Robert Lewandowski verlässt den FC Bayern – Für wen geht die Wette auf?
Der Weltfussballer verlässt den Verein. Mit welchen Emotionen wird der aktuelle Wechsel und auch seine gesamte Zeit bei Bayern verbunden werden? Was ist dein persönlicher Lewy-Moment?
Maurice: Für mich kann es nur das Spiel in der Allianz Arena gegen Wolfsburg sein, als ein komplett entfesselter Lewandowski zur Pause eingewechselt wird und in neun Minuten fünf Tore erzielt. Fünf Tore in neun Minuten – das klingt nach F-Jugend oder zweite neuseeländische Liga, aber nicht nach Top-Spiel in der Bundesliga. Diese rohen Zahlen waren eine Neuheit für die deutsche Liga. Die Ekstase im Stadion war ebenfalls grenzenlos. Man denke nur an den Gesichtsausdruck von Pep Guardiola, der direkt zum Meme wurde.
Georg: Ich verbinde überwiegend positive Emotionen mit ihm. Die Umstände des Abgangs waren nicht ideal, aber seine Motivation für mich verständlich. Insofern vielleicht nur folgerichtig, dass mein persönlicher Lewy-Moment keines seiner 344 Tore für den FC Bayern ist, sondern sein Jubel nach dem Erfolg im Finale gegen Paris im Estádio da Luz. Seine an Oliver Kahn erinnernde Verbissenheit, sein alles diesem sportlichen Ziel unterordnender Ehrgeiz, und die Erlösung, als er den Pokal endlich in den Händen hielt. Gänsehaut.
Christopher: Das Tor Nummer 41 in der Saison 2020/21. Die 40 Tore von Gerd Müller schienen unangreifbar und ihm ist es dennoch gelungen, den Rekord zu brechen. Er schaffte es mit nur 29 Spielen. Das war schon wirklich eine verrückte Saison. Gerade, wenn man die Bundesliga in den 90er und 00er Jahren verfolgt hat. Dass es einen Spieler gibt, mit mehr als 25 oder 30 Toren, schien undenkbar.
Inklusive Bonuszahlungen bis zu 50 Millionen Euro für einen fast 34-Jährigen mit noch einem Jahr Vertragslaufzeit. Eine guter Deal durch den Vorstand?
Maurice: Betrachtet man alleine die Zahlen kann man nur zu diesem Schluss kommen. Bis zu 50 Millionen Euro Ablöse plus die kolportierten Gehaltskosten in Höhe von 25 Millionen Euro sind eine stolze Summe für einen bald 34-Jährigen, der zudem wenig Interesse an einer weiteren Saison an der Isar hatte.
Es gibt jedoch drei Gegenargumente: Zunächst sind da die Kosten für einen möglichen Ersatz, die sich wohl in noch höheren Sphären bewegen werden. Für einen Weltklassespieler in jüngerem Alter ist ein Gesamtpaket von etwa 150 Millionen Euro wohl der Einstiegspreis. Zudem zeigt sich der Verein mit diesem Verkauf erpressbar, denn das klare “Nein” der Chefetage ist wohl nur Poker und kein Machtwort. Wie sich dies auf zukünftige Vertragsabschlüsse auswirken wird, kann erst in ein paar Jahren beantwortet werden. Abschließend gibt es wohl nur wenige Spieler, die so professionell agieren wie Lewandowski, der durchaus noch mehrere Saisons auf höchstem Niveau zuzutrauen sind. Man blicke nur mal auf einen gewissen Tom Brady in den USA. Auf der anderen Seite, auch ein Musterprofi wie Cristiano Ronaldo fiel in den letzten Jahren merklich ab.
Schlussendlich also eine schwierig zu beantwortende Frage, ob man Lewandowski zum richtigen Zeitpunkt verkauft hat.
Christopher: Das wird die Zeit zeigen. Liefert Lewandowski in Barcelona jetzt noch zwei oder drei Jahre auf sehr hohem Niveau ab, wird sich der Vorstand den Vorwurf gefallen lassen müssen, nicht alles für einen Verbleib getan zu haben. Baut Lewandowski früher ab, ist häufiger verletzt (was man ihn nicht wünschen sollte) oder funktioniert schlichtweg nicht im Team der Katalanen, dann könnten sich die Bayern als Gewinner des Deals fühlen. Wohlgemerkt aber nur, wenn es gelingt erfolgreicher zu sein, als in den letzten beiden Jahren. Das Double und das Halbfinale der Champions League wären dafür nötig. Ist das ohne echten Stürmer erreichbar? Schaut man sich Liverpool und Manchester City in den vergangenen Jahren an, dann schon. Ist es einfacher, mit einem Stürmer des Kalibers Lewandowski? Sehr wahrscheinlich.
Daniel: Nein, es ist kein guter Deal. Denn Geld schießt eben nur refinanziert Tore und es gibt niemanden, den der FC Bayern derzeit verpflichten kann. Das viele Geld nützt dir am Ende nichts, wenn DIE Schlüsselposition unterbesetzt ist, man in den Pokalwettbewerben scheitert und bilanzieren muss, ein weiteres Jahr der Peaks von Müller, Neuer, Kimmich und neuerdings Mané verschwendet zu haben.
Möglicherweise träumt jemand davon das Geld direkt nach Turin zu überweisen um mit De Ligt Beton anzurühren, doch aus diesem FC Bayern wird nie wieder eine hitzfeld’sche 1:0-Mannschaft. Man braucht einen Knipser vorne und mindestens ein Jahr nur mit Sadio Mané und Serge Gnabry zu agieren kann tatsächlich zwar auch wunderbar funktionieren – doch noch wahrscheinlicher kann das Ganze auch furchtbar in die Binsen gehen. Und dann steht man im Februar da und lechzt 50 Millionen reicher nach einem Mittelstürmer.
Wie ist der Abgang sportlich zu kompensieren? Muss noch eine Neun verpflichtet werden? Wie könnte ein System ohne Lewy aussehen?
Georg: Die Systemfrage ist die Gretchenfrage, auch für weitere Transfers im Sommer. Mit Mané und Gnabry hat der FC Bayern torgefährliche Flügelstürmer im Kader, die Lewandowski indirekt ersetzen könnten. Sei es im 4-3-3, vergleichbar zu Liverpool, oder im 3-5-2/4-2-2-2 mit Mané und Gnabry als fluider Doppelspitze. Für ein 4-3-3 braucht der Kader noch einen zentralen Mittelfeldspieler, für ein 3-5-2 noch mehr Tiefe für die Dreierkette. Für ein Beibehalten des traditionellen 4-2-3-1 bräuchte es einen klassischen Mittelstürmer. In jedem Falle wartet noch Arbeit auf Hasan Salihamidžić.
Christopher: Die Ideen für die Offensive wurden bereits angesprochen. Vielleicht will der FC Bayern es aber auch anders lösen und den Fokus auf die Defensive legen. Mit De Ligt soll die Innenverteidigung gestärkt werden. Mit 44 bzw. 37 Gegentoren in der Bundesliga und zum Teil katastrophalen Auftritten ist es normalerweise schwer Titel zu gewinnen. Zudem würde De Ligt im Spielaufbau helfen und dadurch den Spielaufbau variabler machen. Es bleibt dennoch die Frage, wer die Tore erzielen soll. Mané und Gnabry, eventuell noch Sané müssten jeweils 15 bis 20 Tore schießen, um Lewandowskis Werte aufzufangen. Ich bin gespannt, ob das klappt.
Als ein potentieller Nachfolger wird Cristiano Ronaldo gehandelt. Würde die Verpflichtung sportlich Sinn ergeben?
Georg: Rein sportlich kaum. Ronaldo spielt mittlerweile eine sehr klassische Mittelstürmerrolle und beschränkt sich dabei auf seine Kernkompetenz des Tore schießens. Gegen den Ball beteiligt er sich nur noch marginal am Defensivspiel. Laut Statistikanbieter fbref liegt er bei Pressingaktionen im untersten Prozent aller Stürmer von Europas Top-5-Ligen. Das passte nicht zu Rangnick, das passt nicht zu Nagelsmann. Den Luxus eines defensiv unbeteiligten Spielers kann der FC Bayern sich im Duell gegen Liverpool, Manchester City und Co. um Europas Krone nicht leisten.
In einer Backup-Rolle als Einwechsel- oder Rotationsspieler wäre er integrierbar. Hier stellt sich die Frage, ob er dazu bereit wäre.
Daniel: Nichts für ungut, Georg, aber du siehst die Sache viel zu logisch. Pressingaktionen, Schmessingaktionen. Das ist Kahn und Hainer doch völlig Wurst! (lacht) Bayern braucht einen Knipser, Ronaldo kann knipsen. Das alleine reicht, damit Ronaldo interessant wird. Tatsächlich ist es gut möglich, dass Nagelsmann hibbelig wird, weil er um Cristianos Unzulänglichkeiten genau weiß. Und auch Salihamidžić traue ich es zu, skeptisch zu sein. Bei all seinen Fehlern in der Vergangenheit, scheint Brazzo durchaus eine Vorstellung zu haben, welches Skill-Set ein Bayern-Spieler braucht (siehe Veto gegen Timo Werner oder diversen Kovač-Spielern).
Aber sollte Ronaldo II nicht alsbald einen anderen Verein finden, wird das den ganzen Sommer köcheln, weil er selbst sicherlich zu Fuß bis nach München für diesen Transfer wandern würde und eben weil es Sinn ergibt. Das tut es, weil Bayern nebst der Notwendigkeit eines Knipsers mit Ronaldo glasklar nur eine Übergangslösung bekäme. Und Sinn macht es eben auch, weil Hainer und Kahn ganz große €-Augen bekommen dürften beim sicherlich entstehenden Hype um CR7. Nein, Moment, CR9, Gnabry hat ja glücklicherweise verlängert.
Bei aller völlig berechtigten Kritik, dass Ronaldo seinen Teams zu viel kostet, indem man de facto zu Zehnt spielt, dass er dafür nicht mehr so eine Upside beim Knipsen bietet, gibt es auch glasklare Vorteile bei ihm. Bayern hat nun einmal sehr viel den Ball und der zweitbeste Bayern-Stürmer dieses Jahrtausends, Mario Gómez, zeigte, dass man nicht unbedingt immer mitspielen muss, um Gold wert sein kann. Oft reicht auch einfach ein Schleicher und Vollstrecker.
Vor allem jedoch liegt Ronaldos Vorteil beim Kopfballspiel. Egal wie schön auf dem Papier so ein fluides Angriffssystem mit lauter Halbstürmern funktionieren mag, man bräuchte schon einen sehr talentierten Exorzisten um Bayern das Flanken auszutreiben. Wenn sie nicht weiter wissen, werden Bayern-Spieler immer flanken. Das verstand selbst Guardiola in seinem dritten Jahr, kaufte Costa und Coman, pfiff auf inverse Flügelspieler, und ließ sie eine Flanke nach der anderen in den Sechzehner jagen. Falls Mazraoui funktionieren sollte, dürfte sich das Phänomen eher noch verstärken. Wer glaubt, ohne kopfballstarkem Mittestürmer wird das automatisch anders, irrt. Schlagartig erinnere ich mich an diverse Länderspiele um 2016, wo die DFB-Elf Flanke um Flanke auf das Kopfballungeheuer Mario Götze schlug. Bei Ronaldo wäre das alles ganz anders. Flanken machen dann nicht nur komplett Sinn, man müsste es gar als Verstärkung klassifizieren, wo er doch schlicht und ergreifend der beste jemals existierende Kopfballspieler dieser gesamten Sportart ist.
Ja, doch, ich ertappe mich durchaus beim Gedanken, in einer anderen Welt ganz gerne das Experiment Ronaldo II beim FCB ein Jährchen sehen zu wollen. Und doch lehne ich diesen Wechsel ab. Vehement sogar. Der Grund liegt auf der Hand, es ist die Vergewaltigungs-Anschuldigung und mehr noch, seine bestätigte Response zu dieser Beschuldigung, die in meinen Augen einem Schuldeingeständnis gleicht. Das wiegt für mich so stark, dass mir alles andere egal ist. Diesen Spieler möchte ich nicht beim FC Bayern sehen.
Christopher: Ich halte das für eine Spielerei. Georg hat die sportlichen Gründe schon angesprochen. Das kann nicht funktionieren mit dem Stil von Julian Nagelsmann. Man darf nicht vergessen – für den jungen Bayern-Trainer geht es in ein schwieriges zweites Jahr. Die Rückrunde war mies. Für Nagelsmann geht es jetzt darum, den Übergang hinzubekommen. In der Vergangenheit haben es die Münchner geschafft, die Abgänge von Schweinsteiger, Lahm, Ribéry, Robben und Alaba zu kompensieren. Nagelsmann hat jetzt die Herkules-Aufgabe knapp 100 Pflichtspieltore in den letzten beiden Saisons zu ersetzen. Ronaldo wird das aber nicht sein, auch wenn sich Herbert Hainer gerne noch ein paar Adidas-Trikots mit CR7/CR9 verkaufen würde.
Mit etwas Abstand – ist Robert Lewandowski der beste Stürmer gewesen, den der FC Bayern jemals hatte?
Christopher: Ich kann den GOAT-Debatten immer relativ wenig abgewinnen. Ich halte die verschiedenen Jahrzehnte schwer miteinander vergleichbar. Das Spiel hat sich fundamental geändert. Regeln sind zugunsten der Offensive angepasst worden. Spieler werden regelrecht “herangezüchtet”. Das hat mit dem Fußball der 50er, 60er oder 70er Jahren nur wenig zu tun. Gerd Müller war fünfzehn Jahre beim FC Bayern als Spieler und später noch lange Zeit in verschiedenen Rollen innerhalb des Vereins tätig. Auch wenn er nicht mehr alle Rekorde hält, wird das überwiegen. Zu unnahbar und unfehlbar ist das Auftreten von Robert Lewandowski über all die Jahre gewesen.
Maurice: Mit dem Abstand von sechs Stunden gehört Lewandowski ganz sicher in den Pantheon der besten Bayern-Stürmer aller Zeiten. Den ersten Rang kann er Gerd Müller nicht streitig machen, dafür war der Bomber zu groß und wichtig für den Verein. Eventuell hätte die Schallmauer von 365 Ligatoren und/oder ein Champions-League-Titel mit Tor im Finale daran rütteln können, aber dies ist nun Spekulation. Was Lewandowskis Legacy langfristig schaden wird, ist seine fehlende Liebe durch die Fans. Am Ende war er doch Rekorde- und nicht Herzensbrecher.
Daniel: Nein, auf gar keinen Fall. Es gibt gute Argumente Gerd Müller als besten Mittelstürmer jemals, egal bei welchem Verein zu sehen. Bei Lewandowski sieht das anders aus. Er wird als zweitbester Stürmer dieses Vereins und der Liga in die Geschichte eingehen, was schon an sich eine Riesenleistung ist, wo doch sein früherer Chef Karl-Heinz Rummenigge so unglaublich gut war. Der schaffte gar zwei Mal das, was Lewandowski köstlicherweise verwehrt blieb: Den Ballon d’Or zu gewinnen. Möglicherweise ist eine Konsequenz von Lewandowskis ungebührlichem, ja inakzeptablem Verhaltens jedoch auch, dass er mit einiger Zeit Abstand nur auf Rang drei hier zurückfällt. Rummenigge war dem Verein auch nach der Karriere verbunden, stärkte so seine Legacy. Doch zwischen Lewandowski und dem FC Bayern wird es nie wieder so sein, wie es mal war, er hat seine Legacy unnötigerweise beschädigt.