FC Bayern – Miasanrot-Adventskalender, Nummer 6: Thiago Alcântara (Nikolaus-Edition)
Ein Gastbeitrag von Tobias Hahn.
Hinter dem heutigen Türchen versteckt sich ein Spieler, der integraler Bestandteil der Übergangszeit zwischen der Generation Lahm und der Generation Kimmich war. Sieben Jahre prägte Thiago Alcântara den FC Bayern. Besonders seine Art zu dribbeln, bleibt im Gedächtnis.
„Thiago oder nix“
Wir schreiben das Jahr 2013. Die Bayern haben gerade erfolgreich das Triple unter Jupp Heynckes gewonnen und starteten vor wenigen Tagen das Abenteuer Pep Guardiola. Da geschah es, auf einer Pressekonferenz im Trainingslager in Trentino. Es fiel ein Satz, der wohl für immer in Deutschland mit Thiago verbunden sein wird. „Thiago oder nix“ antwortete Pep Guardiola auf die Frage, welche Verstärkung der Kader noch benötige.
Und so kam es wenige Tage später, dass Thiago, ein Schüler aus La Masia, den großen FC Barcelona verließ, um seinem einstigen Förderer nach München zu folgen. Im damals bereits gut besetzen Mittelfeld mit Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger, Javi Martinez und Philipp Lahm kam natürlich sofort die Frage auf, was Thiago von der genannten Konkurrenz abhebt.
Der Spanier, dessen Vater für Brasilien auflief, zeigte in den nächsten Jahren seine herausragenden Fähigkeiten. Durch Verletzungen geplagt, dauert es seine Zeit, doch besonders nachdem Guardiola die Münchner verließ, bestach Thiago mit Kontrolle, Spielintelligenz, seinem Gefühl für den Rhythmus des Spiels und einem Arsenal an verschiedenen Pässen, die so im Weltfußball selten zu sehen waren.
Kombination des spanischen Passstils mit der brasilianischen Leichtigkeit
Ein klassischer Spieler aus der Jugendakademie Barcelonas, oder? Nicht ganz. Neben dem fast schon roboterhaften Passspiel, dass so viele Spieler der goldenen Barca-Generation auszeichnete, verbindet Thiago noch heute den spanischen Passstil mit der brasilianischen Leichtigkeit am Ball. Besonders mit seinen kurzen Dribblings und cleveren Kontakten lieferte Thiago Highlights in der Allianz Arena. Allerdings waren diese Bewegungen nicht nur Show, sondern folgten stets einem Ziel – sich Zeit und Raum zu verschaffen.
Wer sich mit dem Fußball auf einer eher taktischen Ebene befasst, wird feststellen, dass alle individual-, gruppen- und mannschaftstaktischen Aktionen stets darauf abzielen, dass ein Spieler Zeit und Raum hat den Ball zu kontrollieren und eine Entscheidung zu treffen. Idealerweise befindet er sich in einem Raum, der gefährlich für den Gegner ist (z.B. im Strafraum oder direkt vor der gegnerischen Abwehr).
In der Regel versucht der Gegner einem genau diesem Raum und diese Zeit zu nehmen, deshalb spielen Dribblings eine so große Rolle. Schlage ich einen Gegner, habe ich meistens Zeit und Raum. Nun gibt es unterschiedliche Arten des Dribblings. Viele denken zunächst an das klassische, frontale eins gegen eins. Arjen Robben oder Franck Ribéry auf den Flügeln sind da wohl die ersten Einfälle eines jeden Bayern-Fans. Jedoch gibt es noch mehr Arten. Das Andribbeln eines Innenverteidigers mit dem Ball ist eine Form davon. Wir sehen aktuell, wie erfolgreich flinke und schlangenartige Bewegungen auf engstem Raum sind – Jamal Musiala entwickelt sich so zum Albtraum einer jeden Defensive. Zu guter Letzt lässt sich der Gegner bereits bei der Ballannahme ausmanövrieren. Hier brilliert Thiago.
„The most important thing is thinking fast“
Thiago folgt dabei stets einem Muster. Sein Ziel ist es das Tempo des Verteidigers im Anlaufen gegen ebenen jenen zu verwenden. Was bedeutet das? Wenn Thiago den Ball erhält und der Gegner ihn gleichzeitig anläuft, stoppt er den Ball nicht, sondern nutzt den ersten Kontakt, um am Verteidiger vorbeizugehen. Oft befindet er sich dabei mit dem Rücken zum Gegner. Mit Hilfe einer kurzen Täuschung lässt er den Gegner im Ungewissen, wohin er den ersten Kontakt nimmt, nur um dann den Ball in genau den Raum mitzunehmen, aus dem der pressende Verteidiger kam. Zeit und Raum wurde geschaffen.
„Football is always been cerebral. The most important thing is thinking fast.“Thiago
Das Geheimnis dieser Bewegung hat zwei Seiten. Zum einen sind es Verteidiger gewohnt, dass der passempfangende Spieler den Ball stoppt und erst mit dem zweiten Kontakt in den offenen Raum mitnimmt. Deshalb ergibt es Sinn, mit Tempo anzulaufen, um den Empfänger bei der Ballannahme zu stören und den zweiten Kontakt zu erschweren. Aufgrund seiner herausragenden Ballführung überspringt Thiago das Ballstoppen. Er gewinnt mehr Zeit und dem Gegner fällt es schwer so schnell die Richtung zu wechseln.
Der zweite Erfolgsfaktor liegt in Thiagos Fähigkeit das Tempo zu bestimmen. Achtet man genau auf das Tempo der Aktion, erkennt man, dass sich Thiago viel Zeit lässt, um den Gegner möglichst nah kommen zu lassen. Klassischerweise läuft der Verteidiger mit Tempo an, um dann langsamer zu werden, damit er nicht komplett ins Leere läuft. In dem Moment, indem der Verteidiger langsamer wird, scheint Thiago mit seiner Ballannahme zu explodieren und das Tempo abrupt anzuziehen. Die meisten Verteidiger haben keine Chance so schnell zu reagieren.
„Can I dribble? I’m going to dribble“
Das plötzliche Beschleunigen zeichnet den Spanier auch im frontalen 1vs1 aus. Hier verfügt Thiago über ein vielfältiges Repertoire an kleinen Körpertäuschungen, Übersteigern oder Ballrollen. Wieder ist das Prinzip aber das Gleiche. Er versucht mit Hilfe einer Körpertäuschung eine Reaktion des Gegners zu erwirken. Bewegt sich dieser zu viel, öffnet er Raum, den Thiago dann blitzschnell bespielen kann. Hier ähnelt seine Dribblingsweise sehr stark der von Lionel Messi oder Andres Iniesta. Damit Thiago den Raum nutzen kann, scheint er wieder das Spiel für ein paar Sekunden still zu legen. Der Gegner kommt praktisch zum Stehen und da Thiago in der agierenden Rolle ist, erarbeitet er sich einen kleinen Vorteil und kann nach der falschen Bewegung des Gegners in den offenen Raum stoßen. All das ist natürlich nur möglich dank seiner herausragend engen Ballführung. Die Ballführung in Kombination der schnellen Entscheidungsfindung sorgt für fußballerische Eleganz unter hohem Gegnerdruck, oder wie es Thiago selbst ausdrückt:
“When there’s adversity, you’re surrounded by opponents, when you haven’t got the passing angle you want, when you have to do something different – that’s the magic, improvisation. Can I dribble? I’m going to dribble”Thiago
Mit seiner Eleganz und seinen Dribblings stach Thiago stets heraus und bereicherte das Münchner Spiel. Was hätte nur aus ihm werden können, wenn er nicht von Verletzungen geplagt gewesen wäre? Der Spanier wurde in seiner Karriere so viele Male zurückgeworfen und kam immer wieder zurück. Das allein fordert Respekt. In letzter Zeit scheint der Weg doch immer schwerer zu sein. Wie lange wir noch die Magie des Thiagos bewundern können, bleibt abzuwarten, also sollten wir jede Sekunde genießen. Persönlich ist Thiago für mich nicht nur ein herausragender Fußballer, sondern ein sehr sympathischer Mensch. Anders als viele dachten, verließ er den FC Bayern nicht, als Pep Guardiola nach England weiterzog. Er blieb, lernte Deutsch und stattete seinen Sohn mit vielen Lewandowski-Trikots aus. Auch deshalb ist Thiago besonders und verdient einen Platz in diesem Adventskalender.