Die Fernschusstore bei der Euro 2024 im Faktencheck: Wie nachhaltig ist der Boom?

Georg Trenner 23.06.2024

Hjulmand gegen England, Güler gegen Georgien und Wirtz gleich zum Auftakt der Europameisterschaft. Sehenswert. Ein Trend, der ein Gefühl von Fußballromantik hervorruft. Ein Gefühl, das so herrlich zu dieser Europameisterschaft passen will.

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Ein Trend, der dem klinischen, modernen, durchoptimierten Fußball zu widersprechen scheint. Doch wie nachhaltig ist diese Rückkehr zum einfachen Fußball, zum historischen Fußball? Miasanrot schaut auf die Zahlen und Erklärungen.

Nerds gegen Fernschüsse

Der Blick auf Daten und der Versuch, auf dieser Basis Strategien auszuklügeln, die im Wettbewerb einen kleinen Vorteil bringen ist so alt wie der Sport selbst. Neu ist, dass immer mehr Daten verfügbar sind. Das bringt neue Ideen mit sich. 

Vom FC Liverpool ist bekannt, dass die Analysten den Trainern und Spielern seit zehn Jahren davon abraten, aus der Distanz zu schießen. Bei Pep Guardiola gehört das Vermeiden von Fernschüssen zur DNA.  

Der Gedanke dahinter ist naheliegend. Nur rund jeder 40. Schussversuch von außerhalb des Strafraums wird ein direktes Tor. Vierzig! 39 von 40 Schüssen aus der Distanz werden abgeblockt, gehen am Tor vorbei oder werden vom Torhüter gehalten. 

Zum vollständigen Bild gehört, dass einige der Fehlschüsse auch zu Ecken abgewehrt oder zu gefährlichen Abprallern und so indirekt zu Toren werden. Das verbessert die Quote ein bisschen, aber sie bleibt niedrig. 

Bei Abschlüssen innerhalb des Strafraums landet jeder sechste Schuss im Netz. Ein um ein Vielfaches besserer Wert. Diese Erkenntnis hat sich im letzten Jahrzehnt im Weltfußball durchgesetzt und zu einem Rückgang von Fernschüssen und folglich von Fernschusstoren geführt. 

Analyse des Fernschusstore-Booms bei der Europameisterschaft 2024

Boom der Fernschusstore

Und dann eröffnete Florian Wirtz die Europameisterschaft nach zehn Minuten mit einem Fernschusstor. Emre Can beendete das Auftaktmatch mit einem weiteren Treffer aus der Distanz. 

Michel Aebischer legte im zweiten Spiel nach. Die Spanier machten bei dem Trend nicht mit. Natürlich nicht. Aber Nicolò Barella dann doch: Nach vier Spielen standen vier Fernschusstore auf der Habenseite. Der fußballerische Trend der Euro 2024 war geboren.

Seit den ersten Beobachtungen des Phänomens sind bereits einige weitere Spiele ins Land gezogen. Die Zahlen sind nicht mehr so außerirdisch wie nach dem ersten Spieltag, aber immer noch außergewöhnlich.

Zwei Spieltage je Gruppe sind gespielt. In bisher 24 Spielen bei der Europameisterschaft fielen 61 Tore, 14 davon aus der Distanz. Distanz- bzw. Fernschusstore werden hier als solche definiert, die von außerhalb des Strafraums erzielt werden. 

Pro Spiel sind das 0,6 Tore aus Fernschüssen. Das ist doppelt so viel wie bei den sechs Europameisterschaften und Weltmeisterschaften seit 2012. Für ältere Turniere liegen uns keine Daten vor. 

Schaut man auf die Tore pro Spiel, ist der Trend ebenfalls sichtbar. 14 von 61 Toren entsprechen einem Anteil von 23%. Im Verhältnis aller Tore ist auch dieser Wert fast doppelt so hoch wie bei den letzten großen Turnieren.

Zu Beginn der Europameisterschaft war der Anteil noch höher. Von den ersten 39 Toren wurden 11 aus der Distanz erzielt (28%).

Gründe für den Boom 

Der Trend der Turniere von 2012 bis 2022 ist der Trend im Weltfußball: Teams schießen weniger aus der Distanz. Sowohl gemessen an Schüssen insgesamt als auch gemessen an Abschlüssen pro Spiel. 

Das hat sich bei der Europameisterschaft 2024 geändert. Die Kurve zeigt wieder nach oben. Teams schießen wieder öfter aus der Distanz. Ein Stück weit könnte es sich um eine selbsterfüllende Prognose handeln. Teams sehen die Weitschusstore aus den ersten Spielen und werden selbst mutiger. 

Der erhöhte Anzahl von Fernschüssen pro Spiel reicht aber nicht als Erklärung des Trends. Schließlich liegen die 10,4 Schussversuche pro Spiel von außerhalb des Strafraums bei der Euro 2024 weiterhin unter den Schussversuchen der Turniere von 2012 bis 2018. 

Der größere Faktor ist die Erfolgsquote (Conversion Rate). 250-mal schossen Teams bei der Europameisterschaft bisher aufs Tor. 14-mal landete der Ball im Netz. Die Erfolgsquote von rund 6% ist außergewöhnlich hoch.

Bei den Turnieren seit 2012 lag diese Erfolgsquote für Fernschüsse durchschnittlich bei rund 3%, wobei von 2012 bis 2020 ein Anstieg zu sehen ist. 

Woran liegt die verbesserte Quote? Sind die Schützen besser geworden? Treffen Teams eine bessere Schussauswahl – schließlich umfasst das Cluster “Schüsse außerhalb des Strafraums” ein buchstäblich weites Feld. Es macht einen Unterschied, ob man aus 17 Metern zentraler Position oder aus 29 Metern von halblinks abschließt. 

Oder ist es doch nur Zufall, ein Ausreißer bei den bisherigen Spielen der Europameisterschaft?

Nagelsmann sollte sich nicht vom Trend anstecken lassen

Viel spricht für eine Kombination aus allen Faktoren. Eine spontane europaweite Verbesserung der Schusstechnik oder der strategischen Schussauswahl in dem Umfang wäre die unwahrscheinliche Antwort.

Ein Teil der Antwort könnte auch im veränderten Abwehrverhalten liegen. Wenn Defensiven lernen, dass Angreifer immer seltener aus der Distanz schießen, passen sie ihr Abwehrverhalten an. Abwehrreihen lassen Schüsse mit niedrigen Erfolgswahrscheinlichkeiten bewusst zu, um gute Passoptionen zu dann großen Chancen durch ein zu aggressives Herausrücken zu vermeiden.

Ganz ohne Fernschüsse ging es nie und geht es auch jetzt nicht. Ein Fernschuss ab und an lohnt alleine, um Abwehrreihen in Unsicherheit zu versetzen. Die Erfolgswahrscheinlichkeit für Abschlüsse im Strafraum bleibt trotz der jüngsten Trends um ein Vielfaches höher. 

Clevere Teams werden sich von dem Hype nicht anstecken lassen, sondern auf ihre Analysten hören. Im Strafraum wird durchschnittlich jeder sechste Schuss ein Treffer, bei Deutschland bei der bisherigen Europameisterschaft sogar jeder vierte. Das deutsche Team sollte weiterhin versuchen, über Musiala, Gündoğan, Havertz und Co. in den Strafraum zu kombinieren und dort Chancen mit hoher Torwahrscheinlichkeit zu kreieren. 

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