EM-Blog, Tag 8: Dayot Tuppermecano und die Mär vom unpolitischen Turnier

Justin Trenner 21.06.2024

Auch an Tag 8 der EM 2024 gibt es schöne Tore, schöne Spiele und eine tolle Atmosphäre. Das Turnier hält, was es versprochen hat.

Die Ukraine holt einen wichtigen Sieg gegen die Slowakei, Österreich kommt im Turnier an und die Niederländer und Frankreich liefern sich ein am Ende torloses Remis. Doch auch politisch gibt es besorgniserregende Entwicklungen, die Aufmerksamkeit verdienen.

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Deshalb wird der EM-Blog zum achten Tag der Europameisterschaft in Deutschland auch einen Tick länger. Let’s go!

Slowakei 1:2 Ukraine: JAAAAAAAAA-remchuk!

Die Ukraine lebt! Und wie hat es mich aus dem Stuhl gerissen, als Yaremchuk das 2:1 für das vom Krieg gebeutelte Land geschossen hat. Fußball ist manchmal mehr als ein rollender Ball. Für viele Ukrainer*innen ist es derzeit die Möglichkeit, etwas anderes als Trauer, Angst und Wut zu fühlen. Die Möglichkeit, aus dem tristen Alltag zu entfliehen.

Wie sehr das die Spieler unter Druck setzt, sieht man auf dem Platz. Auch gegen die Slowakei tat man sich lange schwer, die eigene Qualität auf den Platz zu bringen. „Es ist schwer für uns, sich zu motivieren. Das ist wie ein schlimmer Albtraum, den wir vergessen müssen“, erklärte Führungsspieler Oleksandr Zinchenko vor der Partie: „Es fällt einigen schwer, zu erkennen, dass wir wirklich alles geben müssen, um hier ein gutes Ergebnis zu erzielen.“

Gegen die Slowakei kam die Ukraine aber eindrucksvoll zurück, kämpfte um jeden Ball und belohnte sich. Erst mit dem Ausgleich durch Mykola Shaparenko und dann eben durch Roman Yaremchuk, der nach einem herausragenden Pass in die Tiefe die Kugel über die Linie zitterte. Wer in die nassen Augen und die lächelnden Gesichter der Fans geschaut hat, der weiß, was dieser Sieg bedeutet hat.

Es wird schwer für die Ukraine, dieses Turnier noch sonderlich erfolgreich zu gestalten. Aber jeder Moment des Glücks ist einer, der Teilen des Landes vielleicht wieder einen kleinen Prozentpunkt mehr Kraft gibt.

3:1 gegen Polen: Österreich ist angekommen!

Die Österreicher sind jetzt auch im Turnier angekommen. Gut, sie hatten mit Frankreich einen denkbar schweren Auftaktgegner, doch die Leistung war über weite Strecken einfach nicht das, was man dem Team von Ralf Rangnick zugetraut hat. Einen Geheimfavoriten konnte man dort jedenfalls nicht ausmachen. Den Witz mit dem „Geh-Heim-Favoriten“ habt ihr jetzt gebracht und nicht ich.

Auch gegen Polen gab es Phasen, in denen die Österreicher zu schläfrig, zu behäbig und zu passiv waren. Beispielsweise rund um den Ausgleich von Krzysztof Piatek. Im zweiten Durchgang kam man aber genauso motiviert aus der Kabine, wie man das Spiel im Berliner Olympiastadion begonnen hatte, als Gernot Trauner die frühe Führung mit wuchtigem Kopfball besorgte (9.). Österreich kam also endlich mal ins Rollen.

Christoph Baumgartner (66.) und Marko Arnautovic, der in der 78. Minute einen eher albernen Elfmeter verwandelte, schraubten auf 3:1 für Österreich. Hochverdient. Die Intensität und das Pressing sind beeindruckend. Das wird auch die Niederländer vor Probleme stellen. Und Robert Lewandowski? Der ist jetzt tatsächlich „Geh-Heim-Favorit“.

Niederlande 0:0 Frankreich: Dayot Tuppermecano

Wir haben das erste 0:0 bei diesem Turnier. Immerhin eins der unterhaltsameren Sorte. Beide Mannschaften spielten munter nach vorn und kamen auch zu Chancen. Nur die Tore wollten nicht fallen.

Am Ende hatte die Niederlande gleichzeitig Pech und Glück. Pech, weil sie das einzige Tor des Abends schossen und es wegen einer Abseitsposition aberkannt wurde. Glück, weil Frankreich in der zweiten Halbzeit das stärkere Team war und allein durch Griezmann zwei-, dreimal hätte treffen können.

Eine sehr starke Leistung zeigte Bayerns Dayot Upamecano, der dafür sorgte, dass Memphis Depay fast keinen Fuß in das Spiel bekam und auch die dynamischen Niederländer Xavi, Gakpo und Frimpong gut im Griff hatte, wenn er gegen sie gefordert war – oder, um es etwas moderner zu formulieren: Die Niederländer wurden von ihm eingetuppert. Auch im Aufbauspiel gab Dayot Tuppermecano gute Impulse.

EM 2024: So schön unpolitisch?

Der ewige Quatsch-Schrei danach, dass sich Sport und Politik trennen ließen, ist bei dieser EM in einigen Kommentarspalten auch wieder mit am Start. Ein Blick auf die Werbebanden und die Präsenz von Katar oder chinesischen Firmen, die in der Kritik stehen, reicht da eigentlich schon aus. Trotzdem herrscht bei vielen die Meinung vor, diese EM sei endlich mal wieder unpolitisch. Endlich mal wieder mit Fokus auf den Fußball.

Das kann man sich natürlich so gestalten, weil es das erste Turnier seit 2016 ist, das nach Russland, Coronapandemie und Katar nicht durch politische Themen überschattet wird. Doch es ist eben genau das: Gestaltung nach eigenen Vorstellungen und dementsprechend ein aktives Ausblenden dessen, was wirklich passiert.

Wie die Sportschau und User*innen in den sozialen Netzwerken berichten, gibt es bei der EM zahlreiche rechtsextremistische Vorfälle. Kroatische und albanische Fans hatten am Mittwoch in Hamburg „Ubi, ubi, ubi Srbina“ skandiert – übersetzt: Tötet, tötet, tötet den Serben. Der serbische Verband forderte daraufhin Konsequenzen, die UEFA ermittelt.

Serbien selbst wurde vom Verband bereits für eine Flagge im Stadion bestraft, die die Landkarte Serbiens inklusive des Kosovo gezeigt hatte. Der Kosovo ist seit 2008 unabhängig. Laut dem BR-Politikmagazin Kontrovers sollen serbische Fans vor dem Spiel gegen Slowenien den Namen von Ratko Mladic gerufen haben – ein verurteilter serbischer Kriegsverbrecher. Auch Wladimir Putins Name soll in Gelsenkirchen von Serben skandiert worden sein.

Albanier wiederum hatten eine Flagge der UÇK gezeigt – eine paramilitärische Organisation, die in den Neunzigern für die Unabhängigkeit des Kosovo gekämpft hatte und der zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.

Auch Fans aus dem deutschsprachigen Raum fallen negativ auf

Auch Österreichs Fans fielen am Freitagabend mit einer Fahne auf, auf der „Defend Europe“ stand. Unter diesem Slogan vereint sich Europas extreme Rechte gegen etwas, was sie den „Großen Austausch“ nennen. Dabei geht es um die Angst davor, dass die europäische Bevölkerung durch Migration „ausgetauscht“ werde.

Unter den türkischen Fans waren Anhänger der Grauen Wölfe – eine rechtsextremistische Bewegung. Der sogenannte Wolfsgruß sei in mehreren deutschen Großstädten bei den Feierlichkeiten der türkischen Fans zu beobachten gewesen. Der Autor Burak Yilmaz recherchiert seit Jahren zu dieser Bewegung und sagte der Sportschau: „Die Grauen Wölfe nutzen den Fußball für die Rekrutierung neuer Anhänger. Im Umfeld der Spiele der Nationalmannschaft versuchen sie, ihre Symbole zu normalisieren.“

Das sind längst nicht alle Beispiele – und die Beispiele betreffen auch nicht nur „die anderen“. Deutsche Fans sollen nach dem 5:1 gegen Schottland in Bremen, Warnemünde und zwei Orten im Saarland rechtsextreme Parolen gerufen und den Hitlergruß gezeigt haben. Das steht in den jeweiligen Polizeiberichten.

Nationalmannschaften und große Turniere fungieren immer als Bühne für politische Botschaften. Und nicht selten auch als Deckmantel für Rassismus und Rechtsextremismus. Die Details werden oft übersehen – auch weil wir aus unserer deutschen Perspektive heraus über viele Themen gar nicht Bescheid wissen. Aber eben auch, weil sie nicht thematisiert werden und es uns bequemer ist, das Turnier als unpolitisch zu betrachten.

Das ist es aber nicht. Der Rechtsruck in Europa macht auch vor dem Turnier in Deutschland nicht Halt. Natürlich stehen demgegenüber auch die vielen positiven Bilder, die die EM bisher geliefert hat. Fans aus unterschiedlichen Lagern, die gemeinsam feiern. Fans, die Diversität und Weltoffenheit repräsentieren. Und trotzdem sollte man nicht unter den Tisch kehren, was noch alles passiert. Denn das sind keine kleinen Details, über die man hinwegsehen kann.

Was sonst noch auffiel

  • Diese Europameisterschaft ist gefühlt das aus taktischer Sicht variabelste Turnier seit Jahren. Die klare Tendenz einiger Turniere in den 2010er Jahren war: Defensiv stabil sein, mit dem Ball nicht zu viel riskieren und so halt Kontrolle aufbauen, weil man ausnutzen kann, dass Nationalmannschaften in der Regel nicht allzu ausgeklügelte Lösungen für ein solches System haben. Insbesondere dann nicht, wenn man individuell noch unverschämt überlegen ist. Looking at you, Frankreich und England. Auch Portugal 2016 zählt natürlich dazu. Doch bei diesem Turnier sieht man fast alles. Attraktiven Gegenpressingfußball à la Österreich, strukturierten Ballbesitzfußball mit sehr guten Abläufen und vielen kreativen Ideen à la Deutschland oder Spanien, defensivorientierten, aber durchaus zielstrebigen Fußball des Top-Favoriten Frankreich und Chaos-Fußball à la Türkei. Nur die Engländer sch… halt rein mit ihrem, was auch immer das sein soll. Aber die verschiedenen Ansätze machen Spaß!
  • Klare Kanté! Mit 32 Jahren im Sommer 2023 seine Karriere auf Clublevel mit einem ablösefreien Wechsel in die Sportswashing-Pro-League in Saudi-Arabien beendet, nur um bei der EM 2024 in Deutschland dann noch zum letzten großen Tanz anzusetzen? Aktuell sieht es danach aus. Beeindruckend, was der Typ abreißt. Defensiv großräumig verteidigend wie eh und je, im Aufbauspiel kaum zu pressen und immer mit guten Ideen und offensiv fängt der Mann sogar manchmal an zu dribbeln – MIT ERFOLG! „Ich bin ersetzt“, wie Hasan Salihamidzic sagen würde. Chapeau, N’Golo Kanté!
  • Die Überschrift beim 15-Uhr-Spiel hätte auch „Schranz im Glück“ lauten können. Ivan Schranz ist aktuell der absolute Schlüsselspieler der Slowakei, hat beide Treffer für sein Team erzielt. Der 30-Jährige ist so ein bisschen der slowakische Ivan Perisic. Extrem zuverlässig, hohe Arbeitsrate, ein eher untypischer Flügelspieler, weil er körperlich viel robuster und etwas behäbiger ist als andere, aber genau deshalb auch ein interessanter Spielertyp für taktische Optionen. Mit seinem zweiten Treffer bei der EM ist er der erste Slowake, dem das gelingt.
  • Laut Medien soll der FC Bayern an Xavi Simons interessiert sein. Bedenklich: Seit es die Gerüchte gibt, ist der 21 am bayerischen Entscheidungsfindungssyndrom erkrankt. Bisher ist es noch nicht sein Turnier. Zwar zeigt Xavi in Ansätzen, warum er so ein geiler Kicker ist, nur im letzten Drittel kommen ihm dann häufig die falschen Einfälle. Okay, beim Abseitstor hat er alles richtig gemacht und wäre beinahe zum Matchwinner avanciert. Aber insgesamt ist der Auftritt noch ausbaufähig. Bleibt für die Niederlande zu hoffen, dass sich das schnell ändert. Ich hätte schon Lust darauf, dass die Oranje-Fans noch die eine oder andere Stadt unsicher machen. Andererseits würde eine starke Leistung Xavis womöglich die Verhandlungsposition der Bayern verschlechtern.



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