Miasanrot Mailbag Roundtable, April 22 Edition
@Jo fragt: Was würde diese Saison zu einer erfolgreichen machen? Reicht die Meisterschaft bei einem Ausscheiden gegen Villarreal? Oder wie weit müsste es in der Champions League gehen?
Alex: Ein Ausscheiden gegen Villarreal würde die Saison vonseiten der Offiziellen garantiert zu einer „Übergangssaison“ machen. In meinen Augen ist sie das jetzt schon, unabhängig von dem Abschneiden in der Champions League. Meine Bewertung orientiert sich mehr an der sichtbaren Qualität des Spiels als den objektiv verzeichneten Erfolgen. Die Qualität des Bayernspiels ist mir deutlich zu sprunghaft und durchwachsen dafür, dass in man meinen Augen diese Saison als eine wirklich erfolgreiche bezeichnen kann (siehe auch die folgende Frage). In Anbetracht der inzwischen drückenden nominellen Überlegenheit der Bayern in 98% ihrer Spiele und einer entsprechenden Siegquote, hat sich mein persönlicher Maßstab für „erfolgreichen“ Fußball in den letzten Jahren zunehmend in Richtung einer performativen Bewertung des Spiels entwickelt. Bezogen auf die Bayern ist „Erfolg“ für mich inzwischen mehr als das reine Resultat. Das Spiel der Bayern muss auch attraktiv sein, um mich zu befriedigen und meinen „Erfolgshunger“ zu stillen. Ich argumentiere als jemand, für den Fußball in erster Linie ein Unterhaltungsprodukt ist und der einen besonderen Genuss an der Souveränität einer sportlichen Leistung findet. Dies ist wahrscheinlich schon fast eine philosophische Frage, die man durchaus anders sehen kann.
Nichtsdestotrotz, wenn die Bayern im Halbfinale Liverpool und im Finale Real mit begeisternden Auftritten schlagen, war die Saison am Ende vielleicht doch gar nicht so schlecht. ;-)
Daniel: Nein, falls man gegen Villarreal ausscheidet, kann es in Verbindung mit dem kläglichen Aus gegen Gladbach keine erfolgreiche Saison werden. Es gibt eine mittellange Liste von Vereinen, gegen die man ausscheiden darf. Villarreal gehört -bei allem Respekt für das U-Boot- nicht dazu.
Georg: Eine souveräne Meisterschaft mit eventuellem Bundesligatorrekord kann kein Misserfolg sein. Aber es kann sich so anfühlen. Entscheidend hierfür ist nicht nur, was in der Champions League passiert, sondern wie es passiert. Ein Aus gegen Villarreal oder Benfica wäre enttäuschend, ebenso ein deutliches Aus gegen Liverpool.
@Horst Mohammed, @918 fragen: Erwartet ihr für die entscheidenden Wochen der Saison eine konservativere Taktik, wie zuletzt gegen Union? Oder weiterhin volles Risiko und offensive à outrance? Wie sollte Nagelsmann eurer Meinung nach taktisch agieren?
Alex: Ob offensiv, defensiv oder konservativ ist für mich momentan gar nicht die Frage. Ich sehe die Herausforderungen der Bayern als grundsätzlicherer Natur an und wage mich mal an die Stammtisch-Schublade: Nach meiner Beobachtung haben Mannschaften immer dann Probleme damit, effektiv zu spielen, wenn sie zu viele Systeme und zu viel taktische Variation gleichzeitig beherrschen müssen. Unter Pep Guardiola hat ein taktisch sehr variabler Fußball bei den Bayern noch gut funktioniert, aber Guardiola ist auch ein akribischer Arbeiter, der der Legende nach seine Spieler immer und immer wieder dieselben Übungen durchführen lässt und sie so lange mit Korrekturen und Anpassungen auf feinster Detailebene malträtiert, bis sie ihre taktischen Anweisungen rückwärts im Schlaf umsetzen können. Ich weiß nicht, ob Julian Nagelsmann dieses hohe Niveau an Akribie in der täglichen Arbeit auch auf den Platz bringt oder ob er nur im Kopf ähnlich tickt wie Guardiola, denn das Spiel der Bayern gefällt mir in dieser Saison nicht, Torrekorde und guter Punkteschnitt hin oder her. Es gibt fraglos gute und sehenswerte Highlightspiele, aber sie werden immer wieder interpunktiert von viel Verschnitt und biederer Zähigkeit. Es herrscht keinerlei Konstanz in der Leistungserbringung, geschweige denn Eleganz, die Mannschaft läuft unrund. Die vielgelobte taktische Vielseitigkeit, die Nagelsmann den Bayern bringt, hat sich bis dato noch nicht in verlässlich abrufbare Leistungsfähigkeit auf dem Platz umgesetzt. In vielen Spielen habe ich das Gefühl, dass ich gerade Zeuge einer deutlich unter ihren Möglichkeiten bleibenden Mannschaft werde, die eigentlich zu so viel mehr in der Lage wäre.
Ich habe nicht per se etwas gegen die Dreierkette, aber da ihre Einführung zeitlich so stark mit den schwankenden Leistungen der Bayern korreliert, steht ihre Einführung für mich symbolisch für die unbefriedigende Fragilität und Unausgereiftheit, die die taktische Neuorientierung, die Nagelsmann und sein Team mit der Mannschaft umzusetzen versuchen, bisher auszeichnet. Denn egal, ob die Bayern jetzt progressiv, konservativ, aggressiv, defensiv, offensiv oder sonstwie -iv spielen, die sprunghafte Unausgereiftheit in jedem dieser Ansätze nivelliert zur Zeit ihre je eigenen, distinkten Vor- und Nachteile völlig. Heraus kommt so oder so eine graue Suppe, die mal gut sein kann und mal ganz schlecht. Insofern kümmert es mich wenig – und macht auch wenig Unterschied – ob die Bayern nun für den Rest der Saison in einem 3-4-3 oder 4-3-3 oder 4-2-3-1 oder 10-0-0 auflaufen, wichtig wäre mir, dass Nagelsmann wirklich weiß, wo er mit der Mannschaft hin möchte und er auch in der Lage ist, sie dahin zu führen und diese, ihm dahin zu folgen. Taktische Variabilität ist kein Selbstzweck. Hohe Ansprüche sind sinnvoll nur dann, wenn sie realiter auch umgesetzt werden können, sowohl im Hinblick auf das Potenzial der Mannschaft als auch die Fähigkeit des Trainers, sie in der täglichen Arbeit und durch tägliche Arbeit zu verwirklichen.
Georg: Nagelsmanns Taktik lebt davon, viele Spieler in zentrale offensive Positionen zu bringen. Das hilft im Ballbesitz dabei, wichtige Räume wie die Zone 14 und den Strafraum zu besetzen und gegen den Ball dabei, ins Gegenpressing zu kommen.
Zu Saisonbeginn versucht er dies durch in den Sechserraum “vorkippende” Außenverteidiger umzusetzen. Hierfür fehlen ihm Spielertypen wie David Alaba oder Philipp Lahm.
Danach setzte er auf eine pendelnde Dreier-/Viererkette. Alphonso Davies bespielte die linke Seite defensiv und offensiv, wodurch Leroy Sané einrücken und Überzahl im Zentrum schaffen konnte. Hierfür fehlt ihm derzeit der verletzte Davies.
So bleibt nur noch die Dreierkette in der offensiven Ausrichtung. Dadurch kann Nagelsmann das Zentrum mit vier Spielern (z.B. Kimmich, Musiala, Sané und Müller gegen Salzburg) besetzen und seine Spielidee verwirklichen.
Nagelsmann sollte seinem Ideal der Überzahl in Zone 14 treu bleiben. Spätestens mit der Rückkehr von Alphonso Davies ergeben sich ohnehin neue, alte Möglichkeiten.
Eine konservativere Viererkette würde ansonsten fast zwangsläufig zu einer ersten Halbzeit wie gegen Freiburg führen. Das ist nicht das Spiel des FC Bayern 2021/22. Das ist nicht das Spiel, mit dem der FC Bayern 2021/22 gegen Liverpool und City bestehen wird.
Daniel: Auch wenn sie 4:1 gewonnen haben, das Spiel gegen Freiburg hat mal wieder gezeigt, dass Konservatismus nicht gleich erfolgreich ist. Auf völlig bizarre Art und Weise hat der FC Bayern mittlerweile praktisch verlernt anständig eine Viererkette zu spielen, vor allem in Verbindung mit Innenverteidigern auf den Außenpositionen. Vielleicht wird das noch was, wenn Davies wiederkommt, aber eigentlich rechne ich damit, dass wir weiter diese Art 3-4-3 mit Coman als Wingback und (fast) allen Offensivkräften auf dem Feld sehen werden.
@TS1970 und @gerhard fragen: Müssen die auslaufenden Verträge unbedingt verlängert werden zu den Konditionen der Spieler? Habt Ihr Insider-Informationen zur Transferstrategie (sofern es eine solche gibt)? Für welche Positionen sucht man „fertige“ Spieler, wo setzt man eher auf eigene Nachwuchskräfte, welche aktuellen Spieler würde man gerne „verkaufen?
Georg: Sollte Müller gehalten werden? Ja. Sollte Müller unbedingt gehalten werden, also auch für ein Gehalt von 50 Millionen Euro pro Jahr? Natürlich nicht. Das einfache Beispiel zeigt: Es kommt drauf an. Es ist immer eine Frage von Aufwand und Ertrag. Was kostet Lewandowski, was bringt Lewandowski – und was würde es den FC Bayern kosten, diese Leistung an Toren, Punkten, Titeln extern einzukaufen?
Wägt man entsprechend ab, ist für mich klar, dass die Verträge von Lewandowski, Müller und Neuer verlängert werden sollten. Alle drei spielen schlicht auf Weltklasseniveau, sind mit und gegen den Ball, auf und neben dem Platz zentrale Säulen dieses Erfolgsteams.
Bei Choupo-Moting hat die Entscheidung Zeit, er gefällt mir sehr gut in seiner Rolle als Back-up, gleichzeitig wäre es kein Beinbruch, wenn er den Verein 2023 ablösefrei verlässt.
Bei Tolisso und Gnabry sind die Entscheidungen komplizierter. Tolissos Vertrag läuft im Sommer 2022 aus, er kann den Verein ablösefrei verlassen. Und wird das vermutlich auch tun. Er kommt beim FC Bayern, auch wegen viel Verletzungspech, nicht über eine Rotationsrolle hinaus. Für eine solche Rolle gibt es andere, jüngere Kandidaten, die vielleicht Ablöse kosten, aber mehr Entwicklungspotential mitbringen. Mittelfristig könnte sich Paul Wanner als Nachfolger ins Team spielen.
Serge Gnabrys Vertrag läuft bis 2023. Verlängert der FC Bayern nicht mit ihm, wäre ein Wechsel im Sommer sinnvoll. Gnabry dürfte insbesondere in der Premier League ein begehrter Spieler sein und eine hohe Ablöse einspielen. Eine Ablöse, die bitter nötig wäre, um bei potentiellen Nachfolgern wie Christopher Nkunku, Moussa Diaby oder Florian Wirtz anzuklopfen.
Weitere Wechselkandidaten sind je nach Neuzugängen Marc Roca und Bouna Sarr. Bei Malik Tillmann könnte man eine Leihe erwägen.
Alex: Georg hat zu den aktuell heiß diskutierten Spielern im Grunde schon alles gesagt und ich teile seine Einschätzung völlig. Daher möchte ich diese Frage grundsätzlicher angehen. An ihrer Wurzel liegt das grundsätzlichen Problem, dass im Profifußball der Wert eines Spielers sowohl eine sportliche als auch eine wirtschaftliche Dimension hat und sich die sportlichen und wirtschaftlichen Ziele eines Vereins bei der Abwägung des Wertes eines Spielers manchmal nicht zur Deckung bringen lassen. Sportliche Optima lassen sich oft nur auf Kosten wirtschaftlicher Kompromisse erreichen und vice versa. Allerdings gilt: Spieler kommen und gehen, ein Verein bleibt. Daher sollte bei einem Zielkonflikt zwischen den sportlichen und wirtschaftlichen Zielen eines Vereins die wirtschaftliche Vernunft das ultimative Zünglein an der Waage sein.
Praktisch heißt dies, wie Georg schon sagt, dass man als verantwortlich agierender Verein bei der Vertragsverlängerung eines jeden Spielers eine ganz genaue Abwägung des sportlichen Werts und der wirtschaftlichen Kosten durchführen sollte und natürlich sollten auslaufende Verträge eines Spielers nicht unbedingt und um jeden Preis zu dessen Konditionen verlängert werden. Auch unter dem Eindruck der Corona-Pandemie haben sich die Bayern in den vergangenen Jahren relativ rasch und deutlich in Richtung einer für ihre Verhältnisse sehr konservativen Ausgabenpolitik entwickelt. Einkäufe wie Hernandéz für 80 Mio. € oder Tolisso für 42 Mio. € noch vor wenigen Jahren wären heute nicht mehr vorstellbar, auch Vertragsverlängerungen selbst der gestandensten und wichtigsten Spieler ziehen sich manchmal lange hin (Goretzka, Coman, Gnabry, Müller) und sind am Ende keineswegs immer gesichert (Alaba, Süle). Hinzu kommt eine Schrotflinten-Strategie bei der Besetzung offener Vakanzen mit Leihspielern und kurzfristigen Noteinkäufen (Sabitzer, Richards, Roca, Sarr, Costa, Choupo-Moting, Coutinho, Cuisance, Perisic, Dantas, Odriozola), die von schwankender Treffsicherheit geprägt ist. Was zukünftige Spieler angeht, sind die Bayern gerade dabei, sich von den höchsten Gehalts- und Ablöseregalen zu verabschieden, die namhaftesten Spieler, zu denen momentan wirklich eine heiße Spur besteht, heißen Gravenberch und Mazraoui, Ginter ist im Bereich des Möglichen.
Ich glaube, in Anbetracht der gegenwärtig angespannten wirtschaftlichen globalen Großwetterlage und den massiven wirtschaftlichen Einbußen bzw. nicht realisierten Zuwächsen, die die Bayern in den letzten Jahren verkraften mussten, dürfen wir uns darauf einstellen, dass dieser fiskalische Konservatismus der Bayern noch für einige Zeit anhalten wird. Natürlich wird kein noch so sachlicher Text dieser Welt die Fans vom Spekulieren und Träumen abhalten, aber auf absehbare Zeit werden wir uns wohl eher mit Gedanken wie einem abgehenden Gnabry und einem verpflichteten Gravenberch als einem kommenden Rüdiger oder gehaltenen Alaba beschäftigen dürfen.
Daniel: Lewandowski muss gehalten werden. Håland bekommt man nicht, außerdem scheint es mehr und mehr durch, dass er in bester Ronaldo-Nazário-Manier ein bisschen zu gut für seinen Körper ist. Bei Müller und Neuer habe ich keine großen Bedenken, die kriegen nirgends einen besseren Deal.
Gnabry ist ein stranger Fall. Jetzt mal ehrlich, bis zu dieser Saison haben wohl alle Coman ziemlich klar hinter ihm gesehen, oder? Jetzt liefert Coman aber konstant, während Gnabry eben diese Konstanz -bislang sein Markenzeichen- vermissen lässt. Hat Coman jetzt 17 Millionen pro Jahr verdient und Gnabry nicht? Ich finde wir sollten nicht Opfer des recency bias werden. Beide sollten ähnlich behandelt werden. Ich finde Comans Gehalt krass, aber wenn der FC Bayern bereit ist Coman dies zu zahlen, verdient Gnabry ähnliches.
Darüber hinaus finde ich braucht es jetzt endlich mal halbwegs fertige Lösungen in der Defensive. Wie lange müht man sich jetzt mit Notlösungen auf der Rechtsverteidigerposition ab? Zentral sind Upamecano, Pavard, Süle dann auch einfach nicht gut genug. Süle geht jetzt, Upamecano schreibe ich noch nicht ab, aber mit der aktuellen Gerüchtelage für die Position bin ich nicht zufrieden.
@maestroflave fragt: Seht ihr (Justin) die Notwendigkeit einer Veränderung im Sommer auf der Trainerposition bei den Bayern-Frauen? Und seht ihr realistische Kandidatinnen für die notwendige Verstärkung der Abwehr?
Justin: Ich habe in der letzten Saison schon sehr viel Gegenwind dafür erhalten, dass ich Jens Scheuer recht kritisch analysiert habe. Gleichzeitig ist es mir wichtig, zu betonen, dass ich das mit größtem Respekt versuche. Denn seine Leistungen für den FC Bayern sind nicht in Abrede zu stellen. Scheuer hat aus diesem Team eine Einheit geformt, er hat erstmals seit Jahren die Meisterschaft zurück nach München geholt. Und doch blieb bei mir immer das Gefühl, dass die fußballerische Entwicklung an ihre Grenzen gestoßen ist. Er hat das Flügelspiel der Bayern durchaus auf ein neues Level gehoben, über dieses kommen sie aber nicht mehr hinaus.
Das auf dem Papier spielstarke Zentrum wird zu selten entsprechend eingebunden und wenn keine Flanken kommen, hängen Spielerinnen wie Lea Schüller etwas in der Luft. Ich glaube schon, dass es dem Team helfen könnte, ab der kommenden Saison neuen Input zu bekommen, wenn eine entsprechende Alternative gefunden wird. Ich glaube allerdings nicht, dass der FC Bayern diesen Schritt gehen wird. Und ich muss auch sagen, dass es unfair wäre, das nur an den jüngsten Ergebnissen festzumachen. Denn für die Ausfälle konnte der Trainer nichts und die haben den Ausgang dieser Saison leider mitentschieden.
Realistische Kandidatinnen kann ich nicht beurteilen. Bayern braucht aber eine Spielerin wie Dominique Janssen vom VfL Wolfsburg – die definitiv unrealistisch ist. Spielstark, gegen den Ball robust, konsequent in den Klärungsaktionen, gut in der Kommunikation und Organisation der Abwehr – all das hatte man sich wohl von Saki Kumagai erhofft. Allerdings ist das aus meiner Sicht nicht aufgegangen. Bayern braucht wieder mehr Breite im Kader, vor allem defensiv. Und im defensiven Zentrum brauchen sie spielstärkere Spielerinnen.