Vorschau: Kann Jesus die Bayern stoppen?
In einer Champions-League-Gruppe mit dem FC Barcelona, Benfica und Dynamo Kiew sollte es für die beiden Letztgenannten eigentlich nur darum gehen, wer den dritten Platz für die Europa League erreicht, währen Bayern und Barça den Gruppensieg unter sich ausmachen. Eigentlich.
Denn mit der Realität hat dieses Vorurteil bereits nach zwei Spieltagen nichts mehr zu tun. Ja, die Bayern führen aktuell mit sechs Punkten souverän, aber dahinter ist nach wie vor alles offen. Barcelona belegt mit null Punkten den letzten Platz, Kiew erarbeitete sich ein Remis gegen Benfica und die wiederum stehen auf Platz 2 – mit der Chance, durch einen Sieg gegen Bayern am 3. Spieltag Tabellenführer zu werden.
So ganz abwegig ist das trotz der tollen Leistung der Münchner am vergangenen Wochenende in Leverkusen nicht. Benfica ist ebenfalls stark in diese Saison gestartet. Wettbewerbsübergreifend haben sie 12 von 15 Pflichtspielen gewonnen und nur eines verloren – vor der Länderspielpause gegen Portimonense (0:1). Jetzt will Trainer Jorge Jesus die Bayern stoppen.
Gerade beim Heimspiel gegen den FC Barcelona zeigte Benfica, welch hohe Qualität sowohl individuell als auch gruppentaktisch in ihnen steckt. In der heimischen Liga dominieren sie ihre Gegner mit einer dynamischen Dreierkettenstruktur in Ballbesitz, die es ihnen ermöglicht, Zeit am Ball zu gewinnen. Vor allem in Ballnähe gelingt es den Portugiesen außerordentlich gut, Anspielstationen bereitzustellen und sich aus Drucksituationen mit schnellen Verlagerungen zu befreien.
Das erwartet den FC Bayern gegen Benfica
Ein Schlüsselspieler dafür ist Julian Weigl. Der Ex-Nationalspieler ist seit seinem Wechsel zu Benfica in Deutschland kaum noch Thema. Dabei hat er sich dort zu einem echten Schlüsselspieler entwickelt. Der 26-Jährige hat die beste Passquote des Kaders (rund 92 Prozent) und ist der Dreh- und Angelpunkt im Mittelfeld. Sein Stellungs- und Passspiel sind entscheidend für die Balance zwischen Defensive und Offensive.
Gerade in offensiven Umschaltmomenten ist er ein wesentlicher Faktor dafür, den Ball schnell und präzise in die Spitze zu spielen, wo die schnellen Angreifer in die Tiefe starten. Barcelona konnte schon nach zwei Minuten einen Ball aus dem eigenen Netz fischen, weil man Bekanntschaft mit dieser Handlungsschnelligkeit gemacht hat.
In der Champions League versucht Benfica zwar ebenfalls, so viel Spielkontrolle durch Ballbesitz zu erzeugen, wie es eben möglich ist. Gegen Barcelona reichte es aber nur zu 40 Prozent. Dementsprechend müssen sie flexibel agieren, was ihnen in vielen auch Phasen gut gelingt.
Stärken mit dem Ball
Beim 3:0-Erfolg über die Katalanen wechselten sie je nach Spielsituation zwischen einem höheren Mittelfeldpressing und einer sehr tiefen Verteidigung. Benficas Grundformation gegen den Ball lässt sich nur schwer beschreiben, weil sie selten passiv den Raum verteidigen. Stattdessen versuchen sie den Gegner schnellstmöglich in eine Situation zu bringen, in der sie den ballführenden Spieler isolieren und aggressiv anlaufen können. Am ehesten geht das natürlich auf der Außenbahn, weil dort die Möglichkeiten des Gegenspielers durch die Seitenauslinie begrenzt sind.
Gewinnen sie den Ball, geht es oftmals sehr schnell. Wenn sich die Räume einfach nicht ergeben, kann Benfica aber auch auf ihr gut strukturiertes Ballbesitzspiel zurückgreifen. Das hilft ihnen gegen stärkere Gegner dabei, Entlastungsphasen einzubauen, um nicht nur dem Ball hinterherlaufen zu müssen.
Im Spielaufbau agieren sie mit einer recht breiten Dreierkette und Julian Weigl davor, der hin und wieder von einem weiteren Sechser unterstützt wird. Alle anderen zentralen Räume werden eher flexibel besetzt, was den Zugriff erschwert. Kann Benfica erstmal Tempo aufnehmen, sind sie nur schwer zu verteidigen.
Das große Problem beim Durchdecken
Dass sie sich im Zentrum beim Verteidigen oft an ihren Gegenspielern orientieren, hat hingegen nicht nur Vorteile. Benfica tendiert dazu, die Zwischenräume gern mal für einen Moment zu weit zu öffnen. Wie beispielsweise in dieser Szene gegen Barcelona:
In der 25. Minute lässt Barcelona den Ball durch die eigenen Reihen zirkulieren, ohne wirklich Tempo aufzunehmen. Pedri schafft es aber, Vertonghen aus der Fünferkette zu ziehen, indem er sich einfach fallen lässt. Plötzlich entsteht für mehrere Sekunden ein großer Raum (rot markiert), den Benfica nicht entsprechend zu schließen weiß. Wenn Vertonghen rausschiebt, müssen die drei Verteidiger rechts von ihm schneller nachschieben. Idealerweise muss Vertonghen aber gar nicht erst diesen Weg machen, weil aus dem Mittelfeld besser reagiert wird.
Barcelona nimmt die Einladung nicht an, hätte aber durch nur einen Lauf des Rechtsverteidigers oder eines Angreifers (graue Pfeile) ernsthafte Schwierigkeiten für Benfica erzeugen können:
- Entweder kommt ein langer Ball in den riesigen Raum zwischen dem zentralen Innenverteidiger und dem linken Flügelverteidiger, dann könnte Barcelona mit Platz und Gleich-, vielleicht sogar Überzahl agieren.
- Oder die Läufe führen dazu, dass Benficas Defensivlinie sich nach hinten orientiert, was den Raum zwischen Mittelfeld und Verteidigung offen lässt und anderen Barça-Spielern die Möglichkeit gibt, sich dort anzubieten.
- Spielen die Verteidiger hingegen auf Abseits, müssen sie sich höher positionieren, was schnellen Spielern wie Memphis Depay Raum hinter der Kette anbietet.
Rückblick: Leverkusens Defensivverhalten gegen Bayern
Diese Szene zeigt auch nochmal exemplarisch, was das Problem am „Durchdecken“ ist. Mannschaften wie Bayern verstehen es gut, die Defensivlinie eines Gegners zu binden und ihnen die Entscheidung zum Herausrücken zu erschweren. Deckt der Innenverteidiger durch (wie Vertonghen im Beispiel oben), muss wiederum ein anderer großer Raum abgedeckt werden und man riskiert womöglich eine Gleich- oder Unterzahlsituation gegen individuell sehr starke Gegner.
Die Kritik von DAZN-Experte Sandro Wagner an Leverkusens Defensivspiel war demnach nicht falsch, aber doch recht vereinfacht und einseitig dargestellt. Nicht allein das fehlende Durchdecken war das große Problem gegen die Bayern, sondern auch die nicht vorhandenen Antworten auf die Positionierung der gegnerischen Offensive.
Deckt ein Innenverteidiger beispielsweise durch, ist das wie beim Pokern: Man setzt zunächst einen Teil des Stapels an Chips, der vor einem liegt. Dann den nächsten Teil und den nächsten. Aber wenn der Gegner nicht aufgeben will, ist der Stapel irgendwann so klein, dass man All In gehen muss. Und dann ist nichts mehr zum Nachlegen da. Leverkusen hat sich dabei schlicht zu oft verzockt. Mal gingen sie All in, obwohl man hätte abwarten sollen. Mal warteten sie ab, obwohl eine mutigere Herangehensweise sinnvoll gewesen wäre. Die Bayern verstehen es einfach sehr gut, ihre Gegner in dieser Entscheidungsfindung zu manipulieren. Da hat sich Leverkusen abkochen lassen.
Instabile Tiefenverteidigung
Aber zurück zu Benfica, die defensiv noch andere Sorgen haben als die Entscheidungsfindung beim „Durchdecken“. Gegen Barcelona hatten die Portugiesen zum ersten Mal seit längerer Zeit weit unter 50 Prozent Ballbesitz. Das zwang sie dazu, häufiger in einem tiefen Mittelfeldpressing oder gar im Abwehrpressing zu agieren. In der Tiefenverteidigung neigen sie allerdings zu sehr zur Passivität, was gleich mehrere Probleme hervorruft. Eines davon lässt sich an der folgenden Szene gut veranschaulichen:
Die beiden Sechser (rot markiert) sind zu sehr auf sich allein gestellt. In der Rückwärtsbewegung neigen die Angreifer dazu, die Halbräume nicht ausreichend zu schließen. Ob das individuell begründet ist, oder möglicherweise ein taktisches Zocken des Trainers ist, um in offensiven Umschaltsituationen mehrere Spieler in der Offensive zu haben, lässt sich nicht aufklären. Fakt ist aber, dass die Sechser hier einen viel zu großen Raum abdecken müssen. Außerdem sind sie zu tief positioniert. Ein enger Zwischenraum ist zwar wichtig, aber in dieser Position erfüllen sie keine wertvolle Aufgabe.
Es passiert Benfica häufig, dass sich Spieler hinten in die Fünferkette reindrücken lassen, was wiederum den Rückraum für den Gegner öffnet. Selbst gegen kleinere Teams kommt das gelegentlich vor. Wie hier gegen Portimonense:
Auch hier lässt sich Benfica in der Rückwärtsbewegung zu sehr in den eigenen Strafraum drücken, vergisst dabei aber den Rückraum. Zwar können sie den Schuss blocken, aber wenn in diesem Bereich Joshua Kimmich oder Leon Goretzka an den Ball kommen, wird es wohl gefährlicher für sie.
Mehr Defensivfokus als zuletzt?
Defensiv wird Jesus also nochmal einiges anpassen müssen, wenn er nicht ähnlich unter die Räder kommen möchte wie sein Trainerkollege Seoane am vergangenen Wochenende. Eine klarere 5-4-1-Ausrichtung gegen den Ball wäre beispielsweise denkbar. Damit könnte man die Spielfeldmitte kompakt halten und hätte in letzter Linie eine breite Abwehrkette gegen Bayerns Offensive. Frankfurt kam so zu einem Sieg in München – wenn auch mit einer ordentlichen Portion Glück im Gepäck.
Andererseits würde eine derart defensive Ausrichtung wohl dazu führen, dass man offensiv nicht so durchschlagskräftig ist wie zuletzt. Die Offensivspieler Darwin Núñez, Rafa Silva und allen voran Roman Yaremchuk sind nicht nur technisch herausragende Fußballer, sondern auch noch ziemlich schnell. Das könnte Bayern vor Probleme stellen.
Ebenso interessant wird es zu beobachten sein, wie Benfica mit dem Pressing der Bayern zurecht kommt. Valentino Lazaro und Alejandro Grimaldo sind zwei sehr spielintelligente und technisch starke Flügelverteidiger, die das Spiel gut von außen nach innen eröffnen können. Außerdem ist gerade Lazaro ein sehr guter Dribbler. Kombiniert mit den angesprochenen Fähigkeiten von Julian Weigl im Zentrum ist da einiges an Qualität vorhanden, um das bisher sehr stabil wirkende Pressing der Münchner zumindest ab und zu ins Leere laufen zu lassen.
Top-Spiel oder viel Wind um nichts?
Die Situation vor dieser Partie ist ein wenig vergleichbar mit jener vor dem Leverkusen-Spiel: Zwar liegt die Favoritenrolle recht eindeutig bei den Bayern, aber Benfica bringt vieles mit, was es braucht, um den Münchnern ein Bein zu stellen. Darunter neben Physis und Aggressivität vor allem ein gut konzipiertes Umschalt- und Ballbesitzspiel mit Spielern, die auch unter Druck gute Entscheidungen treffen können.
Andererseits wird das gar nicht die wichtigste Frage am Mittwochabend sein. Viel mehr wird es darauf ankommen, wie Benfica mit der in den allermeisten Spielphasen fehlenden Kontrolle zurecht kommt. Gegen Barcelona haben sie das mit kleinen Abstrichen gut gelöst, aber dass Bayern im Moment ein ganz anderes Kaliber ist, wird beim Blick auf die Tabelle klar.
Im Vergleich zu Leverkusen bringt Benfica aber immerhin einiges an internationaler Erfahrung mit. Es ist also gut möglich, dass das Top-Spiel der Gruppe E seiner Bezeichnung gerecht werden kann.