Auf Wiedersehen, Basti
München, Allianz Arena, 18. Mai 2012. Seit einer Woche bastelten wir an der Choreografie für das größte Spiel unseres Lebens. Für das bedeutendste Spiel in der Geschichte des FC Bayern. Das Europapokalfinale in der eigenen Stadt. Hunderttausende Bayernfans waren in diesen Tagen in München auf den Beinen. Die Folien wurden ausgelegt, die Blockfahne montiert. Plötzlich fingen die Choreohelfer an zu murmeln, deuteten auf das Spielfeld. Bastian Schweinsteiger lief durch das sonst leere Stadion auf die Südkurve zu. Kurz vor der offiziellen Pressekonferenz der UEFA. Es kam zu einem kurzen gemeinsamen Smalltalk, dann inspizierte er den Rasen, den Strafraum, den Elfmeterpunkt. Es war der Elfmeterpunkt, von dem er rund 30 Stunden später nur den Pfosten treffen sollte. Der Elfmeterpunkt, der den Traum einer ganzen Stadt platzen ließ.
Erste Erinnerungen
In der Jugend führte Schweinsteiger seine Mannschaften zu Titeln. U17-Meister 2001, U19 Meister 2002. Andere Vereine wurden in dieser Zeit auf ihn aufmerksam. Vereine, bei denen der Weg in die Bundesliga vermeintlich einfacher gewesen wäre. Doch der mittlerweile verstorbene damalige U17-Trainer Stephan Beckenbauer überzeugte Basti, den steinigeren Weg bei seinem Herzensverein zu wagen. Eine Entscheidung, die sich auszahlen sollte. Als der FC Bayern im Herbst 2002 sang- und klanglos aus der Gruppenphase der Champions League ausschied, stand der Rekordmeister bereits vor dem letzten Spieltag gegen den RC Lens als Gruppenletzter fest. Ich erinnere mich heute noch daran, wie viele Leute damals versuchten, ihre Eintrittskarte loszuwerden. Auch ich selbst schlug das Angebot einer kostenlosen Eintrittskarte aus. Offiziell 22.000 Zuschauer waren an diesem trüben Novembertag im Jahr 2002 im Stadion, sahen ein abwechslungsreiches 3:3. Und in den Schlussminuten gaben gleich zwei Nachwuchsspieler des FC Bayern ihr Profidebüt: Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger.
Meist kam Schweinsteiger in der Folge auf der offensiven Außenbahn zum Einsatz. Eines seiner besten Spiele auf dieser Position machte Schweinsteiger im April 2005 gegen den FC Chelsea. Nach einem 2:4 im Hinspiel gaben die Münchner im Rückspiel von Anfang an Gas. Zé Roberto links und Schweinsteiger rechts sorgten für mächtig Wirbel, doch Frank Lampard traf mit einem abgefälschten Schuss mitten ins bayrische Herz zum 0:1. Doch Schweinsteiger steckte nicht auf, war auch trotz des aussichtslosen Ergebnisses bis zum Schlusspfiff nicht zu bremsen. Der Kicker bestimmte ihn nach der Partie zum Spieler des Spiels, das der FC Bayern durch zwei späte Tore noch mit 3:2 gewann. Durch das Ausscheiden war es das letzte Flutlichtspiel des FC Bayern im Münchner Olympiastadion. Kein Fußballfan, der jemals ein Abendspiel mit Flutlichtmasten erlebt hat, wird diese Atmosphäre je in seinem Leben vergessen. Für den FC Bayern war es an diesem Tag das vermutlich letzte Heimspiel aller Zeiten unter klassischem Flutlicht. Für Bastian Schweinsteiger war jener Abend der Tag, an dem die Legende vom Fußballgott begann.
Noch längere Zeit wartete Stephan Lehmann beim Verlesen der Mannschaftsaufstellung nicht auf den Zusatz „Fußballgott“, der nur von einem Teil der Südkurve gerufen wurde. Nach seiner anfänglichen Zeit als Shootingstar wurde „Schweini“, wie er damals simpel genannt wurde, zwischendurch auch gerne mal belächelt. Er lieferte den Boulevardblättern ausreichend Geschichten. Und gerade, als Franck Ribery zum FC Bayern kam und zeigte, was Weltklasse auf den Flügeln bedeutet, schien Schweinsteigers Zukunft in München nicht immer gesichert. Nach der enttäuschenden Saison mit Jürgen Klinsmann verpflichtete der FC Bayern mit Arjen Robben einen weiteren Flügelstürmer. Wieder scheint Schweinsteigers Zukunft in München offen, sein Stammplatz zweifellos Geschichte. Doch zum Saisonstart fällt Mark van Bommel wochenlang aus und Schweinsteiger rückt neben Neuzugang Anatoly Tymoshchuk ins Zentrum.
Die ersten Monate unter Louis van Gaal waren eine schwere Zeit für den FC Bayern. Zwischenzeitlich rutscht der FC Bayern am 12. Spieltag sogar auf den achten Tabellenplatz ab. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Doch Schweinsteiger beginnt, sich als Schaltstelle im wackligen Zentrum zu etablieren. Als van Bommel zurückkehrt, behält Schweinsteiger seine Position und Tymoshchuk weicht auf den Flügel aus. Und dann stand die Partie bei Juventus Turin an. Letzter Spieltag in der Gruppenphase der Champions League. Dank der Schützenhilfe von Girondins Bordeaux, bekam der FC Bayern nochmal eine unverhoffte Chance, ins Achtelfinale einzuziehen. Doch Juventus war zu jener Zeit ein absoluter Angstgegner für den FC Bayern. Wenige Jahre zuvor setzte es zwei Niederlagen in den Gastspielen bei der alten Dame. Den Italienern hätte ein torloses Remis gereicht. Und wer konnte besser auf ein 0:0 spielen als Juventus?
Aufstieg in die Weltklasse
Ich erinnere mich, dass wir ohne wirkliche Zuversicht nach Turin fuhren. Ein letztes Mal Königsklasse, bevor es in den UEFA Cup gehen würde. Dachten viele. Doch was an diesem 8. Dezember 2009 geschah, ging als „Wunder von Turin“ in die Geschichte ein. Angetrieben von einem überragenden Bastian Schweinsteiger (Kicker Note 1,5), der zudem auch noch Juves Spielmacher Diego völlig kaltstellte, gewann der FC Bayern mit 4:1 beim italienischen Rekordmeister. Es war der Tag, an dem Bastian Schweinsteiger zum ersten mal in der Zentrale absolute Weltklasse ablieferte. Weltklasse, die er wenige Monate später in Südafrika bestätigte. Besonders sein Solo im Viertelfinale gegen Argentinien bleibt im Gedächtnis. „Dafür ist der Begriff Nassmachen überhaupt erst erfunden worden“.
Was Bastian Schweinsteiger auch so besonders machte, war seine Liebe zu München. Es war nie ein großes Geheimnis in der Stadt, wo das Klingelschild mit dem Namen „Cantona“ zu finden war, Schweinsteigers Lieblingsspieler in der Jugend. Wenn man damals im Gärtnerplatzviertel zum Einkaufen, auf einen Kaffee oder Abends unterwegs war, standen die Chancen gut, einem Menschen mit übergestreiftem Kapuzenpulli oder einem Cap samt Sonnenbrille über den Weg zu laufen. Und dann kam jener 19. Mai 2012. Der Tag, der alles veränderte in unserem Leben. Es hätte der größte Tag in der Geschichte des FC Bayern werden sollen. Es wurde der Tag, an dem ein Lebenstraum wie eine Seifenblase platzte.
Was in den anschließenden 12 Monaten geschah, ist dann eine bekannte Heldengeschichte. Bastian Schweinsteiger musste in seinem Leben einige Rückschläge einstecken. Beispielsweise bei den haltlosen Anschuldigungen seitens eines Münchner Boulevardblattes, er wäre in einen Wettskandal verwickelt. Oder bei der Kampagne der Springer Medien gegen ihn, er sei ein „Chefchen“. Das Finale dahoam war der größte Rückschlag seines Lebens. Gerade in dieser Zeit nach dem Vizetriple waren die Zweifel an der „Generation Lahmsteiger“, wie Justin so schön sagen würde, am größten. Doch genau dann zeigte Schweinsteiger, was das „Mir san mir“ Gefühl wirklich ausmacht.
Ich schreibe ganz bewusst „Mir san mir“ mit einem R hinten, um dieses echte bayrische Lebensgefühl vom inflationär verwendeten Marketingslogan „Mia san Mia“ abzugrenzen. Wir hätten nach 2012 zusammenbrechen können. Wir hätten in die Geschichte als der ewige Zweite eingehen können, der sich wie so viele Vereine in Deutschland dann über die Zeit die knapp verpassten Chancen schönredet. Aber aufgeben liegt nicht in unserer Natur. Zweite Plätze ist nicht das, womit wir uns zufrieden geben. Der FC Bayern ist so wie er ist, weil er sich in seiner jüngeren Geschichte nie auf der Vergangenheit ausgeruht hat, sondern immer nach dem nächsten Triumph strebte. Diese Mentalität hat Bastian Schweinsteiger wie kein Zweiter verkörpert. Nach außen wahrnehmbar noch viel mehr als der eher ruhig und bedacht wirkende Philipp Lahm.
Am 19. Mai 2012 lag Bastian Schweinsteiger rund 70 Meter entfernt von mir im Mittelkreis auf dem Boden. 30 Stunden, nachdem wir uns noch hochmotiviert beim Choreoaufbau sprachen. „Unsere Stadt, unser Stadion, unser Pokal“ war damals der Titel der Choreografie. Es war unsere Stadt, es war unser Stadion. Es war an diesem Abend aber nicht unser Pokal. 371 Tage später lag Schweinsteiger wieder rund 70 Meter von mir entfernt im Mittelkreis auf dem Boden. Doch diesmal nicht mit dem Gesicht Richtung Boden. Bastian Schweinsteiger sah in den Nachthimmel von London. Mit der Goldmedaille um den Hals. Als ich ihn dort liegen sah, blickte auch ich auf die Sterne über uns. Es war der größte Tag seines Lebens als Vereinsfußballer. Es war der größte Tag meines Lebens als Fan.
Knapp zehn Jahre durfte ich dem FC Bayern quer durch Europa zu den Spielen hinterherreisen. Acht dieser zehn Jahre stand Bastian Schweinsteiger für unseren Verein auf dem Spielfeld. Er hat mein Leben als Bayernfan geprägt wie kein anderer Spieler. Nicht nur wegen seiner sportlichen Leistung, sondern auch wegen seiner Entwicklung als Mensch. Als Weltklassesportler, dem der Erfolg nie zu Kopf stieg und immer authentisch blieb. Als Sieger auf dem Platz, der selbst in der Stunde der größten Triumphe der erste war, dem unterlegenen Gegner seinen Respekt auszusprechen.
Wenn ich heute in meinem Hobby als Fan des Jugendfußballs beim FC Bayern unsere Nachwuchsspieler verfolge, himmeln die meisten Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi an. „GOAT“ schreiben sie dann über diese Spieler, also „Greatest of all time“. Der GOAT meines Lebens ist Bastian Schweinsteiger. Der Junge, der in Oberbayern aufwuchs. Der Jugendspieler, der es beim FC Bayern schaffte. Der Vizekapitän, der uns zum größten Erfolg unserer Vereinsgeschichte führte. Und der Mensch, vor dem man den Hut zieht. Ich sage heute nicht: „Servus, Basti“. Ich sage heute: „Auf WIEDERsehen, Basti“. Denn eine Zukunft des FC Bayern ohne Bastian Schweinsteiger eines Tages in einer verantwortlichen Position kann ich mir nicht vorstellen. Er verkörpert die Einstellung und die Werte unseres Vereins wie kein Zweiter. Ich bin mir sicher: Wir sehen uns eines Tages wieder! Bis dahin: Danke Fußballgott!