Kommentar zum Fall Boateng: So einfach kommt der FC Bayern nicht davon
Der FC Bayern München sollte sich schämen. Genauer: Die Klubführung sollte sich schämen. Mittlerweile hat man sich offiziell gegen einen Wechsel von Jérôme Boateng positioniert. Der vermeintliche Grund: Eigentlich ist die Personalsituation ja jetzt doch wieder ganz in Ordnung.
Der vermutlich wirkliche Grund: Das Anteasern der sich anbahnenden Vertragsunterschrift hat den Bossen gezeigt, dass sie damit nicht durchkommen würden.
Wie der Klub alles, was rund um Boateng passiert ist, heruntergespielt hat, ist ein moralisches Armutszeugnis. Es sei eine „private Geschichte“, sagte Christoph Freund. Tuchel sprach von rein sportlichen Entscheidungen.
Abermals präsentierte sich der FC Bayern in seinem eigenen Kosmos fernab jeglicher Realität. Gewalt gegen Frauen ist keine „private Geschichte“, sondern stets Teil der Öffentlichkeit, in der wir leben. Zur Erinnerung: Boateng wurde vor ungefähr einem Jahr wegen Angriffen auf seine Ex-Verlobte in zweiter Instanz wegen Körperverletzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt.
Zur Wahrheit gehört dazu, dass der Fall in dritter Instanz neu aufgerollt wurde, das Urteil also zunächst aufgehoben und die Beweisaufnahme neu gestartet wird. Rechtskräftig belegt sind die Vorwürfe also nicht mehr. Juristisch gilt die Unschuldsvermutung.
Die Beweislast gegen den Fußballer bleibt aber erdrückend, die Recherche von Correctiv und SZ wird dadurch nicht hinfällig. Machtmissbrauch, Gewalt (psychisch und physisch), Hass, Erpressung – die Liste an Vorwürfen gegen Boateng ist lang.
Schon nach erster Instanz, in der er verurteilt wurde, legte die Boateng-Seite Revision ein und bekam eine Verhandlung in zweiter Instanz. Auch nach dem zweiten Urteil gegen ihn ist das wieder der Fall.
Jérôme Boateng: Fall wird neu verhandelt
Nach der abermaligen Revision wird der Fall voraussichtlich 2024 neu aufgerollt. Der Ausgang des Verfahrens ist offen. Trotzdem war der FC Bayern dazu bereit, die Grenzen auszutesten. Einmal die Reaktionen abwarten und schauen, ob man mit der dünnen Argumentationslinie irgendwie durchkommen kann. Einen Gefallen hat man sich damit nicht getan. Was noch diplomatisch ausgedrückt ist. Und das auf so vielen Ebenen.
Die wichtigste Ebene ist die Dehnbarkeit der eigenen Werte, für die man vermeintlich einsteht. Vermeintlich ist hier ein unumgängliches Wort, denn ein Awareness-Konzept für das eigene Stadion vorzustellen und gleichzeitig jemanden anstellen zu wollen, der im Verdacht steht, Gewalt gegen Frauen ausgeübt zu haben – das passt nicht zusammen.
Welches Signal sendet der Klub damit, das als „private Sache“ abzutun, die „Unschuldsvermutung“ (O-Ton Thomas Tuchel) dafür zu missbrauchen, einen möglichen Transfer zu rechtfertigen? Zumindest mal jenes, dass man das alles tatsächlich gar nicht so schlimm findet. Denn wer glaubt ernsthaft, dass die baldige Rückkehr der Verletzten oder die inhaltliche Argumentation der Kritiker*innen eine Rolle gespielt hätten? Dann hätte man sich von Beginn an anders verhalten.
FC Bayern München: Moralischer Kompass ist sehr dehnbar
Darüber hinaus signalisiert der FC Bayern, dass ihm die eigene gesellschaftliche Verantwortung egal ist. Awareness nur dann, wenn man selbst nicht in die Bedrängnis kommt, mehr als nötig zu tun. Der moralische Kompass ist dehnbar geworden. Eigentlich kann man sagen, dass er bei Entscheidungen keine Rolle spielt.
Der FC Bayern inszeniert sich gern als Klub mit historischer und gesellschaftlicher Verantwortung, wenn er dafür Applaus ernten kann. Seine Taten sprechen gegen ein tatsächliches Bewusstsein dafür.
Und dann, komplett untergeordnet, kommt noch dazu, dass dieser Transfer auch sportlich absurd gewesen wäre. Boateng hat in den letzten zwei, drei Jahren nichts mehr angeboten, was ihn für das Niveau des FC Bayern qualifizieren würde. Was sollen Jugendspieler vom Campus denken? Vielleicht, dass der eigene Klub lieber einen 35-Jährigen verpflichtet, der ein Gerichtsverfahren gegen sich laufen hat und sportlich seine guten Tage lange hinter sich hat, als auch nur eine Minute für sie einzuplanen?
Mit Boateng wäre absolutes Mittelmaß an die Säbener Straße gekommen – und das für ein paar Minuten gegen Saarbrücken oder Darmstadt. Dafür all die Diskussionen und die berechtigte Kritik in Kauf zu nehmen, wäre Wahnsinn gewesen.
Immerhin hat man sich davor noch bewahrt. Wenn auch aus völlig falschen Motiven. Wäre das ganze Drumherum nicht abermals so bitter enttäuschend für jenen Teil der Fans, die sich seit Jahren gesellschaftlich und politisch engagieren, wäre es fast schon wieder amüsant, wie der FC Bayern seine eigene Missplanung im Sommer mit jemandem wie Boateng zu kaschieren glaubte.
Keine zwei Monate hat es gedauert, da muss man sich schon eingestehen, dass der Kader doch nicht so exzellent geplant ist, wie es das Transferkomitee gern dargestellt hat.
Ja, der FC Bayern München sollte sich trotz der am Ende richtigen Entscheidung dafür schämen, dass er all das ernsthaft erwägt hat – und wahrscheinlich umgesetzt hätte, wenn der Test der eigenen Rechtfertigung in der Öffentlichkeit funktioniert hätte.