig auf den Rasen bringen.
Andererseits die Spanier, die eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben, dass diese Art von Fußball in ihrer DNA verankert ist. Ballkontrolle, Passschärfe und -genauigkeit, Freilaufverhalten – die spanische Mannschaft ist selbst dann schön anzusehen, wenn sie aufgrund fehlender Offensivpower oder Defensivabsicherung mal nicht so erfolgreich ist. Die Italiener spielen diesen Fußball bei diesem Turnier, die Spanier leben ihn seit vielen Jahren.
Italien findet (fast) seinen Meister
Und so haben die Italiener zwar in der Anfangsphase versucht, Spanien mit hohem Pressing und längeren Ballbesitzphasen den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber sie mussten schnell einsehen, dass es gegen diese Mannschaft nicht ausreichen wird. Wären sie diesen Weg bis zum Ende weitergegangen, hätte Spanien sie womöglich aus dem Stadion geschossen.
Die Art und Weise, wie die Spanier Spiele dominieren und beherrschen, ist nicht mal eben durch eine gute Spielergeneration oder einen Trainer zu kopieren. Es ist das Resultat einer lang angelegten und überzeugend umgesetzten Philosophie. Und egal wie man nun zu den Spaniern steht: Ihr Wiedererkennungswert ist nahezu einmalig.
Italien hingegen löste sich bei diesem Turnier von dem, was sie bei vielen Turnieren stark gemacht hat, ohne dem aber komplett den Rücken zu kehren. Organisation ist immer noch das kleine Einmaleins der Squadra Azzurra. Allerdings legt Mancini viel Wert auf Kontrolle durch kluge Raumbesetzung und verlangt von seiner Mannschaft, dass sie nach vorn spielt. Hohes Pressing, Kurzpassspiel, viel Ballbesitz – es sind diese neuen Markenzeichen, die Italien überhaupt erst in die Runde der letzten Vier gebracht haben.
Mit einer Portion Glück ins Finale
Sie fanden gegen Spanien aber auch rechtzeitig zurück in eine Spielweise, die wiederum in ihrer DNA verankert ist – und profitierten dabei von den neu hinzugewonnenen Qualitäten. Eine italienische Mannschaft, die von Anfang an den Fokus auf Defensivarbeit und offensives Umschaltspiel gelegt hätte, wäre vielleicht nicht so weit gekommen wie eine, die sich nur in Ausnahmesituationen darauf beruft. Warum? Weil ihr neues Verständnis für Raum und Ballkontrolle ihnen dabei half, das spanische Spiel zu verstehen.
Nach einer wilden Anfangsphase zogen sich die Italiener dennoch zurück und gaben den Kampf um den Ball auf, weil sie wussten, dass sie ihn sowieso verlieren würden. Am Ende zogen sie ins Finale ein, weil sie das nicht verlernt haben, was gern als „Tugenden“ bezeichnet wird. Aber sie brauchten darüber hinaus viel Glück, so ehrlich muss man schon sein.
Das Finale wird jedoch eine andere Aufgabe, vielleicht eine einfachere. Mannschaften, die sich zuerst darauf konzentrieren, wie sie Gegentore verhindern, liegen dieser neu ausgerichteten italienischen Mannschaft besser als die Spanier.
England: Humorlos und trocken
Und das unterscheidet die Italiener auch von den Engländern. Sie wollen prinzipiell einen anderen Fußball spielen, als sie es gegen die Spanier getan haben. Sie konnten es nur nicht. England hingegen will nicht anders spielen. Ihnen zuzusehen ist ein bisschen wie bei einer Routineuntersuchung beim Arzt: Zunächst sitzt man ewig rum und wartet darauf, dass etwas passiert. Dann irgendwann gehts los und wenn der Arzt einen guten Tag erwischt, ist es schnell wieder vorbei. Spaß hat man in den seltensten Fällen und man geht erleichtert raus, wenn alles vorbei ist.
Zugleich ist dieser Vergleich etwas unfair, zugegeben. Die Engländer haben sich den Finaleinzug genauso verdient wie die Italiener – nur eben aus anderen Gründen. Sie scheuen zwar das Risiko im Spiel nach vorn, aber sie wissen, dass es mit dieser Offensive in den meisten Fällen eben doch für ein oder zwei Tore reicht. Hinten hingegen stehen sie so sattelfest wie keine andere Mannschaft bei diesem Turnier. Dass ihr erstes Gegentor aus einem direkt verwandelten Freistoß im Halbfinale resultiert, spricht Bände.
Die Engländer haben das „U“ für sich entdeckt. Das macht ihr Spiel so berechenbar. Anders als die Italiener sind sie nicht großartig darum bemüht, in Ballbesitzphasen die Zwischenräume mit vielen Spielern zu besetzen, um den Gegner ständig unter Druck zu setzen. Stattdessen läuft der Ball humorlos und ohne Tempo durch die eigenen Reihen, bis jemand in der Offensive einen Geistesblitz hat.
Das „U“ steht nicht für Unterhaltung
Gareth Southgate will das aber genau so haben. Anders sind die folgenden Grafiken von Betweentheposts nicht zu erklären.
Das Muster ist eindeutig: Zwei tief positionierte Sechser und ein klar erkennbarer Fokus auf das Spiel über die Flügel. So wenig kreativ und so behäbig das Spiel der Engländer auch ist, so effektiv ist diese Idee bisher aber gegen den Ball für sie. Verlieren sie den Ballbesitz, haben sie immer mindestens vier bis sechs Spieler in der Nähe, die sofort absichern können. Und weil sie so gut wie nie mit Risiko durch die Mitte spielen, verlieren sie den Ball nur selten in Bereichen, wo der Gegner sofort in gefährliche Kontersituationen umschalten kann. Auf den Flügeln ist eine Rückeroberung einfacher als im Sechser- oder Achterraum.
Southgate verstärkt mit dieser Grundausrichtung den Fokus auf die individuelle Qualität. Hinten verteidigen Harry Maguire, John Stones und Kyle Walker individual- und gruppentaktisch auf sehr hohem Niveau. Sie antizipieren Gefahrensituationen schnell und kommen nur selten in unangenehme Laufduelle. Stattdessen sind sie mit ihrer robusten Spielweise meist sofort am Gegenspieler, was es selbst einer offensivstarken dänischen Mannschaft schwer gemacht hat, gute Chancen herauszuspielen.
Das „U“ im System von Soutghate steht sicher nicht für Unterhaltung. Aber es steht für „unangenehm“, „unterschätzt“ und für … gibt es ein Wort mit „U“ für Stabilität? Na ja, egal. So schwer es für viele ist, sich für den Fußball der Engländer zu begeistern, so berechtigt stehen sie im Finale dieser Europameisterschaft. Zugleich werden die Italiener aber der erste Gegner bei diesem Turnier sein, der die Schwächen des englischen „U“ im zentralen Mittelfeld für sich nutzen könnte. Zumal England sich gegen eine defensiv gut organisierte dänische Mannschaft lange Zeit sehr schwer tat mit dieser Grundstruktur – und einen Elfmeter gebraucht hat, der nur schwer zu erklären ist. Gelinde ausgedrückt.
Wer gewinnt, liegt richtig
Ohnehin ist die öffentliche Diskussion um Spielsysteme gerade bei großen Turnieren häufig recht vorhersehbar. Wer am Ende gewinnt, liegt richtig. Portugal wurde 2016 für seine stabile Defensive gefeiert und nur am Rande wurde rekonstruiert, wie viel Glück sie auf dem Weg zum Titel eigentlich hatten. Interessant ist aber auch, dass gewisse Spielweisen auch für andere Mannschaften zum Vorbild werden, sobald sie erfolgreich sind.
Dass die Italiener bis ins Finale gekommen sind, könnte sich auf diesem Weg und mit Blick auf den Unterhaltungswert von Nationalmannschaftsspielen noch als besonders positiv herausstellen. Ihr Mut im Spiel nach vorn, ihr Mut zur Anpassung der tief im italienischen Fußball verankerten Überzeugungen und ihr damit verbundener Erfolg könnten vielen Teams als Vorbild dienen.
Genauso ist es denkbar, dass England der Begeisterung rund um den in Teilen neuen italienischen Fußball ein jähes Ende bereitet. Dass viele im Moment auf die Defensive fokussierte Nationaltrainer sich eher an ihnen ein Beispiel nehmen. Frei nach dem Motto, dass die Defensive Titel gewinnt. Italien hat bewiesen, dass sie beides können: Offensive und Defensive. Gerade beim Auswärtsspiel in Wembley ist das aber noch lange keine Garantie für den Titel. Sollte die Squadra Azzurra aber Europameister werden, wäre das dem Unterhaltungswert von Länderspielen mittelfristig vielleicht etwas zuträglicher.
Wobei das Meckern auf sehr hohem Niveau ist. Denn bei dieser Europameisterschaft haben nicht nur die Italiener, sondern auch viele andere Mannschaften gezeigt, dass sich Mut bezahlt machen kann. Das Turnier wird deshalb als eines der unterhaltsameren in die Geschichte des Fußballs eingehen. Daran würde auch ein englischer Triumph nichts mehr ändern.