FC Bayern München – Kaderanalyse, Teil 1: Zu dünn?
Eine Frage, der wir uns in der Winterpause widmen. Wir zeigen, dass der verkürzte Blick auf dünnen oder tiefen Kader zu kurz greift. Eine Kaderanalyse umfasst mehrere Kriterien.
Die Kaderanalyse erfolgt in drei Teilen. Teil 1: Was macht die richtige Kaderzusammenstellung für einen Fußballverein wie den FC Bayern generell aus und wie groß soll der Kader insgesamt sein? Die Teile 2 und 3 folgen in separaten Artikel. Teil 3 stellt den aktuellen Kader des FC Bayern dem in den Teilen 1 und 2 ermittelten Idealkader gegenüber.
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FC Bayern München: Was macht den optimalen Kader aus?
Die Analyse der Kadergröße scheint einfach: Man vergleicht das Zielbild mit dem Ist-Zustand des Kaders. Gibt es eine oder mehrere Lücken, dann ist der Kader zu klein.
Das Problem: Beide Werte für die Gleichung sind schwierig zu messen. Und machen eindeutige Aussagen entsprechend kompliziert.
Wir nähern uns der Antwort an. Zunächst wird in diesem Artikel das Zielbild definiert: Was macht den richtigen Kader, den optimalen Kader für den FC Bayern aus?
FC Bayern München: Diese Probleme gibt es in der Kaderanalyse
Unterschiede von Klub zu Klub
Paris Saint-Germain hat eine andere Strategie als der FC Bayern. Die neureichen Franzosen kreierten in den letzten Jahren eine Fashion Brand. Neben der Ausrüstermarke „Jordan“ war es hierfür enorm wichtig, Megastars wie Neymar, Mbappé und Messi im Kader zu vereinen. Vielleicht wichtiger als die letzten Prozentpunkte an sportlichem Erfolg. Rein wirtschaftlich ging die Strategie auf.
Der FC Bayern wiederum hat andere Ziele und braucht dafür einen anderen Kader als RB Leipzig oder der FC Augsburg. Augsburg wiederum plant anders als der FC Heidenheim oder der SV Darmstadt. Heidenheim geht als Außenseiter und Abstiegskandidat in eine Bundesligasaison.
Für ihre Situation kann ein kleiner Kader mit einigen herausragenden Leistungsträgern wie Beste und Kleindienst eine zwar riskante, aber sinnvolle Strategie sein: Bleiben die Leistungsträger fit und in Form, sind Überraschungen möglich. Der FC Bayern hingegen muss sich allein schon wegen seiner breiter gestreuten Ziele anders aufstellen.
Abwägen zwischen unvereinbaren Zielen im Klub
Großer oder kleiner Kader? Teurer oder günstiger Kader? Erfahrene Spieler oder Platz für Talente? Die Spannungsfelder sind vielschichtig.
Budget vs. Kadertiefe: Es ist das ewige Tauziehen zwischen Finanzvorständen und sportlicher Leitung. Welches Budget dürfen Sportdirektor, Sportvorstand und der Trainer in die Mannschaft investieren? Neben rechtlichen Anforderungen (Lizensierung, Financial Fair Play) spielen die Liquidität und Finanzposition des Vereins hier eine große Rolle. Trainer hätten in der Regel am liebsten eine große Auswahl. Die Finanzabteilung achtet dagegen auf geplante und finanzierte Budgets.
Interner Konkurrenzkampf vs. Stimmung im Team: Uli Hoeneß spricht seit Jahrzehnten von der Gratwanderung: Einerseits immer wieder Reizpunkte im Kader setzen zu wollen, um ein Ausruhen mit sicheren Stammplätzen zu verhindern und dafür stets neue Stars verpflichten zu müssen; andererseits von der Gefahr, dass zu große Kader schlecht für die Stimmung im Team und das Teambuilding sind. Beide Blickwinkel sind berechtigt.
Kurzfristige Leistung vs. Durchlässigkeit für Talente: „Der neue FC Bayern soll auch eine Antwort auf den aktuellen Transferwahnsinn und die Gehälterexplosion sein“, so der damalige Präsident Uli Hoeneß bei der Einweihung des Campus. An ähnlichen Ankündigungen mangelt es beim FC Bayern nicht. Die Durchlässigkeit für Talente hat sich dagegen in den letzten Jahren mit der Ausnahme von Musiala kaum verbessert. Permanenter und absoluter sportlicher Erfolg steht beim FC Bayern über allem.
Dieses unbedingte Gewinnen-Wollen ist Teil der DNA des Vereins. Und dieses Gewinnen-Müssen macht es schwer, Talente zu fördern und zu viele Kaderplätze mit Talente zu besetzen.
Unterschiedliche Gruppen im Klub haben unterschiedliche Schwerpunkte
Das Tauziehen zwischen Trainer und Finanzvorstand wurde bereits angesprochen. Damit hört es nicht auf. Verschiedene Stakeholder im Klub haben verschiedene Ziele. Die Marketingchefin könnte eifersüchtig nach Paris schauen und sich einen Mega-Star wünschen. Der Sportvorstand macht sich Sorgen um die Gehaltsbalance. Der Trainer stellt den Spieler auf, der am Spieltag die beste Leistung bringt, auch wenn er am Saisonende ablösefrei den Verein verlässt, während der Campusleiter sich mehr Einsätze für seine Jungs wünscht.
Abwägen zwischen statischem und dynamischem Optimum
Nichts ist so unbeständig wie der optimale Kader. Hier eine Verletzung, da ein Abgang, dort eine Formkrise, schon sieht der gute Kader lückenhaft aus, und die Arbeit beginnt von vorne.
Das bringt eine weitere Komplikation in die Frage nach dem optimalen Kader: Optimal mit Blick auf eine Saison oder auf einen längeren Zeitraum? Der US-Sport hat System-bedingt meist nur kurze Titelfenster. Teams und Experten sprechen oft von „Win-Now-Fenstern“.
Teams sind bereit, wenn sie einmal im Fenster sind, durch Transfers und vorgezogene Ausgaben die kurzfristige Sieg-Wahrscheinlichkeit zu Lasten der Zukunft zu erhöhen. Bei den Los Angeles Rams und Tampa Bay Buccaneers führte die Strategie zu Super-Bowl-Siegen.
Fußball ist anders. Spitzenteams bleiben an der Spitze und das „Win-Now-Fenster“ des FC Bayern ist immer geöffnet. Und doch stellt sich auch für Fußballvereine die Frage nach dem Abwägen zwischen kurz- und mittelfristiger Planung. Sadio Mané und Harry Kane etwa waren Transfers mit einer klaren Kurzfristperspektive.
Optimiert man den Kader für ein Jahr, und das jedes Jahr neu, oder hat man eine Mehrjahressicht im Blick? In welchem Verhältnis kauft man fertige Superstars und aufstrebende Stars oder Talente ein? Verkauft man Leistungsträger rechtzeitig, um noch eine Ablöse zu erwirtschaften oder hält man sie so lange wie möglich im Kader? Stellt man den erfahrenen Routinier auf oder „investiert“ in die Lernkurve der Talente?
Erstes Zwischenfazit
Es handelt sich bei der Kaderoptimierung um ein komplexes Entscheidungsproblem, bei dem viele Ziele unter einen Hut gebracht und an der sportlichen Strategie des Klubs ausgerichtet werden müssen.
FC Bayern München: Auf der Suche nach der optimalen Kadergröße
Thomas Tuchel srach nach dem Ende des Sommertransferfenster davon, mit einem 18-Mann-Kader in die Saison 2023/24 zu gehen, während Transfermarkt 25 Spieler im aktuellen Bayernkader auflistet. Wie viele Spieler hat der Bayern-Kader wirklich? Und wie viele Spieler sollte der Bayern-Kader haben?
Die Reschke-Philosophie zur optimalen Kadergröße
Michael Reschke war in seinen Zeiten bei Bayer Leverkusen und dem FC Bayern als Tüftler und Kaderplaner bekannt, der sich viele Gedanken über die optimale Kadergröße machte. Im 11Freunde-Interview sprach er 2014 nach seinem Wechsel zum FC Bayern über seine Kaderphilosophie und erklärte, dass „20 oder 21 Spieler des Kaders in der Regel über 95 Prozent der Nettospielzeit einer Saison“ absolvieren. Die Kadergröße solle nie mehr als 25 Spieler umfassen.
Die Größe der Bayern-Kader seit 2010
Die Analyse der Einsatzzeiten seit 2010 zeigt, dass beim FC Bayern im Durchschnitt nur 18 Spieler benötigt wurden, um die von Reschke genannten 95% der gesamten Spielzeit zu absolvieren.
Beispiel: In der Saison 2019/20 bestritt der FC Bayern 52 Pflichtspiele. 52 mal 90 Minuten mal elf Spieler ergeben 51.480 Minuten Gesamtspielzeit. Durch drei Platzverweise waren es tatsächlich nur 51.380 Minuten. Von diesen Minuten absolvierten die Top-Fünf Neuer, Kimmich, Lewandowski, Pavard und Alaba zusammen 20.748 Minuten. Das entspricht 40% der Gesamtspielzeit und liegt knapp über dem langjährigen Mittel von 38% (siehe Abbildung). Die Top-18 kamen 2019/20 auf 98% der Spielzeit und im Durchschnitt aller Pflichtspiele seit 2010 auf 95%.
Die gleichen Daten anders aufbereitet ergeben folgendes Bild.
In den 13 Saisons von 2010/11 bis 2022/23 setzte der FC Bayern in allen Pflichtspielen im Durchschnitt 27 Spieler pro Saison ein, die wenigsten Spieler setzten sie 2011/12 ein, als Heynckes mit 21 Spielern auskam, den Höchstwert von 35 Spielern erreichten sie 2020/21 unter Hansi Flick.
Die Zahl der eingesetzten Spieler alleine sagt wenig über die Kadertiefe aus. Kurzeinsätze zu Saisonbeginn von Spielern, die danach den Verein verlassen (wie Gravenberch und Pavard 2023) verzerren das Bild ebenso wie viele Jugendspieler, die jeweils nur wenige Minuten sammeln. Zu den 35 eingesetzten Spielern 2020/21 gehören etwa Ontuzans mit drei Minuten, Arp mit 13, der später abgegebene Cuisance mit 17, Sieb mit 26, Dajaku mit 29 usw.
Definition der Grenzen für eine relevante Datenerfassung
Eine relevantere Hürde bildet eine substanzielle Menge an Einsatzminuten. Die konkreten Grenzen kann man unterschiedlich ziehen, für die obige Tabelle haben wir uns deshalb drei verschiedene Grenzen angeschaut.
- 300 Minuten bilden eine erste Relevanzschwelle. 300 Minuten entsprechen zum Beispiel zwei Startelfeinsätzen und fünf Einwechslungen. Das ist eher Schnuppermitgliedschaft als vollwertiger Rotationsspieler. In der Saison 2023/24 kommen Sarr und Krätzig bereits zur Winterpause auf rund 200 Minuten. Über diese also relativ niedrige Schwelle schafften es beim FC Bayern im Durchschnitt 21 Spieler, in der Spitze 23 Spieler. Verletzungen außen vor braucht es also höchstens 21 gestandene Spieler, eher weniger.
- 1.000 Minuten bilden eine weitere Relevanzschwelle. Für 1.000 Minuten braucht es zum Beispiel zehn Startelfeinsätze und zehn Einwechslungen. Mit diesen Werten hat man einen relevanten Anteil am Saisonverlauf, wenngleich noch keinen maßgeblichen. Auf ungefähr 1.000 Minuten kamen etwa Sabitzer und Stanisic in der Saison 2022/23 oder Tolisso und Musiala in der Saison 2021/22.
- 2.000 Minuten bilden die Schwelle zu den Stammspielern, zur A-Rotation. 2.000 Minuten entsprechen 40-50% der möglichen Spielzeit pro Saison. Noch keine Dauerbrenner, aber ohne Zweifel braucht der FC Bayern hier Spieler mit Stammspielerqualität. Spieler wie Coman oder Goretzka kommen regelmäßig auf rund 2.000 Minuten. Im Durchschnitt werden seit 2010 13 Spieler mindestens 2.000 Minuten lang eingesetzt, während es nie mehr als 16 Spieler über diese Hürde schafften.
Der Blick auf tatsächliche Einsatzzeiten ist eine Ex-Post-Betrachtung und lässt schwere Verletzungen außen vor. Für diese braucht es im Kader zusätzlichen Puffer.
Zweites Zwischenfazit
Mit 18 Spielern, die oft genug fit und gut genug sind, um sie mindestens 1.000 Minuten pro Saison einzusetzen, deckt der FC Bayern im Durchschnitt 95% der gesamten Spielzeit aller Pflichtspiele pro Saison ab. Zu diesen 18 Spielern gehören dabei bereits Spieler wie Stanisic oder Tolisso, die eher für die Kaderbreite sorgten als den FC Bayern in der Spitze zu stärken.
Von diesen 18 Spielern kommen durchschnittlich nur 13 auf 40% oder mehr der Spielzeit.
Rechnet man auch jene Spieler dazu, die mit mindestens 300 Minuten Spielzeit eine erste Relevanzhürde überschreiten, braucht ein Kader 21 einsetzbare Spieler. Spieler, die in der Hackordnung (deutlich) nach Rang 20 kommen, sind – rein von den Minuten her – vernachlässigbar.
Ausblick
Die absolute Kadergröße ist eine wichtige, aber nicht die einzige Kennzahl zur Definition des idealen Kaders. Erst die Aufteilung jener Spieler in Superstars und Backups, unterschiedliche Positionen und weitere Kriterien geben das volle Bild wieder. Diese Analyse folgt im nächsten Teil.