Die Kehrseiten des Kane-Transfers zum FC Bayern
Harry Kane macht den FC Bayern besser, aber…
Die ersten vier Plätze in der ewigen Torschützenliste der Champions League belegen Ronaldo, Messi, Lewandowski und Benzema. Ronaldo (38) und Benzema (35) lassen ihre Karrieren in Saudi-Arabien ausklingen, Messi (36) die seine in den USA. Lewandowski (bald 35) ist noch in Europa aktiv, doch auch seine Karriere dürfte auf der Zielgeraden sein.
Nach dem Ende der Ära jener vier Superstürmer gehört Harry Kane gemeinsam mit Mbappé und Haaland zu den besten Stürmern der Welt. Der 30-jährige Engländer trifft seit Jahren konstant auf höchstem Niveau, wirkt fit und hat sein Spiel in den letzten Jahren weiterentwickelt, weg vom reinen Abstauber hin zu einem mitspielenden Stürmer.
Für den FC Bayern lohnt der Transfer sich auch über das Sportliche hinaus. Kane bringt dem Verein als einer der Top-Transfers der Bundesligageschichte Relevanz und Strahlkraft. Strahlkraft, die sich in Klicks, Followerzahlen und (Social-)Media-Reichweite messen lässt, jenen heute so wichtigen Währungen. Einnahmen aus Trikotverkäufen sind nett, aber wirtschaftlich nachrangig. Reichweite hingegen ist die Basis für jene Sponsoringmillionen, die den FC Bayern so wohlhabend machen.
Kane ist ohne Frage sportlich eine Verstärkung für den FC Bayern. Aber diese Erkenntnis ist trivial. Jeder Neuzugang macht das Team besser, die einen ein bisschen, andere ein bisschen mehr. Die relevanten Fragen sind: wie viel besser? Zu welchem Preis? Was wären Alternativen gewesen? Dort setzt die folgende Kritik an.
1. Kane ist zu alt, um die Ablöse einzuspielen
Harry Kane dürfte den FC Bayern 100 bis 110 Millionen Euro kosten, wobei noch unklar ist, an welche Kriterien die inkludierten Bonuszahlungen gekoppelt sind.
Er löst damit Lucas Hernández als teuersten Einkauf der bisherigen Bundesligageschichte ab. Auch international schafft der Transfer es in die Bestenlisten. Kane ist der zweite Spieler nach Cristiano Ronaldo, der im Alter von 30 Jahren oder älter für einen dreistelligen Millionenbetrag wechselt.
Der FC Bayern verfügt über die nötigen Ressourcen, um den Transfer zu stemmen. Es ist grundsätzlich sinnvoll, das vorhandene Kapital in Spieler zu investieren, statt es auf dem Festgeldkonto zu parken, wo es von der Inflation aufgefressen wird. Aber wie sinnvoll ist eine Rekordinvestition in einen 30-jährigen Spieler?
Kane ist der fünfte Spieler im Weltfußball, der mit über 28 Jahren für mehr als 100 Millionen Euro den Verein wechselt. Seine Vorgänger: Griezmann (zum FC Barcelona), Ronaldo (Juventus), Hazard (Real Madrid) und Lukaku (FC Chelsea).
Keiner der Vereine wurde mit den Spielern glücklich. Keinem der Vereine gelang es, für diese Spieler eine relevante Weiterverkaufssumme zu erzielen. Zahlt sich der Transfer eines Spielers um die 30 nicht aus, bleibt der Verein auf der Ablöse sitzen und erhält weder den gewünschten Gegenwert in Form guter Leistung noch die Chance auf einen nennenswerten Verkaufserlös.
Legt man die saldierte Ablösezahlung auf die absolvierten Spiele um, wird das Phänomen deutlich: Juventus bezahlte 117 Millionen Euro für Ronaldo und erhielt später 17 Millionen für seinen Wechsel zu Manchester United. Ronaldo absolvierte 134 Spiele für Juve. Dividiert man den Ablösesaldo von 100 Millionen Euro durch die 134 Spiele, erhält man 746.000 Euro Ablösesumme pro Spiel. Bei den oben genannten Hazard oder Lukaku liegen diese Werte noch deutlich höher.
Übersicht über Ablösesummen pro Spiel ausgewählter Spieler
Spieler | Alter | Verein | Ablösesaldo (MEUR) | Spiele | Ablöse pro Spiel (TEUR) |
---|---|---|---|---|---|
Hazard | 28 | Real | 115 | 76 | 1.513 |
Griezmann | 28 | Barcelona | 90 | 102 | 882 |
Ronaldo | 33 | Juventus | 100 | 134 | 746 |
Lukaku | 28 | Chelsea | 105 (vorläufig) | 44 | 2.391 (vorläufig) |
Neymar | 25 | Paris | 132 (unbestätigt) | 173 | 763 |
Dembélé | 20 | Barcelona | 85 | 185 | 459 |
Bale | 24 | Real | 101 | 258 | 391 |
Neymar | 21 | Barcelona | -134 | 186 | -720 |
Neuer | 25 | Bayern | 30 | 488 | 61 |
Ribéry | 24 | Bayern | 30 | 425 | 71 |
Robben | 25 | Bayern | 25 | 309 | 81 |
Martínez | 23 | Bayern | 40 | 268 | 149 |
Hernández | 23 | Bayern | 35 | 107 | 327 |
Kane | 30 | Bayern | ? | ? | ? |
Im Gegensatz dazu kostete etwa ein Gareth Bale trotz vergleichbarer saldierter Ablösesumme von 101 Millionen Euro mit 391.000 Euro pro Spiel rund die Hälfte, obwohl er Real Madrid ablösefrei verließ. Er war beim Wechsel erst 24 und kam für Real auf 258 Spiele.
Selbst Weltrekordtransfer Neymar schneidet für Paris wahrscheinlich besser ab als die vier „Altstars“. Der Brasilianer soll für rund 90 Millionen Euro nach Saudi-Arabien wechseln. Vor allem aber zeigt der Brasilianer, wie profitabel ein auf den ersten Blick teures Investment in einen aufstrebenden Star sein kann. Der FC Barcelona kaufte ihn teuer ein, aber verkaufte ihn für ein Vielfachse nach Paris weiter, so dass er rechnerisch an jedem Spiel von Neymar verdiente – zusätzlich zu dessen Leistung auf dem Platz.
In ganz anderen Dimensionen liegen Neuer, Ribéry oder Robben, die alle für 25 bis 30 Millionen Euro zum FC Bayern wechselten. Sie kamen auf 488, 425 und 309 Einsätze für Bayern und damit auf verhältnismäßig niedrige Ablösen von 61.000 bis 81.000 Euro pro Spiel.
Und Harry Kane? Wenn er in drei Jahren 120 Spiele für den FC Bayern macht und danach für 40 Millionen Euro weiterverkauft wird – beides durchaus optimistische Annahmen –, entspricht das 580.000 Euro Ablöse pro Spiel. Pro Spiel gerechnet wird nochmals deutlich, wie hoch die Ablöse für Kane den FC Bayern wirklich zu stehen bekommt. Er würde selbst im optimistischen Szenario den bisherigen Rekordmann Hernández überflügeln und den FC Bayern in die Regale von Barcelona, Paris und Co. heben. Im pessimistischen Szenario sähe es noch deutlich schlechter aus.
2. Kane zieht das Gehaltsgefüge nach oben
Die Ablöse ist der eine Teil das Kane-Pakets, das Gehalt das andere. Laut “fbref” waren in der vergangenen Saison Sadio Mané, Manuel Neuer und Thomas Müller die Top-Verdiener beim FC Bayern.
Alle drei sollen knapp über der 20-Millionen-Schallmauer gelegen haben. Mané hat den Verein verlassen, Neuer und Müller werden kaum Ansprüche auf Gehaltssteigerungen stellen können, falls ihre Verträge überhaupt verlängert werden.
Der FC Bayern hätte die große Chance gehabt, den Anstieg seiner Personalkosten zu verlangsamen. Auch wenn der Verein wirtschaftlich gesund ist, könnte ein moderater Sparkurs nötig werden, falls die TV-Einnahmen der Bundesliga sinken.
Kane dürfte sich an die Spitze der Gehaltspyramide setzen und damit die neue Benchmark für Vertragsverlängerungen von Jungstars wie Musiala oder Davies und Neuzugänge sein. Gehälter im Sport sind aus Spielersicht nicht nur eine absolute, selbstbezgene Komponente (je mehr desto besser), sondern auch eine relative Standortbestimmung im Kader. Alaba orientierte sich an Hernández, Kimmich und Müller and Lewandowski. Zu große Lücken zu dem oder den Topverdienern stellen Shooting Stars in der Regel nicht zufrieden. Das kann zu Unruhe in der Kabine oder harten, kostspieligen Verhandlungen für den FC Bayern führen. Im schlimmsten Falle beides.
3. Es geht auch ohne Weltklassestürmer
Die Fußballwelt war sich in ihrer Analyse einig: Der FC Bayern machte einen Fehler, als er Robert Lewandowski im Sommer 2022 verkaufte und auf die Verpflichtung eines klassischen Mittelstürmers als Nachfolger verzichtete. Der FC Bayern brauche einen Weltklassemittelstürmer.
Harry Kane besetzt mit einem Jahr Verspätung diese Planstelle, und der FC Bayern korrigiert seinen Fehler.
Es ist eine einfache Analyse, nicht zwingend die richtige. Das zeigt der Blick auf die Zahlen der vergangenen Saison, in der der FC Bayern ohne Lewandowski wettbewerbsübergreifend 134 Tore erzielte – und pro Spiel mit 2,7 Toren die beste Offensive in Europas Topligen stellte. Selbst Pep Guardiolas mit Erling Haaland bestücktes Superteam schaffte pro Spiel nur 2,5 Tore.
Hasan Salihamidžić hatte es mehrfach betont: Die Last des Toreschießens müsse nach Lewandowskis Abgang auf mehr Schultern verteilt werden. Genau das passierte beim FC Bayern. Neben Choupo-Moting steigerten auch Spieler wie Kimmich, Goretzka, Musiala und Pavard ihre Trefferquote gegenüber dem Vorjahr deutlich.
Das zeigt auch der Blick auf die guten Auftritte von Notnagel Choupo-Moting, der im Schnitt alle 106 Minuten traf. Neben den reinen Zahlen brachte Choupo-Moting vor allem ein anderes Element ins Bayernspiel und erweiterte als Zielspieler die taktischen Optionen. Der FC Bayern wirkte mit Choupo-Moting deutlich stärker als ohne.
Das spricht zwar für einen klassischen Stürmer im Team. Aber sprechen die Leistungen von Choupo-Moting und dem FC Bayern mit Choupo-Moting nicht auch dafür, dass es kein Weltklassestürmer sein muss? Dass die Einbindung in die Offensive des FC Bayern viele Stürmer gut aussehen lässt?
Auch der Blick in die Bayern-Geschichte und über den Tellerrand zeigt, dass große Erfolge ohne Weltklassemittelstürmer möglich sind. Mario Mandžukić 2013 oder Giovane Elber und Carsten Jancker 2001 waren gute und bei Bayernfans beliebte Stürmer, zur Weltklasse zählten sie die wenigsten.
Liverpool 2019 mit Firmino in der Sturmspitze und Chelsea 2021 mit Havertz und Werner sind Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, in denen Teams ohne Weltklassemittelstürmer in der Champions League siegten.
4. Der FC Bayern hat für Kane andere Baustellen vernachlässigt
Der Kane-Transfer ist eingetütet, doch der FC Bayern wirkt wie eine Großbaustelle. “Ich kann es nicht erklären. Ich habe keine Ahnung. Es ist in allen Bereichen auf jeden Fall zu wenig”, so Trainer Thomas Tuchel nach dem Supercup zum Zustand des Teams.
Am offensichtlichsten ist die Vakanz im Tor, am dringendsten hingegen die fehlende defensiv stabilisierende Sechs. Der FC Bayern kassierte im Supercup drei Tore und bleibt damit einem Muster der letzten Jahre treu: Bayern ist defensiv verwundbar geworden.
Von 2012 bis 2017 kassierte der FC Bayern in der Bundesliga im Schnitt 20 Tore pro Saison. Seit 2017 sind es 35. Die Dominanz, mit der Bayern in ihrer Kombination aus Positionsspiel und Pressing Gegner förmlich erdrückte, ist seltener geworden.
Der FC Bayern in Bundesliga und Pokalwettbewerben vor und nach 2017
FC Bayern | 2012-2017 | 2017-2013 |
---|---|---|
Tore pro Saison | 88 | 95 |
Gegentore pro Saison | 20 | 35 |
Punkte pro Saison | 86 | 78 |
Champions League | 4/5 Halbfinals (1 Titel) | 2/6 Halbfinals (1 Titel) |
DFB-Pokal | 5/5 Halbfinals (3 Titel) | 3/6 Halbfinals (2 Titel) |
Seit Jahren nutzen Gegner nach Ballgewinnen Bayern Löcher im Sechserraum und fehlende Absicherung aus. Auch wenn es weiterhin für Gewinne der Meisterschaften reichte, waren die Punkteausbeute und das Abschneiden in beiden Pokalwettbewerben in der Phase mit vielen Toren und vielen Gegentoren insgesamt deutlich schlechter als davor.
Zwar sind weitere Transfers geplant, aber ohne Frage litten mögliche Transfers unter dem Fokus auf Harry Kane. Der Transfer band Zeit, Ressourcen und letztlich auch viel Geld. Zeit und Geld, das für andere Transfers bisher fehlte. Vielleicht hätte der Kader einen größeren Umbruch benötigt statt nur eine große Lösung für eine Position.
5. Der FC Bayern bricht mit der Erfolgsstrategie der letzten Jahre
Uli Hoeneß stand jahrelang dafür, die enorm hohen Ausgaben von Madrid, Paris und anderen zu kritisieren. Der FC Bayern müsse “kreativ und geschickt” arbeiten, so der langjährige Präsident einst auf der Jahreshauptversammlung.
Auch wenn Hoeneß den FC Bayern im öffentlichen Bild finanziell immer etwas kleiner machen wollte, als er war, so galt seine Maxime für die Transfers des Vereins. Für Transferweltrekorde waren andere Vereine zuständig. Die ganz großen Weltstars wechselten selten zum FC Bayern, der FC Bayern machte seine Stars. Der Verein schaffte es, Spieler entweder früh genug zu kaufen oder sie unter besonderen Umständen zu bekommen, wenn sie nicht sogar aus dem eigenen Nachwuchs kamen. Neuer, Lewandowski, Robben, Ribéry, Kimmich, Musiala, Coman, Kroos: Stets verpflichtete der FC Bayern die Spieler früh genug oder nutzte die Umstände aus, wie bei Robben, für den bei Real Madrid nach den Verpflichtungen von Ronaldo, Kaka und Benzema kein Platz mehr war.
Sie alle eint, dass der FC Bayern sie in jungen Jahren verpflichtete. Die Startelf des Champions-League-Finals von 2020 war im Durchschnitt zwar 28 Jahre alt. Zum Zeitpunkt ihres Wechsels zum FC Bayern waren die elf Spieler jedoch 21 Jahre alt. Neuer kam mit 25, Kimmich mit 20, Boateng mit 22, Davies mit 18 und so weiter. 2013 sieht das Bild ähnlich aus.
Der FC Bayern war mit der Strategie, eher aufstrebende Stars als fertige Stars zu kaufen, zuletzt keine Ausnahme mehr. Selbst Manchester City folgt mittlerweile dieser Strategie. Die Säulen des 2023er Erfolgsteams kaufte City allesamt jung ein. Ederson kam mit 23, Bernado Silva und Stones mit 22, Rodri mit 23, Grealish und Gündogan mit 25, de Bruyne mit 24 und Haaland mit 21. Manchester City gibt mehr Geld aus als andere Teams, aber sie investieren es in Spieler, die zum Zeitpunkt des Wechsels noch keine ganz große Stars sind oder die sie wegen besonderer Umstände wie Haalands Ausstiegsklausel, verhältnismäßig günstig bekommen.
Auch der FC Liverpool und Real Madrid haben ihre Erfolgsteams jung zusammengestellt. Gerade Real hat aus dem Hazard-Transfer gelernt und setzt so stark auf junge, teure, aufstrebende Stars wie kein anderer der europäischen Topclubs.
Während also die anderen erfolgreichen europäischen Teams jener kreativen und geschickten Bayernstrategie der 2010er Jahre nacheifern, entwicklet der FC Bayern sich mit den Verpflichtungen von Sadio Mané und Harry Kane ein Stück weit zu dem Real Madrid der Galacticos der Nullerjahre.
Zeiten und Umstände ändern sich, es kann richtig sein, die Strategie anzupassen. Es wäre ein mutiger Strategieschwenk des FC Bayern. Wenn es eine durchdachte Strategie des FC Bayern ist und nicht eine Mischung aus Überreaktion und Zufall (Mané).
Fazit: Bayerns “Stückchen All-in” wirkt auf den zweiten Blick riskant
Jan-Christian Dreesen sprach davon, für den Transfer ein “Stückchen All-in gegangen” zu sein, aber im Rahmen der wirtschaftlichen Vernunft.
Kurzfristig stellt der Transfer wirtschaftlich keine große Herausforderung für den FC Bayern dar. Die mit dem Transfer verbundenen Opportunitätskosten – der Verzicht auf Investitionen in andere Baustellen und aufstrebende Stars – und strategische Auswirkungen könnten den FC Bayern auf den zweiten Blick teuer zu stehen kommen.
Harry Kane kann mit seinen Toren dazu beitragen, dass der FC Bayern sein mutiges All-in gewinnt. Erreicht der FC Bayern 2025 die Neuauflage des Finales dahoam, dürfte es die richtige Karte auf dem „River“ geworden sein.