EM-Analyse: Deutschland schlägt tapfere Ungarn 2:0

Daniel Trenner 20.06.2024

Kein verflixtes zweites Spiel! Keine Wiederholung von 2008, 10 oder 14! Deutschland gewinnt auch sein zweites Gruppenspiel und reitet nun endgültig auf einer Euphoriewelle!

Nach intensiver Anfangsphase mit Chancen auf beiden Seiten, erpresste Gündoğan sich gegen Willi Orban den Ball zurück, legte auf Musiala ab, der wie schon gegen Schottland voll durchzog – 1:0!

Deutschland beruhigte in der Folge das Spielgeschehen, doch Ungarn wurde über Standards gefährlich, zweimal musste Neuer retten, einmal fiel sogar ein Abseitstor.

Das Spiel blieb auch in der zweiten Spielhälfte intensiv, mitten in Ungarns stärkster Phase spielten Kroos, Musiala und Mittelstädt İlkay Gündoğan frei, der mit links in die lange Ecke einschob. Beim 2:0 blieb es dann auch – durch das 1:1 der Schweiz gegen Schottland reicht der DFB-Elf am Sonntag ein Unentschieden zum Gruppensieg. Sieben Dinge fielen auf:

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1. Neuer hält was er kann

Im Vorfeld der Europameisterschaft war bekanntlich eine mittelgroße Torwart-Diskussion entbrannt. Manuel Neuers Fehler gegen die Ukraine und Griechenland, aber auch für den FC Bayern gegen Real Madrid und Hoffenheim, befeuerten eine Diskussion, die Julian Nagelsmann je im Keim ersticken versuchte.

Gegen Schottland konnte Manuel Neuer sich nicht auszeichnen, das einzige Gegentor war ein unhaltbares Eigentor Rüdigers, gegen Ungarn allerdings war Neuer von der wortwörtlich ersten Minute da.

Er klärte vor Sallai als Rüdiger und Tah, vorallem jedoch Kimmich sich komplett verschätzen (1.). Parierte erst Szoboszlais direkten Freistoß gut und daraufhin mit einer flinken Fußabwehr den Abpraller noch besser (26.). Wiederholte das ganze gekonnt bei Orbans Kopfball vor Sallais Abseitstreffer kurz vor der Halbzeit.

Einziger Schönheitsfleck bleibt ein Fehler in der 90. Minute, als Neuer bedrängt die Kugel fallen ließ und Kimmich auf der Linie klären musste. Neuer moniert hier gefoult worden zu sein, doch wurde er dies genauso wenig wie Orban beim 1:0.

Jeder Experte, Kommentator oder Reporter auf ARD und Magenta meinte eine absolute Weltklasse-Leistung gesehen zu haben, doch ohne diese schmälern zu wollen, wird Neuers Leistung etwas zu hoch gekocht.

Szoboszlais Freistoß ist gefährlich, sicherlich, doch komplett im Eck war er nicht. Dieser Ball ist schwierig und muss erst einmal pariert werden, doch ein deutscher Nationaltorhüter muss diesen Ball eben auch parieren. Ähnlich sieht es bei den anderen Situationen aus, Neuer hält einfach das, was er auf den Kasten bekommt. Nicht weniger, aber auch nicht extrem viel mehr.

Beschäftigungslos war er nicht, der Torwart ist nun im Turnier drin. Die Superlative kann man allerdings noch im Köcher lassen.

Wollte Neuer diesen Ball eigentlich fangen? Seine Fingerkuppen deuten darauf hin.
(Foto: Fabrice Coffrini / AFP via Getty Images)

2. İlkay Gündoğan – Der Kapitän

Vor-Turniers-Diskussion, die zweite: Diesen İlkay Gündoğan wollten nicht wenige auf die Bank schieben, erinnert sich da noch wer dran?

Bereits gegen die bemitleidenswerten Schotten drehte Gündoğan auf, bereitete zwei Tore direkt vor, gegen die Ungarn war er dann sogar noch besser. An praktisch jedem Angriff war er direkt oder indirekt mit einem wichtigen Laufweg beteiligt, schmiss sich in die Zweikämpfte, war ein echter Leader. Musialas Tor bereitete er vor, das 2:0 machte er höchst selbst. Gündoğan hat nun vier Scorerpunkte, ist Stand jetzt der beste Spieler dieser Europameisterschaft.

Gündoğans Beförderung zum Kapitän wurde vielerorts kritisch gesehen, weil er die Leistungen im Verein bislang nie wirklich in die Nationalmannschaft transportieren konnte, doch die Binde und neue Position scheinen ihn regelrecht zu beflügeln. Vor 12 Jahren nahm er erstmals an einer EM teil, war da noch Statist, seitdem verpasste er alle Turniere oder spielte schwach. Doch jetzt, im zarten Alter von fast 34, ist sein Turnier gekommen.

3. Kimmichs und Musialas Positionsrochaden

Blieb Jamal Musiala auf seiner nominellen rechten Seite (er rotierte sehr oft mit Florian Wirtz), kam es vor allem in der ersten Halbzeit zu etwas skurrilen Szenen. Beim Spielaufbau ließ er sich bis tief in den Halbraum vor der Abwehrkette fallen, während Joshua Kimmich den Rechtsaußen-Part hoch an der Seitenlinie übernahm.

Hier trat genau das ein, dessen Fehlen wir gegen Schottland noch lobten. Der Weltklasse-Spielaufbauer Kimmich war auf Rechtsaußen verschenkt, damit Jamal Musiala ins Mittelfeld dribbeln konnte.

Umgekehrt wird doch viel mehr ein Schuh draus! Man sollte Kimmich doch beim Spielaufbau so gut es geht einbinden wollen. Steht man dann geschlossen an des Gegners Box, macht Kimmichs Bespielen der Außenbahn und Musialas Abkippen ins Zentrum schon eher Sinn.

4. Tapfere Ungarn scheitern an fehlender individueller Klasse

Die Ungarn spielten gut mit, wurden von Deutschland eigentlich nur gut eine Viertelstunde vor der ersten Halbzeit und nach dem 2:0 wirklich taub gestellt, scheitern aber auch im zweiten Spiel effektiv an sich selbst. So tapfer sie auch mit dem Favoriten mithielten, fighteten, verschoben, konterten. So gefährlich sie von ruhenden Bällen auch waren, am Ende reicht ihre individuelle Klasse einfach nicht.

Schon gegen die Schweiz schenkte alleine Orban den Schweizern effektiv zwei Tore, nun ließ er sich erst von Havertz abkochen wie einst Matthew Upson 2010 von Miro Klose im Achtelfinale der WM – Gulácsi bereinigte die Situation schlussendlich. Dann ließ er sich von İlkay “The Ram” Gündoğan beim 1:0 wegchecken. Die Ungarn und Trainer Rossi können sich noch so sehr beschweren – das war kein Foul, sondern einfach richtig, richtig mies von Orban.

Beim 2:0 wurden sie auseinandergezogen und ausgespielt, doch die anderen vier Gegentore dieser EM kann man im Endeffekt auf eine singuläre Fehlerquelle zurückführen – zu oft für ein Weiterkommen.

5. Robert Andrich – Zwischen Sorgenkind und Anker

Robert Andrich ist das wenig beachtete Sorgenkind dieser Mannschaft. Mit überzeugendenen Leistungen bei Leverkusen und in den März-Tests spielte er sich in diese Mannschaft, doch weder in den beiden Länderspielen vor der EM, noch im Auftakt gegen Schottland konnte er die Leistungen wirklich bestätigen.

Auch in der ersten Halbzeit gegen Ungarn fiel Andrich immer wieder ab. Ob Passspiel oder Durchsetzungsvermögen, Andrich brachte wenig Mehrwert – eine sehenswerte Eckballvariante außen vor.

In der zweiten Halbzeit drehte sich das, Andrich rettete einmal gar spektakulär in letzter Not, auch sein Passspiel stabilsierte sich, am Ende hatte er sogar eine 90%-Quote.

Grundsätzlich gilt für Andrich, dass er nicht für die Gruppenspiele in diesem Team ist. Er ist dafür da, um die Pass-Connoisseure Spaniens und Portugals zu brechen, um Bellingham zu tackeln, um Frankreichs Konter zu unterbinden. 

6. Gelbe Flut – Teil II

Da ist es umso bedauerlicher, dass er sich keine gelbe Karte in diesem Spiel abholte. Das letzte Gruppenspiel ist vernachlässigbar, hier hätte er gerne eine Sperre absetzen können, nachdem er bereits gegen Schottland eine unnötige gelbe Karte sah. Möglicherweise wird Nagelsmann eh Pascal Groß dieses Spiel geben wollen.

Gleiches gilt für Tah, der sein exzellentes Spiel mitsamt spektakulärem Block leider nicht mit dem gelben Karton krönte. Gelbe Karten werden erst nach dem Viertelfinale gelöscht, kaum vorstellbar, dass er durch die nächsten Partien ohne Verwarnung kommt.

Noch problematischer ist indes, dass sich erneut zwei deutsche Abwehrspieler zwei extrem dämliche Verwarnungen abholten. Rüdiger rannte nach Verletzungsunterbrechung zu schnell wieder ins Feld, Mittelstädt setzte in der 89. Spielminute bei 2:0-Führung noch ein taktisches Foul. Vollkommen unnötig.

Der Bundestrainer kündigte keine große Rotation für Sonntag an, doch es wäre sehr ratsam, David Raum und einen Innenverteidiger (wahrscheinlich Waldemar Anton) Turnierluft schnuppern zu lassen. Sie werden noch gebraucht.

7. Emre Cans Spielzeit offenbart Kader-Nominierungs-Fehler

Als Emre Can für Aleksandar Pavlović nachnominiert wurde, unkten die meisten, er würde ohnehin keine einzige Sekunde bekommen. Das Staunen bei dessen Einwechslung gegen Schottland war dementsprechend nicht schlecht. Doch das Spiel war eh gegessen, die Einwechslung zu dem Zeitpunkt völlig irrelevant.

Spätestens jetzt allerdings muss Emre Can als vollwertiges Kadermitglied gesehen werden, der Bundestrainer gab ihm diesmal gut zwanzig Minuten. Seine Einwechslung machte dabei vollkommen Sinn, er war der 1:1-Ersatz für den körperlichen Robert Andrich. Kein anderer Mittelfeldspieler im Kader bringt diese Physis mit. Kein Pascal Groß und auch kein Pavlović.

Die Frage muss also erlaubt sein, wieso Julian Nagelsmann dieses offensichtliche Kader-Loch des zweiten physischen Sechsers erst mit der last-minute-Verletzung Pavlovićs behoben mochte? Hätte der junge Münchener sich nicht verletzt, hätte der Bundestrainer immer umstellen müssen, sobald der ausgepowerte oder gelbvorbelastete Andrich vom Platz muss.

Hier wäre es besser gewesen, hätte man von Anfang an auf den fünften reinen Innenverteidiger verzichtet und stattdessen einen Hybrid aus fünfter zentraler Mittelfeldspieler und Innenverteidiger in Emre Can mitgenommen. Der Bundestrainer kann sich glücklich schätzen, dass sein ursprünglicher Fehler ohne Folgen bleibt.

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