EM-Blog, Tag 19: Das Bündnis der drei Türme

Oranje wacht endlich auf, Rumänien verabschiedet sich tapfer, die Türkei entdeckt ungeahnte Verteidigungskünste und Österreich trauert. Viel los am letzten Achtelfinalspieltag.

Daniel

03.07.2024

Inhalt

Rumänien – Niederlande 0:3 – Oranje wacht auf
Österreich – Türkei 1:2 – Überraschende drei Türme
Was sonst noch auffiel
Kurze Gedanken vor den Viertelfinals
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Rumänien – Niederlande 0:3 – Oranje wacht auf

Die Niederländer werden ihr Glück mit dem Turnierbaum kaum fassen können. Da schickt sie Österreich im letzten Spiel auf den dritten Platz, doch statt Spanien oder Portugal (oder naja, England), ist es Gruppensieger Rumänien, der sie fordert. Die wiederum werden sich auf die Zunge gebissen haben. Gruppensieger und dann so eine Belohnung.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig und so nahmen sie die Flucht nach vorne. Österreich hat Hollands Anfälligkeit vor wildem Pressing aufgedeckt, also versuchten sie es österreichisch. Ganz die Pressingmuster und -fallen hatten sie nicht drauf, aber Engagement und Kraft machten da vieles wett. 15 Minuten lang sahen unsere orangenen Nachbarn keinen Stich, erst dann schafften sie es, das Spiel zu beruhigen und konnten glücklich mit ihrer ersten Offensivaktion in Führung gehen. Wie so oft im Fußball, verändert so eine Führung einfach alles. Favoriten bekommen selbst nach den allerdürftigsten Leistungen gerne das nötige Selbstverständnis, das eigene Spiel nun wirklich aufziehen zu können.

Nur wie sieht das Spiel Ronald Koemans aus? Bis zu diesem Spiel konnten sie ja noch nicht überzeugen. Linksverteidiger Aké zieht beim Spielaufbau ins Zentrum zu van Dijk zu einem Zweieraufbau, der de Vrij nach rechts pusht und Dumfries ganz nach vorne. Zudem überlädt das Mittelfeld auch noch rechts und so hat Oranje dann dort ein Übergewicht, während Gakpo links zu Freiräumen kommt.

Nichts weltbewegendes, aber in diesem Turnier sah man das bislang nicht von den Holländern. Mit der Führung im Rücken entwickelte sich die beeindruckendste Favoritenleistung in diesen Achtelfinals, Minute für Minute schwomm sich die Niederlande vom ganzen Ballast der vergangenen Wochen frei, ihre Spieler gewannen merklich an Selbstvertrauen, nur das mit dem Toreschießen wollte einfach nicht klappen. 2,57 Expected Goals schossen sich die in blau spielenden Orangen zusammen, doch erhöhen konnten sie erst in den letzten zehn Minuten. Ein Spiel zu zumachen ist natürlich auch eine Fähigkeit.

Rumänien hingegen konnte einem Leid tun, für so ein frisches Turnier bis dahin und mit diesem schwungvollen Anfang, verdienten sie es nicht am Ende mit 0:3 abgeschossen zu werden, aber die individuelle Unterlegenheit war einfach nicht von der Hand zu weisen. Drăgușin wurde von Gakpo nicht nur beim 0:1 und 0:2 regelrecht schwindelig gespielt, Rechtsverteidiger der Vorrunde Rațiu stieß an seine Grenzen und Niță muss beim ersten Tor einfach im Eck sein.

La revedere, Rumänien! Ganz an die 94er reicht ihr nicht, aber mit der Slowakei wart ihr mit Sicherheit die stärksten Osteuropäer im Turnier!

Österreich – Türkei 1:2 – Überraschende drei Türme

Österreich kann sein Glück kaum fassen. Die Türkei ist praktisch ein freilos – dafür haben die Türken einfach in allen Spielen zu große systemische Defensivlücken hinterlassen. Mit dem Pressing werden sie nicht zurechtkommen. Ich, im EM-Blog, Tag 15

Okay, okay, da lag ich wohl ein ganz klein wenig daneben. Aber zu meiner Verteidigung lässt sich sagen, dass das bisherige Turnier Vincenzo Montella nicht gerade als Defensivtaktiker erschienen ließ. Die clevere Umstellung auf Fünferkette mit Kaan Ayhan als rechten Innenverteidiger und so direkten Gegenspieler Sabitzers, kam nicht nur für mich unerwartet – Michael Gregoritsch bestätigte, dass es auch die Österreicher verblüffte. Noch viel mehr verblüffte mich allerdings das Engagement der Türken, heute Gras zu fressen. Um jeden Meter hinten kämpfen und das gegnerische Team an den Abschlüssen behindern, war etwas, was weder gegen Georgien, noch zehn Tschechen und schon gar nicht Portugal sichtbar war.

Natürlich spielt hier das frühe Tor mit hinein. Nach 57 Sekunden stand das Stadion schon Kopf und während man am Nachmittag noch registrieren konnte, wie sehr die Führung dem Favoriten hilft, stärkte es hier den Underdog. Natürlich kämpft man mit Führung im Rücken noch mehr. Natürlich bekommt „Gras fressen“ da noch eine ganz andere Bedeutung. Natürlich wird in so einer Situation auch der notorischste Fleischfresser zum militanten Veganer und genießt jeden Grashalm, den er zwischen die Beißer bekommt.

Die Türkei überzeugte aber auch fernab ihrer drei Türme hinten. Einen sicheren Spielaufbau hatten sie bis dahin seltenst gezeigt, hier schon. Bei jedem Ballgewinn versuchten sie wenigstens etwas produktives zu machen, einfach nach vorne gekloppt, wurde wenig.

**Kann man eigentlich für Frisuren gesperrt werden? Unklar. Aber man kann für sie aus dem Team des Turniers fliegen!**
(Foto: Lars Baron/Getty Images)

Die Österreicher setzten in der ersten Hälfte nicht nur keinen Stich, in gewisser Hinsicht versuchten sie es nicht einmal. Vom Dreieraufbau Türkeis mit viel Manndeckung mag man überrascht gewesen sein, aber so ein Larifari-Anlaufen einer Rangnick-Elf ist unerhört. Eine ganze Halbzeit setzte man so in den Sand. Im zweiten Spielabschnitt wechselte Rangnick zweifach und stellte nun immer fünf Mann ins vorderste Glied, die türkische Fünferkette konnte so nicht rausrücken und Spielern nachjagen.

Es entstand die beste Phase Österreichs und einer, der sie nachtrauern sollten. Denn in diesen 15 Minuten, die jäh vom zweiten türkischen Eckballtor beendet wurden, kam Österreich ständig durch die Mitte durch. Insbesondere Poschs astronomisch gutes Zuspiel auf Arnautović ist hier zu nennen. Wieso griff man darauf in der Schlussphase nicht wieder zurück? Stattdessen war Marcel Sabitzer spätestens ab der 70 Minuten dezidierter rechter Flügelspieler. Rechts, weil so Kaan Ayhan weit weg war. Sabitzer kam zwar zu vielen Flanken, aber die Gefahr durchs Zentrum zu kombinieren, sowie seiner Abschlüsse, im Strafraum und von außerhalb, nahm man sich so komplett.

Österreich wollte es zu früh erzwingen, anstatt die gute spielerische Lösung zu suchen, die sie vorher ja fanden. So muss man am Ende trotz starker 2,7 Expected Goals feststellen, dass die Männer aus den Alpen eine ganze Halbzeit verpennt und die Schlussphase zu hektisch bespielt hatten.

Was sonst noch auffiel

Man muss Merih Demirals Wolfsgruß an die faschistischen Grauen Wölfe nach dem Spiel erwähnen. Die UEFA, die Politik immer vom Spielfeld fernhalten will, darf das nicht akzeptieren. Wird sie hier einschreiten? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Demiral fällt übrigens nicht zum ersten Mal negativ auf. Nachdem die Türkei in Kurdistan im Nordosten Syriens einmarschierte, beteiligte er sich nicht nur am Militärgruß der ganzen türkischen Nationalmannschaft, seine explizite Solidarität mit Erdoğans völkerrechtswidrigem Überfall drückte er auch auf Social Media aus.
Mert Günok rettet seinem Team das Weiterkommen mit der Parade seiner Karriere. Sein ganzes Leben lang wird er ab jetzt nur noch auf diese Parade angesprochen werden.
Erstaunlich ist seine Weltklasse-Leistung heute aber auch, weil sein Turnier bis hierhin absolut mies war.
Im ersten Spiel erwischt ihn Mikautadze am kurzen Pfosten, danach war Montella so unzufrieden, dass er ihn gegen Portugal sogar aus dem Tor nimmt! Zum dritten Spiel kehrt er wieder und macht einen noch viel schlimmeren Fehler, als er eine Bogenlampe fallen und zehn Tschechen auf einmal ans Wunder glauben lässt.
Und jetzt hält er alles, ob gegen Arnautović im Eins-gegen-Eins oder Baumgartners sicheres Kopfballtor, unglaublich!

**Die Parade seines Lebens.**
(Foto: Dan Mullan/Getty Images)

Solche Pässe hat Stefan Posch doch in fünf Jahren Hoffenheim nie gespielt. Ein weiterer Spieler, bei dem man auf den Verein schaut und gar nicht mehr verwundert den Namen “FC Bologna” registriert.
Am Ende sind es zwei Eckbälle, die Österreich heimfahren lassen und somit schwer in einen systemischen Kontext zu bringen, aber sie haben das ganze Turnier über zu viele Gegentore bekommen.
Die Polen mussten nur wenige Minuten mithalten, schon konnten sie ausgleichen, Holland war die volle Spielzeit über unterlegen und kam trotzdem zweimal zurück. Manchmal trifft man dreifach, aber oft eben auch nicht. Sechs Gegentore in vier Spielen ist alles andere als wenig.
Kaum liegt nur Österreich zurück und es gibt nur vier Minuten Nachspielzeit. Kroatien und die Slowakei kräuseln die Lippen.
Auf dem Platz in Leipzig sind ständig Spieler ausgerutscht, es war scheinbar ein weiteres Stadion, das keinen Regen verkraften konnte. In Dortmund sitzt das Problem an der Dachkonstruktion, andernorts auf dem Feld. Dafür, dass in Deutschland die besten Stadien stehen sollen, offenbart diese EM einige hässliche Mängel.
Das mag respektlos klingen, aber ein bisschen sind Memphis Depay und Cody Gakpo holländische Shaqiris. Depay wirkte außerhalb Eindhovens und Lyons immer wie ein Fremdkörper, aber bei Oranje saugt er das Scheinwerferlicht auf und funktioniert einfach, obgleich heute ohne Tor. So läuft er doch in La Liga nicht rum!
Und Gakpo war bei Liverpool bis hierhin doch sehr enttäuschend, aber bei großen Turnieren trägt er seine Mannschaft einfach auf beiden Schultern, wuchtet die Dinger wie selbstverständlich rein. Bei ihm ist zum Glück noch Zeit, dass er im Verein kein Shaqiri wird.
Ob auch der Blick auf den Turnierbaum ungeahnte Kräfte bei Oranje freigesetzt hatte? Dass es nun gegen die Türkei geht und nicht zum Rematch mit Österreich kommt, wussten sie zwar nicht, aber beides sind bessere Optionen als alles auf dem anderen Zweig. Danach die tapferen Schweizer oder biederen Engländer und man ist ganz kurz vor dem ganz großen Ding.

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Kurze Gedanken vor den Viertelfinals

Schweiz, bitte macht, dass sie aufhören! So ein wunderschönes Turnier und dann sind da diese grässlichen Engländer, die mit ihrem mordshässlichem Antifußball einfach krampfhaft sich weigern auszuscheiden. Ich weiß, ihr Neutraltätsfanatiker seid das nicht gewöhnt, aber der ganze Kontinent ist mit euch! England muss heim!
Ich bin im Team der größte Optimist, was deutsche Chancen gegen Spanien angeht. Meine Meinung zu spanischen Wacklern hatte ich ja schon in früheren Blogs hinterlegt, viel hat sich nicht geändert. Gegen Georgien fingen sie sich ihr erstes Gegentor, dafür fand ich ihre Passschärfe nochmal beeindruckender. Die Spanier passen mitunter härter als sie schießen.
Schade, dass Stuttgart zwei DFB-Spiele bekommt und Hamburg gar keins. Nur eins im Ruhrpott ist bei potenziell vier im Süden auch sonderbar. War da wieder die Schwaben-Connection am Werk?
Spanien nutzt ihren nominellen Heimvorteil und klaut Deutschland das Hotel. Sehr petty. Muss man respektieren.
Portugal ist die witzigste Mannschaft im Turnier, ich lasse nichts auf die kommen. Da turnt 9 Mal Weltklasse auf dem Feld und am Ende landet trotzdem alles beim finishten Ronaldo, vollkommen gaga.
Portugal – Frankreich klingt eigentlich so dermaßen offensichtlich nach Krampfspiel mit unter 3 Torchancen in 120 Minuten, dass es wiederum nur explodieren kann (bitte, bitte!).
Belgien verabschiedet sich aus dem Turnier mit drei von vier Spielen ohne einem einzigen geschossenem Tor. Das ist bei einer Offensive um De Bruyne, Lukaku, Openda, Tielemans, Doku und Trossard schon auch eine Leistung, Herr Tedesco.