Carlo Ancelotti: Problemzone 14
Es gibt viele Möglichkeiten, um Taktik zu visualisieren. Besonders beliebt ist die Einteilung des Spielfelds in unterschiedliche Bereiche. In der Lehre des Positionsspiels ist die Zerteilung in 18 Zonen üblich. Eine sehr wichtige ist dabei die sogenannte Zone 14. Sie ist der zentrale Raum zwischen den Ketten des Gegners oder auch der Zehner-Raum. Hier erfahrt ihr mehr über die Wichtigkeit dieses Bereichs.
Die Grundproblematik
Wir haben uns in den vergangenen Tagen bereits mit der V-Struktur des Italieners beschäftigt. Dabei ist aufgefallen, dass die Zone 14 nur selten besetzt ist und wenn doch, dann häufig durch einen Spieler der woanders Räume öffnet. Franck Ribéry nutzt diesen Raum beispielsweise gerne um seine Mitspieler im Zentrum zu unterstützen. Will man auch über die Mitte gefährlich werden, ist eine saubere Besetzung zwischen den Linien nötig.
Das Problem liegt hierbei eher an der Tatsache, dass durch die aufrückenden Außenverteidiger eine Absicherung im Halbraum ebenso notwendig ist. Die Achter kippen dafür meist heraus und versuchen so bei Ballverlusten sofort agieren zu können. Folglich sind die Münchner auf den Außenbahnen gut besetzt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bilden sie dort ihre Dreiecke und kombinieren sich bis an den gegnerischen Sechzehner. Der FC Bayern hielt sich bisher zu 73% auf den Flügeln auf (34% links, 27% zentral, 39% rechts). Im letzten Guardiola-Jahr war das ausgewogener (35% links, 31% zentral, 34% rechts).
Nachteile der Ancelotti-Struktur sind auf der einen Seite der daraus resultierende Flügelfokus, weil der Zehner-Raum nur unsauber besetzt ist, aber auch die erhöhte Anzahl an Flanken. Im Schnitt sind es derzeit 19 Flanken pro Spiel und damit drei mehr als in der vergangenen Saison. Da die eigentlichen Flügelspieler einrücken und Außenverteidiger ihre Positionen einnehmen, sinken auch die Dribblingwerte. Aktuell sind es 21 pro Spiel und somit 6 weniger als in der letzten Guardiola-Spielzeit. Fairerweise muss man aber auch ergänzen, dass der FC Bayern bisher größtenteils mit nur einem echten Flügelspieler agierte.
Individuelle Statistiken unterstreichen jedoch, dass die Münchner derzeit nicht nur zu abhängig von den Außen sind, sondern auch wenig Kreativität beim Eindringen in den Strafraum beweisen. David Alaba schlägt beispielsweise im Moment 6,7 Flanken pro 90 Minuten. Vergangene Saison waren es in den Einsätzen als Außenverteidiger nur 1,2 pro Spiel. Er streut also deutlich mehr Hereingaben ein, weil er zunächst mal nicht die Qualitäten im Eins-gegen-Eins besitzt wie andere Spieler im Kader, aber auch, weil die Unterstützung in Zone 14 mangelhaft ist.
Den Münchnern fehlt über weite Strecken ein Netz, das dem Offensivspiel Struktur gibt. Das Dilemma für Ancelotti ist, dass er den zentralen Offensivbereich mit genügend Spielern besetzen muss, aber gleichzeitig nicht die Durchschlagskraft auf den Flügeln vergessen darf. Natürlich wird die aktuelle Spielweise gegen sehr viele Mannschaften ausreichen, aber das Spiel in Madrid hat aufgezeigt wie wichtig die saubere Raumbesetzung im Zentrum ist. Wie kann der Italiener also diese Zone konsequenter besetzen, Eins-gegen-Eins-Situationen auf den Flügeln provozieren und für Absicherung bei Ballverlusten sorgen?
Mit der Dreierkette zur Offensivstruktur
Auf dem Papier klingt alles ganz einfach, denn die Abkehr von der 2-3-Staffelung im Aufbau würde schon einiges beheben. Mit der richtigen Besetzung könnte man so sogar gute Ansätze finden, um das Problem mit Thomas Müller zu lösen. Die Dreierkette bringt viele Möglichkeiten mit und könnte strukturell auch für mehr Spieler zwischen den Linien des Gegners sorgen. Es gibt verschiedene Varianten für eine solche Struktur.
Asymmetrische Flügelspieler
An der Grundordnung würde sich durch einige Asymmetrien nicht viel ändern. Lediglich das Positionsspiel wäre etwas anders. Mit Philipp Lahm und David Alaba hat der FC Bayern zwei Außenverteidiger, die im Passspiel überdurchschnittlich gute Qualitäten haben.
Einer der beiden könnte sich so tiefer positionieren, um die absichernde Rolle bei Kontern einzunehmen. Im Idealfall wäre das wohl eher der Kapitän, da Alaba in der Offensive stärker ist. Der aufrückende Österreicher würde dafür sorgen, dass Ribéry weiterhin seine freie Rolle als einrückender Flügelstürmer bekleiden könnte. Auf der anderen Seite gäbe es für Robben aber die Möglichkeit die Breite zu suchen. Dort müsste man dann natürlich versuchen den Niederländer in aussichtsreiche Eins-gegen-Eins-Duelle zu bringen.
Die wichtigste Änderung in diesem System betrifft aber das Zentrum. Müller, Lewandowski und Ribéry wären hier im ständigen Wechsel und könnten diese Position regelmäßig und konsequent besetzen. Gerade Thomas Müller fühlt sich in der Rolle sehr wohl. Dort kann er um die Sturmspitze herum arbeiten, die Außenbahnen über die Halbräume unterstützen und mit seinen klugen Laufwegen Räume in wichtigen Zonen aufreißen. Es ist die erprobte Idealposition für den 27-Jährigen. Durch die Flexibilität in dieser Offensivstruktur würde es zumindest theoretisch genügend Bewegung geben, um die Ketten eines gut organisierten Gegners zu knacken. Einer der Achter, beispielsweise Vidal, könnte zudem jederzeit das offensive Zentrum überladen, wenn es die Situation hergibt.
Die asymmetrischen Anordnungen würden für eine gute Besetzung auf den Flügeln sorgen, aber durch den Austausch eines Achters mit dem offensiveren Thomas Müller käme es auch zu mehr Akteuren in den zentralen Zwischenräumen. Diese Idee verschiebt Carlo Ancelottis V etwas und bringt so mehr Präsenz im Zehner-Raum. Es wären dennoch weiterhin Spieler zur Absicherung vorhanden und auch die Besetzung der Außenbahn käme nicht zu kurz, da es überall auf dem Feld viele Verbindungen gäbe. Der wohl größte Vorteil dieser Struktur dürfte aber der direkte Zugriff auf den Gegner bei Ballverlusten sein. Mutig interpretiert ist sie ideal für ein gutes Gegenpressing.
Thiago als echte Nummer Zehn, Lahm in Hybrid-Rolle
Es gibt natürlich auch die Möglichkeit Zone 14 halbwegs fest zu besetzen. Halbwegs, weil die Bewegungsabläufe gerade im Bayernspiel so flexibel sind, dass es immer zu Positionswechseln kommen wird.
Mit Thiago hat man allerdings einen Spieler in den eigenen Reihen, der die technischen Fähigkeiten für eine hohe Spielmacher-Rolle besitzt. Er verfügt über Nadelspieler-Qualitäten, kreiert Verbindungen und kann zu jeder Zeit einen tödlichen Pass in die Tiefe spielen. Rüstzeug das im übrigen auch Mario Götze mitgebracht hätte. Thiago ist darüber hinaus aber auch ein häufig unterschätzter Zweikämpfer. Im Gegenpressing könnte er in erster Linie attackieren und das Geschehen des Teams gegen den Ball lenken. In der Bundesliga gewinnt der Spanier 57% seiner Zweikämpfe und das vor allem deshalb, weil er klug aus der Kette herausrücken kann.
Der 25-Jährige steht ohnehin vor einer richtungsweisenden Saison. Seine Leistung wird großen Einfluss auf den Erfolg der Bayern haben. Bisher war er nie der Unterschied-Spieler über eine ganze Spielzeit. Das könnte sich jetzt erstmals ändern. Bereits in den ersten Wochen hat der Nationalspieler gezeigt, dass er das ganze Zentrum an sich reißen kann. Auch im bisher schwierigsten Spiel, gegen Atlético Madrid, war er bis zu seiner Auswechslung der auffälligste Mann auf Bayern-Seite. Thiago besitzt die Intelligenz für diese anspruchsvolle Position und könnte beispielsweise in einem 3-2-3-2 die vielleicht wichtigste Position des Systems einnehmen.
Diese Formation war in der Vergangenheit unter Guardiola immer wieder zu sehen. Richtig umgesetzt spannt sie ein Netz über das gesamte Spielfeld und kreiert überall Dreiecke. Darüber hinaus lässt sie sich aber auch ganz schnell in ein 4-1-4-1, 4-2-3-1 oder 4-4-2 gegen den Ball verwandeln. Auch eine Fünferkette wäre ohne große Verschiebungen möglich.
Die besten Optionen für ein flexibles System sind Joshua Kimmich und Philipp Lahm. Beide können mehrere Positionen bekleiden und so in Hybrid-Rollen verschiedene Formationen während des Spiels ermöglichen. Lahm spielte eine solche in der vergangenen Saison als er Rechtsverteidiger und Achter zugleich war. Dort hatte der Kapitän seine vielleicht stärkste Phase in den letzten Jahren. Er ist in der Lage von dieser Position aus ein Spiel zu dominieren. Warum also nicht zurückkehren in ein System, das den besten deutschen Fußballer seiner Generation wieder hervorheben würde?
Die Vielfalt der Optionen nutzen
Ancelotti gilt als Pragmatiker. In 9 Pflichtspielen sahen die Zuschauer 9 Mal das 4-3-3-System. Es ist unwahrscheinlich, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird. Dennoch sollte sich der Italiener überlegen die Dreierkette wieder einzuführen. Sie löst nicht nur die Frage wie die Bayern mehr Spieler zwischen die Linien des Gegners bekommen, sondern vereinfacht darüber hinaus auch noch den Aufbau.
Er hat dabei alle Optionen. Gegen stärkere Gegner könnte er mit Martínez, Hummels, Boateng, Alaba und Lahm fünf Weltklasse-Verteidiger aufstellen. Das System erlaubt aber auch den Einsatz von bis zu 5 Offensivspielern. Will man also eine tiefstehende Mannschaft bespielen, könnte so die „Lineup of Death“ zurückkehren.
Der Bayern-Trainer müsste nicht mal die Grundausrichtung ändern um mit einer Dreierkette zu agieren. Aus seinem 4-3-3 lassen sich durch die genannten Asymmetrien, aber auch durch ein besseres Positionsspiel sehr schnell Strukturen aufbauen, die dem Offensivspiel der Bayern helfen würden.
Fazit: Mehr Mut im Zentrum
Letztendlich lassen sich die Probleme im Zentrum auf das tief positionierte Mittelfeld-Trio beschränken. Nur selten gibt es Vorstöße der Achter. Noch seltener traut sich einer der drei Akteure die zentrale Offensive so zu überladen wie es beispielsweise Schweinsteiger in seiner besten Phase beim FC Bayern tat. Am ehesten wird dieser Rolle noch Joshua Kimmich gerecht. Der 21-Jährige, Vidal und Thiago funktionierten im Mittelfeld der Bayern noch am besten.
Ancelotti hat die Option einen Achter gegen Müller auszutauschen, mit asymmetrischen Positionierungen für bessere Struktur im Zehner-Raum zu sorgen oder die Achter generell höher agieren zu lassen. In jedem Fall muss er diesen Bereich konsequenter besetzen und mehr Verbindungen zwischen den Offensivspielern kreieren. Ob der 57-Jährige aus Problemzone 14 einen Kreativbereich machen kann, wird maßgeblich über seinen Erfolg in München mitentscheiden.