DUESSELDORF, NRW - OCTOBER 07: Philipp Lahm attends the stadium during a training session of the German National team at the LTU Arena on October 7, 2008 in Duesseldorf, Germany (Photo by Markus Gilliar-Pool/Bongarts/Getty Images)

Der Durchbruch des Philipp Lahm

Tobias Trenner 18.05.2017

Als Philipp Lahm am 18.02.2004 im Spiel gegen Kroatien für die deutsche Nationalmannschaft debütierte, tat er dies als Linksverteidiger und somit auf einer Position, die er gerade einmal 5 Monate zuvor erstmals bekleidet hatte.

Dieses Debüt, bei dem er diese Rolle wie selbstverständlich auf höchstem Niveau ausfüllte, markiert zugleich den Beginn einer im deutschen Fußball – dem es in seiner Historie an herausragenden Spielerpersönlichkeiten nun wirklich nicht mangelt – ungeahnten und höchstens auf der Position des Liberos durch Franz Beckenbauer parallelisierten Dominanz. Aufgrund des bisweilen abyssalen Niveauunterschieds im Vergleich zu seinen Mitbewerbern, blieb Philipp Lahm bis zu seinem Karriereende derart unumstritten, dass sein größter Konkurrent für ihn als Linker Verteidiger er selbst in seiner Funktion als Rechter Verteidiger war und umgekehrt. Und es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft und sein deliberates Karriereende nicht automatisch mit dem Ende dieser Dominanz gleichzusetzen: Wer würde bezweifeln, dass Philipp Lahm mindestens bis zur WM 2018 noch Deutschlands erste Wahl sowohl als Linker wie als Rechter Verteidiger geblieben wäre?

Im Grunde ist damit schon fast alles über die exponierte Stellung Lahms in der Fußballhistorie gesagt, und nicht wenigen mag es redundant erscheinen, angesichts der allgegenwärtigen Lobpreisungen, die ihm anlässlich seines Karriereendes nun zuteilwerden, eine weitere Würdigung dieses herausragenden Fußballers zu schreiben. Allein, es ist meine Überzeugung, dass Philipp Lahm trotz allem bislang noch nicht adäquat gewürdigt wird, und es ist zu befürchten, dass in Zukunft keine Besserung dieses Zustandes zu erwarten ist. So ist Philipp Lahm z.B. in all den Jahren von den Journalisten nicht ein einziges Mal zu Deutschlands Fußballer des Jahres gekürt worden (sein bestes Resultat war ein 2. Platz in seiner ersten Saison 2004 hinter Ailton) und steht damit nicht nur deutlich im Schatten von Größen wie Beckenbauer (4x) oder Ballack (3x), sondern auch hinter Spielern wie Marco Reus oder Grafite, die alle während Lahms Karriere Fußballer des Jahres wurden. Natürlich sind Offensivspieler bei solchen Ehrungen im Vorteil, aber gleichwohl wurde dem Abwehrspieler Berti Vogts diese Ehre sogar zweimal zuteil, und von Karl-Heinz Förster bis Jérôme Boateng gab es immer wieder Verteidiger, die ausgezeichnet wurden.

Von der Sorge beseelt, dass Philipp Lahm in 20-30 Jahren nur noch über YouTube-Schnipsel als Torschütze gegen Costa Rica oder als Ein-Mann-Mauer gegen Cristiano Ronaldo in Erinnerung bleiben und in geradezu geschichtsrevisionistischer Manier spektakulären Dribbelkönigen oder Scorern auf den Außenbahnen nachgeordnet werden könnte, soll dieser Artikel die erste Karrierehälfte Philipp Lahms kontextualisieren und exemplarisch beleuchten. Dass eine Analyse Lahms zugleich immer auch eine Würdigung darstellt, ist dabei unvermeidlich.

Der Umstand, dass Philipp Lahm über 1 ½ Dekaden derart unangefochten Deutschlands bester Außenverteidiger war, ist natürlich nicht ausschließlich mit seiner Exzellenz zu erklären, sondern basiert auf dem Zusammentreffen diverser Faktoren. Zum einen erlebte der deutsche Fußball um die Jahrtausendwende seine bis heute tiefste Krise.

Das Angebot an Spielern von internationalem Niveau war so überschaubar, dass nicht nur einem herausragenden Talent wie Philipp Lahm ein frühzeitigerer Sprung auf internationales Parkett ermöglicht wurde, als dies in anderen Ländern oder in Deutschland zu anderen Zeiten wahrscheinlich gewesen wäre; auch deutlich weniger talentierten Fußballern wie Lukas Podolski oder Per Mertesacker gelang es in jenen Jahren, sich früh durchzusetzen und in jungen Jahren mit einem Stammplatz in der Nationalmannschaft den Grundstock für eine langwährende Karriere zu legen.

Zwei Bereiche lagen im deutschen Fußball besonders im Argen: Das Verteidigen in der Viererkette und die fußballerische Kreativität, was sich vor allem in einer weitgehenden Unfähigkeit, offensive Zweikämpfe – sogenannte Eins-gegen-Eins-Situationen – für sich zu entscheiden oder überhaupt erst einzugehen, äußerte. In beiden Bereichen stellte Philipp Lahm zu Beginn seiner Karriere einen Quantensprung im Vergleich zu den etablierten Kräften dar, obwohl diese nicht einmal unbedingt zu seinen genuinen Stärken gehörten, wie sich herausstellen sollte. Aber der Reihe nach:

Lahm als Nachwuchsspieler 2001-2003

Lahm spielte seit seinem 11. Lebensjahr beim FC Bayern und profitierte dabei von einer entgegen dem landläufigen Ruf guten und relativ fortschrittlichen Ausbildung. 1995 wurde die Jugendabteilung umstrukturiert und mit dem „Junior Team“ zugleich ein für sämtliche Jugendmannschaften einheitliches Spielsystem installiert. In diesem Zuge etablierte sich allmählich auch bereits die Viererkette, und zwar noch deutlich bevor diese sich bei den Profis durchzusetzen begann. Zwar spielte Lahm in den Jugendmannschaften im Mittelfeld, vorzugsweise als 8er bzw. „defensiver Mittelfeldspieler mit etwas Spielraum nach vorne“ (wie er es selbst ausdrückt), und erlebte insofern keine grundlegende Ausbildung als Glied einer Abwehrkette; aber es ist dennoch nicht unerheblich, schon als Kind/Jugendlicher dieses System kennengelernt zu haben, auch ohne tatsächlich darin aufgewachsen zu sein.

Man darf nicht vergessen, dass in Deutschland die Umstellung zur Viererkette zunächst mit Spielern vorgenommen werden musste, die noch mit Manndeckung und Libero aufgewachsen waren. Dieser Umstand war auch nicht zu übersehen. Die EM 2004 war das erste Turnier, bei dem die deutsche Nationalmannschaft durchgängig mit einer Abwehrkette agierte; allerdings eben noch mit Innenverteidigern wie Nowotny und Wörns, die in ihrer taktischen Grunddisposition Welten entfernt waren von Innenverteidigern moderner Prägung und in Drucksituationen immer wieder auf gewohnte Manndecker/Libero-Muster zurückgriffen. Nicht umsonst setzte Jürgen Klinsmann als Nationaltrainer vor allem im Abwehrbereich dann ganz bewusst auf eine neue Generation. Auf Spieler, die dieses System bereits in der Jugend (Mertesacker unter Slomka/Rangnick bei Hannover 96, Huth beim FC Chelsea) verinnerlicht hatten. Philipp Lahm musste gerade zu Beginn seiner Karriere mit beiden Innenverteidiger-Typen spielen. Aufgrund seiner ihm eigenen Spielintelligenz, gelang es ihm scheinbar mühelos, sich diesen fundamental unterschiedlichen Mitspielertypen in der Viererkette jeweils anzupassen.

Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sich Lahms Polyvalenz ursächlich darauf zurückführen ließe, aber das Credo Udo Bassemirs, des damaligen Leiters der Jugendabteilung des FCB, die Spieler nicht zu früh auf einzelne Positionen festzulegen, sondern sie auf zumindest zwei verschiedenen Positionen auszubilden, war seinem Werdegang sicher nicht abträglich. Noch bei der U19-EM 2002, wo er mit Deutschland das Finale erreichte (0:1 gegen Spanien, Torschütze Fernando Torres), fungierte er als Mittelfeldspieler. Erst unter Hermann Gerland bei den Amateuren wurde er durchgängig als Rechter Verteidiger eingesetzt. Auf dieser Position gelang es ihm erstmals, sich in entscheidendem Maße von seinen Altersgenossen abzuheben.

U-19 EM Qualifikationsspiel gemeinsam mit Mike Hanke und Piotr Trochowski
(Foto: Christof Koepsel/Bongarts/Getty Images)

Natürlich war er auch schon ein integraler Bestandteil der FCB-Mannschaften, die 2001 & 2002 Deutscher A-Jugendmeister wurden. Er war Jugendnationalspieler und galt als überaus talentiert; allerdings stand er als Mittelfeldspieler dennoch im Schatten anderer Spieler, was gleichermaßen für den Verein wie für die DFB-Auswahl galt. So wurde Lahm im EM-Finale der U19 beispielsweise nur eingewechselt (zusammen mit David Odonkor), und im Verein wurde Spielern wie Trochowski, Schweinsteiger oder Feulner eher zugetraut, sich direkt bei den Profis durchzusetzen.

Als Rechter Verteidiger aber überzeugte Lahm bei den Amateuren in eben jener Konstanz, die ihn bis heute auszeichnet. Dennoch gelang es ihm nicht, sich nachhaltig für Bayerns Profi-Mannschaft zu empfehlen. Einerseits war seine Position mit dem damals noch recht jungen Willy Sagnol auf absehbare Zeit blockiert, andererseits erweckte Lahm mit seiner Statur nicht den Eindruck, als würde er sich physisch im Bundesliga-Geschäft behaupten können. Es ist Hermann Gerland, der ein drittes Jahr bei den Amateuren für Lahm für verschenkte Zeit hielt, zu verdanken, dass er sich aus dieser potentiellen Sackgasse befreien konnte. Gerland empfahl ihn Felix Magath, der damals beim VfB Stuttgart mit sogenannten „Jungen Wilden“ wie Kuranyi, Hleb u.a. für Furore sorgte, als Backup für Andreas Hinkel. So wurde Lahm für zwei Jahre an den VfB Stuttgart verliehen.

Leihe nach Stuttgart 2003-2005

Ab dem 6. Spieltag, als er gegen Borussia Dortmund sein Startelfdebüt feierte, war Philipp Lahm Stammspieler und aus der Startformation nicht mehr wegzudenken. Ein Szenario, das sich nur 5 Monate später bei der Nationalelf wiederholen sollte. Hatte er beim VfB Stuttgart noch die eigentliche LV-Stammkraft Heiko Gerber verdrängt, musste er in der Nationalmannschaft auf der linken Seite im Grunde nur ein bestehendes Vakuum füllen, da diese Abwehrseite zuvor von Spielern wie Tobias Rau oder Christian Rahn nur wenig zufriedenstellend besetzt worden war. Lahm konnte mühelos seine in der Regionalliga gezeigte Spielweise sowohl in der Bundesliga als auch in der Nationalelf in gleicher Qualität abrufen. In einer Weise, dass man sich wunderte, warum man nicht schon längst zuvor auf diese Idee gekommen war. Denjenigen, die sich heute kaum noch vorstellen können, dass ein Philipp Lahm einst nur Backup für Heiko Gerber war, sei gesagt: Das konnte man sich schon Ende 2003 kaum noch vorstellen.

Ursächlich für den nahtlosen Übergang von Regionalliga zur Bundesliga war, dass Lahms Leistungen in der Jugend und bei den Amateuren, mit denen er sich von der Masse abhob, anders als bei vielen Altersgenossen nicht auf Attributen basierten, die sich beim Sprung zum Profibereich allzu schnell nivellieren: Sein Spiel beruhte weder darauf, seine Gegenspieler auf den Flügeln permanent übersprinten zu müssen, noch gewann er etwa seine Zweikämpfe aufgrund einer überragenden Physis. Er verfügte mit exzellenter Ballbehandlung, Passgenauigkeit, schneller Auffassungsgabe und hoher Spielintelligenz über Fähigkeiten, auf deren Gültigkeit er sich – trotz der dort weitaus höheren Geschwindigkeit – im Profibereich genauso verlassen konnte wie eh und je. Und so mag er als Amateurspieler auf Beobachter noch nicht zwingend wie ein Spieler von Weltformat gewirkt haben, der vom Niveau der Regionalliga gnadenlos unterfordert gewesen wäre. Gerade weil seine Überlegenheit aufgrund seines Spielstils nicht in plakativer Weise für jedermann offenkundig war, wie das z.B. beim 17-Jährigen Ronaldo in der Eredivisie der Fall war. Aber einmal dort angelangt, gelang Philipp Lahm der Sprung in den Profifußball mühelos, da er seine Spielweise kaum umstellen musste und er einfach nur das umsetzen musste, was ihn ohnehin auszeichnete; auf einer ihm unbekannten Position, wohlgemerkt. Denn bis zu seinem Profidebüt auf der linken Seite hatte er dort vorher noch nie gespielt. Weder in der Jugend noch als Amateur in der Regionalliga. In seinem erst 3. Einsatz als Linksverteidiger überhaupt, durfte er sich am 1.10.2003 in der Champions League, beim 2:1-Sieg über Manchester United, im direkten Duell gegen Cristiano Ronaldo behaupten, was ihm mit Bravour gelang.

Philipp Lahm während seiner Leihe im Stuttgater Trikot
(Foto: Friedemann Vogel / Bongarts / Getty Images)

Wurde er in Interviews darauf angesprochen, dass er als Rechtsfuß ja eigentlich auf der „falschen“ Seite eingesetzt würde, spielte er die Bedeutung dieses Umstandes herunter, da „links genauso wie rechts sei, nur auf der anderen Seite“. Dies sollte er später revidieren, als er beim FC Bayern auf die Position des Rechten Verteidigers zu wechseln suchte und dies vor allem dadurch argumentativ unterfütterte, dass er als Rechtsfuß auf der linken Seite leichter auszuspielen sei, weil man mit dem rechten Fuß schlechter die Linie verteidigen könne.

Aber zunächst einmal war er schlicht froh, den Sprung zum Profi geschafft zu haben und weit davon entfernt, irgendwelche Ansprüche zu stellen. Sich Dinge zuzutrauen und einfach zu machen, anstatt die persönliche Eignung zu hinterfragen, ist kennzeichnend für Lahms erste Jahre als Profi. Von seiner Persönlichkeitsstruktur her ist er prinzipiell niemand, der offensiv Forderungen stellt, aber wenn sich Gelegenheiten bieten, will er sich nicht vorwerfen lassen müssen, diese nicht genutzt zu haben. Das gilt für die Gelegenheit, auf ungewohnter Position in die erste Mannschaft zu rücken, ebenso wie Jahre später für die Möglichkeit, die Kapitänsbinde der Nationalmannschaft zu behaupten.

Generell waren die Anfänge seiner Profilaufbahn davon geprägt, relativ wenige Vorgaben zu haben und sich weitestgehend selbst überlassen zu sein. Lahm wurde ins kalte Wasser geworfen, die Zeit für Reflexion und taktische Erwägungen sollte erst noch kommen. Von Felix Magath war nicht viel mehr zu erfahren als eine sehr grobe Beschreibung seines Aufgabenprofils, das vor allem darin bestand, „die Seite dicht“ und – wenn möglich – „Druck über die Außenbahn zu machen“. Dass dies in der Nationalmannschaft unter Rudi Völler nicht viel anders, sondern taktisch eher noch harmloser war, beschreibt Lahm in seinem Buch. Man merkt, dass er in der Ausbildung bei Bayern München taktisch anspruchsvolleres Training gewohnt war. Kaum auszudenken, was für einen Spieler wie Lahm möglich gewesen wäre, hätte er in jungen Profijahren schon einen Trainer gehabt, der ihm klar und präzise hätte aufzeigen können, was die konkreten Anforderungen an ihn auf dem Platz sind. Lahm war immer ein lernwilliger Spieler, aber in den ersten Jahren fehlte es an dem entsprechenden Input, um ihn seine ungewohnte Position von Grund auf „erlernen“ zu lassen.


Im zweiten Teil wird die Entwicklung von Philipp Lahm in seiner Bayern-Zeit zwischen 2005 und 2009 näher beleuchtet.

Rückkehr nach München 2005-2007

„Erlernen“ ist insofern wichtig, da Philipp Lahm eben noch zu den Ausläufern einer Spielergeneration gehört, die die Viererkette nicht rein intuitiv umsetzen konnte, da Viererkette und Raumdeckung nicht von klein auf gang und gäbe waren. Lahm musste sich die Viererkette intellektuell aneignen, und das war durchaus zu sehen. Gerade in seinen ersten Jahren beim FC Bayern konnte man geradezu sehen, wie er in der Defensive bemüht war, beflissentlich das Verhalten in der Viererkette umzusetzen, wie es überall in den Lehrbüchern zu lesen war. Allzu beflissentlich. Denn sein Einrücken und Verdichten der Abwehrkette bei gegnerischen Angriffen durchs Zentrum und ebenso sein Herausrücken auf den Flügel bei Angriffen über eben jenen war in den Jahren vor van Gaal noch sehr schematisch und wenig fließend. Er reihte die Handlungsschritte in der korrekten Reihenfolge aneinander, aber bisweilen eben so wie ein Fahrschüler vor dem Abbiegen Bremsen, Schulterblick, Kuppeln, Schalten und Blinken nacheinander ausführt. Allzu mechanisch und überstürzt rückte Lahm bei Angriffen durchs Zentrum ein, um dort keine Lücke anzubieten. Er öffnete dem Gegner dabei mitunter riesige Räume auf der Seite, in die dieser dann nahezu unbedrängt vorstoßen konnte und somit eine sichere Spielzugoption angeboten bekam.

Natürlich war dabei im Grunde nicht Lahm das eigentliche Übel, sondern das fehlende Verschieben der übrigen Kettenglieder, die dafür oft zu träge waren; aber die fehlende Abstimmung der Viererkette zeigt, wie Lahm in jenen Jahren bedacht war, zuvorderst auf sich und seine eigene Leistung zu schauen. Zwar war er in den Jahren neben Ballack der einzige Spieler von wirklich allerhöchstem internationalen Niveau, aber sein Standing war dennoch weit davon entfernt, als Abwehrchef aufzutreten.

Sein Defensivverhalten interessierte aber außer ihm selbst auch niemanden. Ein Außenverteidiger in der Viererkette wurde in Deutschland zu jener Zeit in erster Linie noch wie ein Wingback im 5-3-2 vor allem anhand seiner Offensivaktionen bewertet, zumal bei einem Verein wie Bayern München, wo Verteidiger seit jeher mehr mit Angriff als mit Verteidigung beschäftigt sind. Philipp Lahm wurde in der medialen Öffentlichkeit vor allem als Kreativspieler und für seine Stärke im 1-gegen-1 geschätzt, und in der Tat fungierte Lahm in den Jahren vor Ribéry als verkappter Spielmacher. Da Scholl meist nur noch von der Bank kam, Zé Roberto als ausschließlicher Linksfuß auf der Außenbahn leicht zu isolieren war und Deisler nie zu einer konstanten Größe wurde, hing es an ihm, Lücken in den gegnerischen Deckungsverbund zu reißen und somit eine Idee für einen Spielzug zu liefern.

Lahm gegen Figo im Winter 2006
(Foto: Sandra Behne /Bongarts / Getty Images)

Wieder und wieder wurde der Ball von der Innenverteidigung oder aus dem Mittelfeld mit der Aufforderung „Lass du dir was einfallen!“ nach links zu Lahm geschoben. Der stand dann nicht nur einem massiert gestaffelten Gegner gegenüber, sondern lief stets auch Gefahr, bei eigenem Ballverlust einen gefährlichen Konter einzuleiten. Wer dafür nach Beispielen sucht, sei auf das letzte Spiel unter Magath (30.1.2007 0:0 gegen den VfL Bochum) verwiesen.

Dieses – meist diagonale – Andribbeln eines gestaffelten Gegners aus der Außenverteidigerposition heraus ist ebenfalls ein Markenzeichen Lahms erstem Karrieredrittels, das er später nahezu komplett abgelegt hat. Dies geschah vor allem deshalb, weil er einerseits aufgrund wichtiger Transfers wie Ribéry & Robben nicht mehr der einzige Spieler war, der Lücken reißen und jemanden im 1-gegen-1 ausspielen konnte. Andererseits aber auch, weil über die veränderte taktische Struktur grundlegend andere Angriffsmechanismen erarbeitet wurden, die derartige Risiko-Aktionen unnötig machten.

Findungsjahre 2007-2009

Es ist bezeichnend, dass Lahm, als er Anfang 2007 erstmalig den Wunsch äußerte, auf die rechte Seite zu wechseln, der einzige war, der von defensiven Beweggründen sprach. Medial wurde nur erörtert, dass er über rechts mit seinem starken Fuß dann wohl besser flanken, andererseits womöglich seine Torgefahr (sic!) einbüßen würde, da er dann nicht mehr wie später Robben nach innen ziehen und mit seinem starken Fuß aufs Tor schießen würde können. Abgesehen davon, dass in diesem Zusammenhang allzu vielen, die sich zu Wort meldeten, Lahms Tor im Eröffnungsspiel der WM 2006 gegen Costa Rica offensichtlich etwas zu sehr im Gedächtnis haften geblieben ist, zeigte sich eine Diskrepanz zwischen medialem Fokus auf seinen Offensivqualitäten und Lahms eigenem Rollenverständnis, nämlich in erster Linie „Verteidiger“ zu sein.

Zu jener Zeit sind bei Philipp Lahm in Interviews erstmals reflektierte Äußerungen festzustellen, die über das gewohnte „Ich-spiele-da-wo-der-Trainer-mich-hinstellt“ hinausgingen und einen Reifeprozess dokumentierten. War Lahm in den Jahren unter Magath noch zufrieden damit, den Durchbruch geschafft zu haben, und in erster Linie darum bemüht, sich zu etablieren (beim VfB, in der Nationalmannschaft, beim FC Bayern), so begann er in der zweiten Hitzfeld-Ära, sich zunehmend mit seiner Rolle im Verein und auf dem Rasen auseinanderzusetzen und eigene Vorstellungen zu entwickeln. Auslösend dafür dürfte die Krise des FCB 2006/07 gewesen sein, als erstmals absehbar wurde, dass die tendenzielle Entwicklung des Vereins und seine persönliche Entwicklung nicht gerade synchron verlaufen. Dass er im Frühjahr 2008 dennoch verlängerte, lässt sich im Nachhinein immer gut als Herzensentscheidung verkaufen. Philipp Lahm stammt aus München und ist beim Rekordmeister aufgewachsen, insofern wird ihm der Gedanke, seine Heimat zu verlassen nicht leichtgefallen sein. Es war dennoch nie seine Art, Treueschwüre und Bekenntnisse zu formulieren, dafür war er stets zu rational planend, als dass er sich auf diese Weise zukünftige Optionen hätte verbauen wollen.

Exemplarisch dafür sei seine Reaktion auf die Lobeshymnen vor allem im Anschluss an das Eröffnungsspiel der WM 2006 erwähnt: Lahm war zur Saison 2005/06 zum FC Bayern zurückgekehrt, fiel aber wegen eines noch in Diensten des VfB erlittenen Kreuzbandrisses bis in den November hinein aus. Er musste sich die Position des Linken Verteidigers in der Rückrunde noch mit Lizarazu teilen. Der Münchner war also noch kein ganzes Jahr Profi beim FCB, war mit seinem Heimatverein noch in keine Saison als Stammspieler gegangen. Aber Nachfragen von Journalisten, dass er sich nun womöglich in den Fokus von Vereinen wie Barcelona oder Real Madrid gespielt habe, begegnete er nicht etwa mit Äußerungen, wie sie ein Bayern-Fan zu jener Zeit hätte hören wollen. Dass er etwa bereits bei einem Top-Club spiele oder sich erst einmal darauf freue, fit in eine komplette Saison mit seinem Verein zu gehen. Im Gegenteil, er ließ alles offen und machte keinerlei Anstalten, aufkommende Transfergerüchte im Keime zu ersticken, sondern wollte „erst einmal die WM zu Ende spielen, alles andere wird man dann sehen.“

Gegen Hoffenheim 2008 gelang Lahm einer seiner wenigen Tore.
(Foto: Photo by Bongarts / Getty Images)

Was auch immer schlussendlich den Ausschlag für seine Vertragsverlängerung beim FCB gegeben haben mag, ob dies nun seine Liebe zum Verein, das finanzielle Angebot oder die Aussicht auf die Kapitänsbinde gewesen sein mag. Philipp Lahm wird sich von Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge angehört haben, wie diese die Zukunft des Vereins planen, und diese Vision wird ihn überzeugt haben oder zumindest gangbar erschienen sein. In einem SPIEGEL-Interview aus dem Mai 2008 nennt er einen Aspekt, der mir persönlich besonders plausibel erscheint, weil er zu der für Philipp Lahm so typischen Melange aus Heimatverbundenheit und Ehrgeiz steht: „Aber ich habe mich gefragt, was ich wohl mache, wenn hier bei Bayern etwas Großes passiert und ich nicht dabei bin.“

Im Endeffekt wäre Philipp Lahm am liebsten sein Leben lang bei der FT Gern geblieben. Es dauerte eine Zeit, bis er sich mit dem Gedanken arrangieren konnte, schlichtweg zu gut für diesen Verein zu sein. Ähnliches galt nun für ihn in der Phase um 2008 beim FC Bayern: Hier der FCB, der international ein ums andere Mal nicht über das Viertelfinale der Champions League hinauskam, dort der Spieler Lahm, der das Interesse sämtlicher Spitzenclubs auf sich gezogen hatte und ähnlich wie zuvor Michael Ballack derartige Probleme durch einen Wechsel zu einem solchen Top-Club von heute auf morgen für sich hätte lösen können.

In jedem Fall war es offensichtlich, dass Lahm zu jener Zeit vom internationalen Standing und der Perspektive her in besserem Licht stand als der Verein Bayern München selbst. Und es ist nicht hoch genug zu bewerten, dass er im Chaos der Klinsmann-Zeit und insbesondere nach der 4:0-Klatsche gegen den FC Barcelona 2009 nicht den Absprung suchte, sondern den Glauben daran aufrecht hielt, diesen Rückstand aufholen und mit dem FCB die Champions League gewinnen zu können. Er verknüpfte sein Schicksal, seinen Werdegang und seine persönlichen Erfolgsaussichten mit denen des Vereins und „opferte“ seine besten Jahre für ein Projekt, das – wie er selbst sagte – nicht von heute auf morgen zu realisieren, sondern auf mehrere Jahre angelegt war. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, dass er im November 2009 mit seinem Interview in der Süddeutschen Zeitung in derart deutlicher Art und Weise anlässlich der ausgebliebenen Fortentwicklung des Vereins Alarm schlug. Er sah die Fortentwicklung und damit die schlussendliche Erfolgsaussicht dieses Projekts ernsthaft gefährdet.

Für dieses Projekt hatte er Opfer gebracht, und damit ist nicht die Vertragsverlängerung gemeint: Er hatte sein Spiel umgestellt, persönliche Interessen hinten angestellt und war zur Inkarnation der Mannschaftsdienlichkeit geworden. Durch den Transfer von Marcell Jansen konnte Lahm zur Saison 2007/08 auf die rechte Seite wechseln, wo er nach eigener Einschätzung besser verteidigen kann, weil er dort unter anderem mit dem gegnernahen Bein in Zweikämpfen angreifen und unter Druck präziser den Ball die Linie entlang passen kann. Es war ihm vollauf bewusst, damit an Spektakularität einzubüßen und in der öffentlichen Wahrnehmung an Glanz zu verlieren, aber es war ihm wichtiger, seine Position des Verteidigers bestmöglich auszufüllen.

Lahm hatte erkannt, dass er dem FC Bayern auf höchstem Niveau mehr helfen würde, wenn er – nun, da es mit Ribéry endlich wieder einen Kreativspieler von Weltniveau gab – der Mannschaft defensive Stabilität verleihen könnte, anstatt die Linie rauf und runter zu rennen und in riskante, die Defensive entblößende Zweikämpfe zu gehen. Er rationalisierte sein Spiel und konzentrierte sich auf seine Kernaufgabe als Verteidiger; etwas mehr Maldini, etwas weniger Dani Alves.

Diese Umstellung seines Spiels musste er gegen gehörige Widerstände durchsetzen. In der Öffentlichkeit wurde dies überhaupt nicht goutiert: Der Kicker verbannte ihn in der „Rangliste des deutschen Fußballs“ zum einzigen Mal in seiner Karriere überhaupt ins „Blickfeld“ und bei der EM 2008 wuchs der mediale Druck derart an, dass Joachim Löw ihn während des Turniers von der rechten auf die linke Abwehrseite zurückbeorderte. Dies hing vor allem mit der schwachen Form von Marcell Jansen zusammen und auch im Verein sollte dieser Spieler ursächlich dafür sein, dass Lahm in der Saison 2008/09 unter Jürgen Klinsmann wieder als Linker Verteidiger zum Einsatz kam. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde Jansen nach Hamburg transferiert, Bayern lieh Massimo Oddo aus, der sich fortan Lahms Wunschposition mit Christian Lell teilte.

Es wäre für Lahm ein Leichtes gewesen, persönliche Interessen in den Vordergrund zu stellen und auf seiner Position zu beharren, wie das etwa Martin Demichelis vor dem Cottbus-Spiel im März 2008 tat, als dieser sich weigerte im Mittelfeld zu spielen. Lahm hatte erst im November 2007 beim 2:1-Erfolg der deutschen Nationalmannschaft über England im Wembley-Stadion auf eben jener Position ausgeholfen und derart stark aufgespielt, dass er auch auf dieser Position eine logische Alternative gewesen wäre.

Aber er fügte sich wie eh und je und spielte auf der Position, auf der er nun einmal am dringendsten gebraucht wurde. Dieses Problem, dass er nicht durchgängig dort spielen durfte, wo er am stärksten war (oder sich zumindest am wohlsten fühlte), sollte sich durch seine gesamte Karriere ziehen, in der Nationalmannschaft wie im Verein.

Typisch daran ist, dass Lahm auch auf dem Platz stets die Unzulänglichkeiten seiner Mitspieler kompensieren musste: Sei es direkt, weil er katastrophale Zuspiele unter höchstem Druck verarbeiten musste und dies oft so aussehen ließ, als wäre es das Einfachste auf der Welt; sei es indirekt, weil er als Balancegeber stets darum bemüht war, wie eine Klimaanlage auf dem Platz die „Temperatur“ zu regeln. Spielte die Mannschaft zu wild und zu direkt, bemühte Lahm sich darum, das Spiel zu beruhigen und Kontrolle auszuüben. War das Spiel zu statisch, initiierte Lahm schnellere Spielzüge, ließ den Ball zügiger zirkulieren und hinterlief seinen offensiven Mitspieler auf dem Flügel ein ums andere Mal, um diesem eine Anspielstation zu bieten oder zumindest den ausschließlichen Fokus der Abwehrspieler vom Ballführenden abzulenken.

Wie oft er allein diese mühsamen Wege unternahm, im Wissen höchstwahrscheinlich gar nicht angespielt zu werden, weil Robben oder Ribéry lieber den Abschluss oder das Dribbling suchen, lässt sich kaum zählen. Kein einziges Mal hat er sich dabei im Anschluss beschwert oder mit einer abfälligen Geste reagiert, sondern bei Ballverlust stets ohne Murren den sofortigen Rückweg angetreten.

Und es dürfte wohl ein offenes Geheimnis sein, dass ein Großteil des Glanzes, den Offensivspieler wie Ribéry oder Robben versprühen durften, im Grunde der permanenten Unterstützung und überlegten Absicherung Philipp Lahms zu verdanken sind.

Zum Ende der Saison 2008/09 war Philipp Lahm gerade einmal 25 Jahre alt, stand bereits im All-Star-Team der WM 2006 sowie der EM 2008, verkörperte auf beiden Außenverteidigerpositionen bereits seit 6 Jahren internationale Klasse, hatte in Wembley durchleuchten lassen, dies womöglich auch noch auf einer dritten Position zu sein und zeigte erste Ansätze strategischen Denkens. Er war zu jenem Zeitpunkt der beste deutsche Feldspieler und hatte anfängliche Mängel im Abwehrverhalten abgelegt, er kompensierte regelmäßig die Unzulänglichkeiten seiner Mitspieler auf dem Platz wie auch seiner Trainer an der Seitenlinie. Und dennoch gilt zu sagen: The best was yet to come.