Manuel Neuer und die Schulter des Schreckens
Gastbeitrag von Titus (Twitter)
Wie ist das Schultereckgelenk aufgebaut und welche Funktionen erfüllt es?
Das Schultereckgelenk, auch Akromioclaviculargelenk (ACG) genannt, befindet sich über dem Schultergelenk, das aus Oberarmknochen und Schulterblatt gebildet wird. Es verbindet das Schlüsselbein (Clavicula) mit der sogenannten Schulterhöhe (Acromion), einem Vorsprung des Schulterblattes (Scapula). Umgeben ist das Gelenk von einer wenig stabilen Kapsel, die durch Bänder verstärkt wird. Das erste Band (Ligamentum Acromioclaviculare) verläuft dabei horizontal und verbindet Schlüsselbein und Schulterdach, das zweite Band (Ligamentum Coracoclaviculare) verläuft vertikal vom Schlüsselbein zu einem weiteren Vorsprung des Schulterblattes. Weiterhin helfen auch der Delta- und Trapezmuskel bei der Stabilisierung, vor allem bei Bewegung. Somit ist das Gelenk gegen eine Ausrenkung in horizontale und vertikale Richtung geschützt.
Man kann sich die Bestandteile des Gelenkes ungefähr wie ein Hausdach für das Schultergelenk vorstellen. Fasst man von oben mit der Hand auf die Schulter, dann spürt man das Schlüsselbein und das Acromion. Sie schützen wie das Dach des Hauses den Bewohner (in dem Fall das Schultergelenk) vor äußeren Einflüssen, sind deswegen aber auch teilweise erste Angriffspunkt bei z. B. Stürzen.
Hier sind die Knochen und Bänder der linken Schulter dargestellt. Der Blick ist von vorn auf die Schulter gerichtet.
1: Schlüsselbein
2: Ligamentum Coracoclaviculare. Es verläuft vertikal vom Schlüsselbein nach unten und sorgt für Stabilität nach oben und unten
3: Ligamentum Acromioclaviculare. Es überdeckt das eigentliche Gelenk und sorgt gleichzeitig für Stabilität bei seitlichen Bewegungen
4: Das Schulterdach (Acromion). Es ist Teil des Gelenks und schützt gleichzeitig noch den Oberamknochen (6)
5: Das Schulterblatt. An ihm setzt das vertikale Band (Ligamentum coracoclaviculare) an.
Obwohl es recht klein ist, hat es eine zudem eine große Bedeutung bei der Bewegung des Armes. Als Teil des Schultergürtels, welcher Arm und Körperstamm verbindet, ist es vielen Kräften ausgesetzt und muss entsprechend stabil sein. So werden z. B. beim Aufstützen die Kräfte auch in das Gelenk fortgeleitet.
Zugleich ist es auch bei der seitlichen Bewegung des Armes über Schulterhöhe im Einsatz. Da der Oberarmknochen bei über 90° Abspreizung an das Schulterdach anschlagen würde, erfolgt die sogenannte Elevation des Schulterblattes. Dabei rotiert das Schulterblatt vom unteren Pol nach außen, sodass der Oberarm mehr Spielraum nach oben hat und der Arm über 90° gehoben werden kann. Das ACG ist dabei ein wesentlicher Drehpunkt für das Schulterblatt.
Den Mechanismus kann man auch selbst nachvollziehen, indem man das Schlüsselbein tastet und den Arm langsam auf über 90° abspreizt. Das Schlüsselbein hebt sich, das ACG arbeitet.
Wie kommt es zu einer Verletzung?
Für eine Verletzung ist eine Krafteinwirkung auf die Schulter von Nöten. Man unterscheidet zwei Arten von Mechanismen. Zum einen kann durch einen Sturz auf die Schulter bei angelegtem Arm die Kraft direkt auf das Schulterdach wirken, sodass dieses nach unten verschoben wird und folglich die Bänder und die Kapsel in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit anderen Worten: Ein Baum stürzt direkt auf das Dach und beschädigt es dabei direkt.
Beim zweiten Mechanismus wird die Kraft bei einem Sturz auf den ausgestreckten Arm zum Schultereckgelenk fortgeleitet. Man kann sich das wie einen Blitzeinschlag vorstellen. Dort wird die Energie so lange weitergeleitet, bis sie auf einen Baum trifft, der dann Schaden nimmt.
Die meisten Verletzungen entstehen bei Kontaktsportarten oder Stürzen (beispielweise beim Ski- oder Radfahren). Torhüter sind durch Stürze auf die Schulter bei Paraden etc. einem Risiko ausgesetzt. Jedoch gibt es widersprüchliche Studien, ob jene eine höhere Rate an Schultereckgelenksverletzungen haben.
40% der Schulterverletzungen beim Kontaktsport haben mit dem ACG zu tun. Durch die Kraft kann es dann zu Schäden an der Kapsel, den Bändern, Muskeln und Knochen kommen. Am häufigsten sind dabei die Bänder betroffen.
Hierbei wird vor allem das horizontale Ligamentum Acromioclaviculare verletzt, da das vertikale Band etwas stabiler ist. Je nach Schwere und Anzahl der Bandverletzungen und dem Schiefstandes des Gelenkes wird dann in verschiedene Typen nach Rockwood eingeteilt.
Ein Beispiel: Bei einer Typ I Verletzung liegt eine Zerrung oder ein Einriss der Bänder vor, das Gelenk ist aber weiterhin stabil. Bei einer Typ II Verletzung besteht zusätzlich eine Teilausrenkung des Gelenkes. Dies führt zu einer geringeren Stabilität. Insgesamt gibt es 6 Typen.
Die Klassifikation hat vor allem für die Therapie eine Bedeutung.
Bei Manuel Neuer ist das Problem nicht nur ein aktuelles. Bereits 2014 verletzte der Nationaltorhüter sich vor der WM beim Pokalfinale gegen den BVB an der rechten Schulter. Er rutschte bei einer Klärungsaktion beim Aufstehen aus und fiel direkt auf die rechte Schulter. Die damalige Diagnose: Einriss des Kapsel-Band-Apparates. Neuer trug damals eine Zeit lang eine Schlinge um den rechten Arm, wodurch die Schulter ruhiggestellt werden sollte. Die Verletzung war also noch harmlos, kostete ihn aber fast die Weltmeisterschaftsteilnahme.
Nun verletzte sich der Torwart erneut. Julian Nagelsmann sagte in einer Pressekonferenz dazu: „Es ist eine blöde Stelle, Schultereckgelenk.“ Allerdings ist es diesmal das linke Schultereckgelenk, welches Probleme bereitet. Ursächlich war laut Medienberichten ein Ereignis im Training, höchstwahrscheinlich ein Sturz auf die Schulter. Allerdings handelt es sich diesmal nur um eine Prellung der Schulter. Bei einer Prellung kommt es nicht zu einem Band- oder Kapselschaden, viel mehr zu Gewebeschäden mit einhergehender Schwellung. Für Feldspieler ist das ein kleineres Problem als für Torhüter, da letztere die Arme öfter und vor allem über Kopf einsetzen. Das setzt die vorhin erklärte Elevation voraus, bei der auch das ACG arbeitet. Ist das Gebiet um das Gelenk nun geprellt, kommt es zu einer eingeschränkten Armbewegung und entsprechenden Schmerzen. Der ehemalige S04 Mannschaftsarzt, Dr. Andreas Falarzik, sagte dazu: „Verletzungen am Schultereckgelenk sind speziell für Sportler, die viele Überkopfbewegungen machen, wie Torhüter im Fußball oder Handball, immer schwierig“.
Wie wird bei Schultereckgelenksverletzungen therapiert?
Die Therapie ist abhängig von der Schwere der Verletzung. Für Typ 1 und 2 ist keine OP notwendig, es reicht ein Verband, Physiotherapie, Kälte und bei Bedarf Schmerzmittel. Sobald der Arm wieder normal ohne größere Schmerzen bewegt wird, kann man wieder mit dem Muskelaufbau und der Physiotherapie beginnen, um die Muskulatur und den vollen Bewegungsumfang wiederherzustellen.
Kontaktsport sollte bis zur Schmerzfreiheit vermieden werden, da der Schmerz das Signal für eine weiterhin bestehende Schädigung ist.
Bei schweren Verletzungen erfolgt eine OP, bei der die Bänder genäht, das Gelenk wieder eingerenkt und auch eventuelle Knochenbrüche behandelt werden.
Nun hat Manuel Neuer keinen Band oder Kapselschaden, sondern „nur“ eine Prellung. Die Therapie dafür ist allerdings ähnlich wie bei einer Typ I Verletzung. Wichtig ist eine schmerzfreie Bewegung des Armes. Dafür ist Schonung essenziell. Wenn man immer weiter mit Schmerzen trainiert kann es zu einer dauerhaften Reizung kommen und der Heilungsprozess könnte sich noch weiter verzögern. Das beste Beispiel gab Neuer selbst, indem er gegen Borussia Dortmund spielte und nun länger als geplant ausfällt. Das gab Nagelsmann im Nachhinein auch zu. Gegenüber der Bild sagte er: „Im Nachgang war das Dortmund-Spiel zu früh. Wir wollten unbedingt, dass er dort spielt und er selber wollte auch spielen. Das war eine gemeinsame Entscheidung.“
Seitdem wird also von Tag zu Tag geschaut, wie der Körper auf Belastung reagiert und diese dementsprechend angepasst.
Wie lange fällt man aus?
Die genaue Ausfallzeit hängt von vielen Faktoren ab. Bei weniger schweren Verletzungen und keiner OP (Typ 1 und 2) sind zwei Wochen als kürzeste Ausfallzeit möglich, bei OP sind es unter Umständen oft drei oder mehr Monate. Ohne OP ist die Ausfallzeit also geringer. Die Ausfallzeit ist allerdings sehr variabel. Dadurch, dass Neuer den Arm oft über 90° hebt, kann es durchaus länger dauern als z. B. bei einem Läufer, dessen Arm nicht weit vom Körper gestreckt wird.
Die Datenlage für leichte Verletzungen ist dabei nicht sehr umfänglich. Eine Studie, die sich mit Schultereckgelenksverletzungen im Profifußball beschäftigt, existiert zwar, differenziert aber nicht nach Schwere. Somit sind die dort genannten 50 Tage wenig aussagekräftig.
Im Gegensatz zu beispielweise Kreuzbandrissen kann man hier aufgrund der vielen zusätzlichen Faktoren (Bandverletzungen, Knochenbrüche, Beanspruchung etc.) nicht so exakt beziffern, wie lange ein Spieler ausfällt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verletzung von Neuer nicht so schwerwiegend wie 2014 ist, sie jedoch auch langwierig sein kann, da ein Torhüter die Schulter öfter als Feldspieler gebraucht. Es ist wichtig nicht zu früh zurückzukehren, um eine dauerhafte Schädigung zu vermeiden. Das kann man sich wie einen Handy Akku vorstellen, den man nicht komplett auflädt und immer wieder beansprucht. Irgendwann steht man mit leerem Akku im Spreewald und hat ein Problem.
Ist die WM-Teilnahme für Neuer in Gefahr? Eine eindeutige Prognose kann man nicht abgeben und möchte ich mir an dieser Stelle auch nicht zutrauen. Dazu fehlen einfach zu viele Blicke in das Trainingsprogramm, Neuers Feedback zu Schmerzen und Beweglichkeit und Untersuchungsergebnisse. Das macht eine Einschätzung von außen schwer, zumal viel auch von der Rückmeldung Neuers auf Belastung ankommt. Es kann jederzeit wieder zu Rückschlägen kommen, die niemand vorhersagen kann. Die Reha ist leider keine Gerade, die immer stetig nach oben verläuft, sondern ein auf und ab. Julian Nagelsmann sagte auf der PK vor dem Spiel gegen Inter Mailand: „Es sieht gut aus. Er hat alles gut verkraftet, auch die Stoßbelastung auf die Schulter“.
Diese Aussage stimmt mich sehr positiv, da Neuer nun bereits wieder torwartspezifisches Training absolviert. Das stellt den fast letzten Schritt zur Rückkehr dar und bedeutet, dass bei isolierten Kraftübungen nun ein deutlicher Fortschritt gegenüber den letzten Wochen zu verzeichnen ist. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass man ihm Zeit zur Genesung gelassen hat. Die ist gerade bei sehr belasteten Stellen wichtig, damit die Genesung vollständig abgeschlossen ist. Ein zu früher Einstieg hätte wahrscheinlich kurzfristig funktioniert, langfristig aber unter Umständen mehr Schaden als Nutzen verursacht. Es besteht bei mir also ein gewisser Optimismus, dass Neuer es zu WM schafft.
Oder um Nagelsmann zu zitieren: „Ich glaube, die Nation kann recht beruhigt zu Bett gehen heute Abend.“
Fakten am Rande
Der Mechanismus für die indirekte Krafteinwirkung wird im englischen als FOOSH (Fall On Out Stretched Hand) bezeichnet.
Um das vertikal verlaufende Band auszureißen, wird eine Kraft von 1000 N benötigt.
Für das Röntgenbild zur Diagnostik werden an den Arm 5-10kg drangehängt.