Als Sebastian Deisler die Zeit still stehen ließ
Schon wieder 0:1 hinten. Und das verdient. Es ist bisher nicht die Saison des FC Bayern, der im November 2006 an einem kalten Nachmittag in Hamburg auf dem Weg zu seiner fünften Saison-Niederlage ist. Van der Vaart hatte den von Thomas Doll trainierten HSV mit einem Elfmeter in der ersten Halbzeit in Führung gebracht. Bayern-Coach Felix Magath kann nicht gefallen haben was er bisher gesehen hat. Zwei Mal wechselt er bereits zur Pause. Lucio für Demichelis. Und Deisler für Ottl. Deisler? 8 Monate hatte der inzwischen 26-Jährige zuvor pausiert. Die fünfte schwere Verletzung im rechten Knie hat ihn die WM 2006 im eigenen Land gekostet. Eine Woche vorher hatte er gegen Stuttgart sein Comeback gefeiert. Für wenige Sekunden in der Nachspielzeit. Jetzt vertraut ihm Magath schon ab der Halbzeit.
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Wer die Geschichte von Sebastian Deisler verstehen will, muss sich in ein anderes Fußballzeitalter versetzen. Als Deisler im Jahr 1998 im Alter von 18 Jahren die Bundesliga-Bühne betrat, gab es quasi niemanden wie ihn. Es gab keine jungen, hochtalentierten deutschen Spieler in der Bundesliga. Bei der gerade zu Ende gegangen WM in Frankreich war Jens Jeremies der jüngste Spieler im Kader der Nationalmannschaft. Mit 24. Der deutsche Fußball wurde immer noch geprägt von einer Riege Ü30-Spieler. Klinsmann, Bierhoff, Möller, Kohler – ja sogar Matthäus. Schon hier in Mönchengladbach erleidet Deisler wenige Monate nach seinem Bundesliga-Debüt seine erste schwere Knieverletzung im rechten Knie. Eine Kreuzbandverletzung zwingt ihn ab Oktober zu einer mehrmonatigen Pause.
Als Deisler nach seiner Rückkehr im Frühjahr 1999 mit einem Solo über den halben Platz gegen 1860 München einen der wenigen Gladbacher Siege in dieser Saison einleitet ist der Hype perfekt.
Schon zwei Jahre zuvor war er bei der U17-WM in Ägypten zum zweitbesten Spieler des Turniers gewählt worden. Hinter Ronaldinho. Basti Fantasti heißt es fortan. Deisler übernimmt auf einen Schlag die Rolle des Sunnyboys des deutschen Fußballs vom inzwischen deutlich reiferen Mehmet Scholl, der ohnehin dabei ist sich aus Öffentlichkeit und Poster-Generation zurückzuziehen. Technik, Geschwindigkeit, Genialität. Der deutsche Fußball lechzt in einer Zeit, in der Spieler wie Ronaldo oder Zinedine Zidane den internationalen Fußball bestimmen, nach diesen Eigenschaften. Weil man Ronaldo und Zidane vor Augen hat aber Andy Möller oder Jörg Heinrich bekommt. Deisler wird innerhalb weniger Monate zum Jahrhunderttalent hochgeschrieben.
Berlin als „Genickschuss“
Nach Mönchengladbachs Abstieg aus der Bundesliga entscheidet er sich 1999 für einen Wechsel nach Berlin. Die Hertha hatte sich gerade überraschend für die Champions League qualifiziert. Auf den ersten Blick ein kluger, logischer Karriereschritt. Deisler macht in Berlin so weiter wie er in Mönchengladbach aufgehört hat. In den ersten drei Ligaspielen ist er an vier Toren beteiligt. Auch dank ihm übersteht Hertha die Gruppenphase der Champions League, schlägt den AC Mailand zu Hause mit 1:0. Deisler spielte auch auf europäischer Ebene gut. Es ist diese Mischung aus enger Ballführung, überraschenden Bewegungen und enormer Dynamik, die Deislers Spiel in der frühen Phase so elektrisierend macht. Hinzu kommen glänzende Standardsituationen, eine gute Schusstechnik und herausragende Flanken. Auch im Ausland gilt er inzwischen als DAS deutsche Talent. Deisler fühlt sich vereinnahmt. Ausgeleuchtet. Die Aufmerksamkeit schmeichelt ihn, aber er ist weder darauf vorbereitet, noch entspricht die Star-Rolle seinem Naturell.
Die nächste Knie-OP Ende 1999 kann seine Teilnahme an der EM 2000 nicht verhindern. Er ist mit 20 Jahren der mit Abstand jüngste Spieler in einem völlig überalterten deutschen Kader. Michael Ballack, der zuvor in Kaiserslautern und Leverkusen wachsen konnte und die Nationalelf fortan prägen sollte ist mit 24 der einzige andere hoffnungsvolle jüngere Profi. Beide spielen beim Turnier in der Niederlande und Belgien, das bereits in der Vorrunde endet, nur eine Nebenrolle. Niemand ahnt, dass dies Deislers einziges großes Turnier bleiben wird.
Zwei Jahre später wechseln Deisler und Ballack gemeinsam nach München. Die große 2001er Generation um Effenberg, Elber und Co. hat den Verein bereits verlassen oder ist auf dem Weg dahin. Was damals niemand weiß: Als Deisler in München ankommt ist er im Prinzip ein bereits tief verunsicherter, fast gebrochener junger Mann. Seine letzte Saison in Berlin bezeichnete Deisler später als Genickschuss. „Heute weiß ich, dass ich damals hätte aufhören sollen“, sagte er 2010 in einem seiner wenigen Interviews in der ZEIT. Durch eine Indiskretion einer Bank wurde Deislers geplanter Wechsel nach München im Herbst 2001 öffentlich. 20 Millionen Mark Handgeld soll Deisler kassiert haben. Als das bekannt wird, bricht es über Deisler herein. Hertha-Manager Dieter Hoeneß habe ihn zuvor gebeten mit seinem Wechselwunsch nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Als der Wechsel dann bekannt wurde, stellt sich Hoeneß nicht vor seinen Spieler, sondern gibt ihn zum Abschuss frei. So empfindet es Deisler jedenfalls. Hoeneß widerspricht dieser Darstellung.
Fortan wird er angefeindet, bekommt Morddrohungen, zieht sich völlig zurück. Weil er sich wenige Tage nach der Veröffentlichung seines Wechsels erneut schwer am Knie verletzt und für mehrere Monate ausfällt, kann er sich noch nicht einmal auf dem Platz beweisen. Kann nicht zeigen, dass er sich bis zuletzt reinhaut für den Verein. Er sitzt mit Krücken auf der Tribüne und wird beschimpft.
Glücklich war er ohnehin nicht in Berlin. Er beschreibt in seiner Biografie „Zurück ins Leben“ wie er das Spiel der Großen mitspielt. Dickes Auto vor der Tür, Clubs abfahren. Er macht es mit und empfindet nichts dabei. Er fühlte sich in Berlin wie ein trauriger Clown, sagt er später.
Die Saison 2002/2003 verpasste Deisler fast komplett, weil er sich kurz vor der WM 2002 erneut schwer verletzt. Wieder das rechte Knie. In der Folge auch muskuläre Probleme im Oberschenkel. Danach läuft es besser. Hitzfeld setzt zu Beginn der Saison 2003/2004 auf ihn. Deisler wirkt nach der langen Pause endlich komplett austrainiert. Er ist wieder spritziger und nimmt positiv Einfluss auf das Spiel. Seine brandgefährlichen Flanken finden immer häufiger den enorm kopfballstarken Michael Ballack. Dazu trifft Deisler in den ersten 11 Spielen auch drei Mal selbst. Beim 4:1 gegen Dortmund im November 2003 ist er mit 2 Assists einer der besten Spieler auf dem Feld. Zehn Tage später begibt er sich wegen einer Depression in stationäre Behandlung. Die Öffentlichkeit wird von der Nachricht über Deislers Depression völlig überrascht, was nur beweist wie weit die Wahrnehmung öffentlicher Personen von der Realität entfernt sein kann. Wer Deislers Geschichte in seinen Worten nachvollzieht fragt sich im Nachhinein wie er es überhaupt so weit schaffen konnte.
Rechtsaußen ohne Freiheit
Ab dem Sommer 2004 ist Felix Magath Trainer in München. Magath setzt auf Druck, beinahe auf Verunsicherung, um Leistungen zu provozieren. Deisler, der retrospektiv einen verspielten, fast künstlerisch, romantischen Blick auf den Fußball offenbart, passt das nicht wirklich. Trotzdem kämpft er sich zurück. Er ist hart mit sich selbst, will seinen Körper stählen, um endlich die Erwartungen zu erfüllen, die auch in München mit seinem Ruf und seinem Gehalt einhergehen. Gleichzeitig sucht er die Freude am Spiel. Das ist es was ihn für eine Zeit im Fußball hält. Das Zusammenspiel mit den Stürmern, die vor ihm kreuzen und so Lücken für seine Pässe aufreißen. Kleine Momente.
Zwischen 2004 und 2006 bleibt Deisler zum ersten Mal über einen langen Zeitraum verletzungsfrei. Gut spielt er in München selten. Magath wechselt ihn meist spät ein oder früh aus. Rhythmus aufnehmen und Vertrauen in sein Knie aufbauen kann er nicht. In der Nationalmannschaft läuft es besser. Der neue Nationaltrainer Jürgen Klinsmann macht früh klar, dass er für die WM 2006 einen Platz für Deisler reserviert. 13 Länderspiele macht er im Jahr 2005. Darunter gute Auftritte beim Confed-Cup gegen Tunesien, Argentinien und Brasilien.
Deisler spielt in München inzwischen fast ausschließlich auf dem rechten Flügel. Ähnlich wie später bei Bastian Schweinsteiger kommen seine Qualitäten dort nicht komplett zur Geltung – gerade jetzt, da er durch seine vielen Knieverletzungen an Explosivität eingebüßt hat. Er strebt in die Mitte, fühlt sich einen Meter neben Außenlinie in seiner Kreativität und seinem Gestaltungsspielraum geradezu eingeengt wie er es später einmal beschreibt. Während der beiden Meisterschaftsjahre 2005 und 2006 wird er weit draußen auf der rechten Seite eher zum Flanken- und Standardspezialisten degradiert.
Schon in jungen Jahren wurde er häufig mit David Beckham verglichen. Eine ähnliche Rolle spielte er in München in der Tat – wenn auch zumeist auf niedrigerem Niveau. Sein fußballerisches Ideal war ohnehin eher Zidane. „Ich habe ihn bewundert, weil er Körperlichkeit und Kunst im Fußball verbunden hat. Zidane konnte tanzen und zugleich robust sein. Das war auch mein Traum“, sagte Deisler 2009 der ZEIT. Das klingt abgehoben, aber dieser fast philosophische Ansatz schwang bei Deisler häufig mit. „Mein Gott, ich hatte utopische Träume. Ich wollte beim FC Bayern in die Mitte des Spiels kommen, um einen neuen Geist hereinzubringen, mehr Freude am Spiel, mehr miteinander und nicht dieses Egobetonte. (…) Ich lebe als Fußballer und Mensch von meiner Intuition, von meinem Gefühl. Ich hatte auf dem Feld nicht diesen einen festen Plan, ich habe gesehen, wo die Stärken und Schwächen meiner Mitspieler waren, ich habe gesehen, welchen Ball, welchen Pass wer braucht. Das ist meine Intuition, meine Kreativität, das ist meine Fantasie. Das ist es, warum ich so gut Fußball gespielt habe in meiner guten Zeit“, sagte Deisler seinem Biografen Michael Rosentritt.
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Im Herbst 2006, bei seinem letzten Comeback umgibt ihn vielleicht zum ersten Mal in seiner Karriere nicht diese Aura der überzogenen Erwartungen. Viele hofften auf ein Happy-End mit der WM im eigenen Land, die für ihn in der Tat in Reichweite schien. Eine Knorpelsprengung machte auch das zu Nichte. Inzwischen ist allen klar, dass Deisler den Ruf des Jahrhunderttalents nicht erfüllen wird. Vielleicht gelingt es ihm weiter auf hohem Niveau mitzuhalten. Das ist nun der Maßstab.
Als Deisler im November 2006 gegen den HSV beim Stand von 0:1 zur Halbzeit eingewechselt wird, ändert sich das Spiel der Münchner sofort. Bieder war der Auftritt der Gäste zuvor. Passiv und harmlos. Deisler kommt wieder über rechts und ist von der ersten Minute an Fixpunkt im Spiel. Er geht ins Dribbling, er zieht in die Mitte, holt sich Bälle, startet immer wieder tief und wird von seinen Mitspielern Sagnol, van Bommel und Schweinsteiger gesucht.
In der 56. Minute wird Deisler in halbrechter Position mit einem hohen Ball angespielt. Deisler nimmt das Leder mit der Brust herunter, zieht leicht nach innen, hat an der Strafraumecke vier Gegenspieler gegen sich. Den heranrauschenden Trochwoski lässt er 20 Meter vor dem Tor mit einem kurzen Haken aussteigen. Deisler blickt auf. Er könnte Schweinsteiger im Rückraum anspielen, der 25 Meter vor dem Tor auf einen Fernschuss lauert. Dann sieht er Makaay im Rücken von Bastian Reinhardt in den Strafraum starten. Deisler deutet mit der Schulter kurz an zum Schuss auszuholen. Reinhardt versucht diesen Moment zu nutzen, um Makaay ins Abseits zu stellen. Doch Deisler löst die leichte Ausholbewegung blitzschnell auf und spielt mit links einen fast gehauchten Pass durch die Hamburger Verteidigung hindurch in den Raum zwischen HSV-Schlussmann Wächter und der Abseitslinie. Das alles passiert in einer halben Sekunde. Makaay muss aus sieben Metern nur noch am herausstürmenden Wächter vorbeischieben. 1:1.
Bis heute ist mir dieser Moment, den ich von der Tribüne des Hamburger Volksparkstadions verfolgte, in die Erinnerung eingebrannt. Es war perfekt. Diese kleine Verzögerung vor Deislers Pass brach mit der gesamten erwarteten Rhythmik der Situation. Alles sprach für Schuss oder Querpass. So wie man es hunderte Mal in ähnlichen Situationen erlebt hatte. Das gesamte Stadion richtete sich in der Szene langsam auf, um die Situation genau zu verfolgen, der Geräuschpegel stieg, weil sich der Abschluss andeutete. Und Deisler änderte in einer halben Sekunde, mit einer kleinen Verzögerung alles. Als würde das Spiel für ihn viel langsamer sein als für alle um ihn herum.
Hamburgs Abwehr folgte Deislers Bewegungen. Schob erst zurück, dann noch vorn nur um genau in diesem Moment mit einem perfekt getimten Pass an den einzigen Ort im Strafraum, der es Makaay ermöglichte an den Ball zu kommen, geschlagen zu werden. Die Dynamik dieser Situation war hinreißend. Wie eine Choreografie. Es war der beste Moment, das beste Spiel von Sebastian Deisler im Bayern-Trikot.
Der 26-Jährige drehte in der Folge das Spiel fast im Alleingang. Auch Pizarros Siegtreffer bereitete er mit guter Übersicht von der Grundlinie aus vor. Später heißt es, dass er nur dann befreit aufspielen konnte wenn er völlig überraschend und ohne viel Zeit um nachzudenken in ein Spiel geworfen wurde. Vielleicht war dies so ein Fall. Vielleicht zum ersten Mal im Bayern-Trikot gelang es ihm das Spiel von der rechten Seite aus zu strukturieren, gestalten und zu bestimmen. Für diese 45 Minuten war Deisler so gut wie es sich viele immer ausgemalt haben. Er spielte als würde er die Zeit still stehen lassen. In jeder Hinsicht.
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Zwei Monate nach dem Spiel gegen den HSV. Am 16. Januar 2007 beendete Sebastian Deisler seine Karriere. Zermürbt von Verletzungen und der Dunkelheit die er in sich vernahm. Vor genau 10 Jahren. Man wünscht sich manchmal Deisler wäre in die heutigen Strukturen des deutschen Profi-Fußballs hineingewachsen. Mit all der professionellen Betreuung, mit einer Riege von großen Talenten, die verhindern, dass einer allein alle Erwartungen schultern muss. Auf der anderen Seite ist es müßig überhaupt darüber nachzudenken, weil die Gründe für seinen Weg ins Karriere-Ende so unglaublich vielschichtig und von außen ohnehin nur schwer einzuordnen sind.
So bleibt zehn Jahre danach die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Fußballer, der in seinen besten Momenten auch im Bayern-Trikot Dinge möglich machte, die nur sehr wenige Fußballer möglich machen können. So wie damals. In Hamburg.