Harry Kane verzweifelt.

Thomas Tuchel und die xG: Was sind eigentlich Expected Goals?

Justin Trenner 20.02.2024

Die Niederlage in Bochum fand Thomas Tuchel „heute nicht gerecht. Es ist extrem viel gegen uns gelaufen“, erklärte der Trainer des FC Bayern München am Mikrofon von DAZN: „Wir haben einen xG-Wert von 3,4.“

Einen was? Die Expected Goals sind mittlerweile nicht nur fester Bestandteil der Berichterstattung im internationalen Fußball, sondern auch in der Analyse vieler Clubs. Insofern dürften sie auch vielen Fans bekannt sein.

Und doch gibt es wie bei nahezu jeder Statistik nicht nur Kontroversen über Sinn und Unsinn, sondern auch schlicht fragwürdigen Umgang mit den Zahlen. Denn so simpel der Blick auf das xG-Resultat am Ende ist, so komplex kann die Einordnung sein. Miasanrot hat sich dieser Komplexität angenommen.

Was sind Expected Goals (xG)?

Expected Goals, übersetzt erwartete Tore, geben an, wie viele Tore mit den herausgespielten Chancen erwartbar gewesen wären. Dafür wird pro Abschluss ein Wert zwischen 0 und 1 genutzt. Während ein Abstauber aus drei Metern Entfernung auf das freistehende Tor einem xG-Wert von 1 sehr nahe kommen wird, ist bei einem Abschluss von der Mittellinie ein Wert zu erwarten, der gegen 0 tendiert. Kommt ein Schuss also auf 0,2 xG, dann erwartet das Modell, dass dieser in zwei von zehn Versuchen zum Erfolg führt.

Klingt an sich erstmal simpel. Dahinter stecken je nach Modell aber durchaus komplexe Metriken, die auf historische Daten zurückgreifen. StatsBomb gilt seit Jahren bei vielen Expertinnen und Experten als Goldstandard der Expected Goals. Auf seiner Website schreibt der Datenanbieter: „Jedes xG-Modell hat seine eigenen Charakteristiken, aber das sind die Hauptfaktoren, die traditionell in die Mehrheit der Expected-Goals-Modelle einfließen: Distanz zum Tor, Winkel zum Tor, Körperteil, mit dem der Schuss erfolgt und die Art der Torschussvorlage oder der vorherigen Aktion (Steckpass, Flanke, Standard, Dribbling usw.).“

Ein Schuss wird anhand dieser Metriken also mit tausenden anderen Schüssen aus der Vergangenheit verglichen, die diesem ähneln.

Warum gibt es unterschiedliche xG-Werte?

So simpel das alles klingt, so unterschiedlich detailliert sind die verschiedenen Modelle. Während Thomas Tuchel gegen Bochum von 3,4 Expected Goals der Bayern sprach, hatte Opta einen Wert von 3,3 errechnet. Understat kam sogar nur auf 2,87. Das liegt vor allem daran, dass die Anbieter nicht dieselben Metriken auf der Detailebene verwenden.

StatsBomb ist auch deshalb so beliebt, weil sie viele Parameter in die Bewertung einfließen lassen, wie die Position des Torhüters, die Position der Gegen- und Mitspieler in der direkten Umgebung sowie die exakte Position des Balles – also beispielsweise, ob die Höhe des Balles für einen Volley optimal ist oder nicht.

Auch Opta nutzt die Position des Torhüters und jene der Spieler im Umfeld. Einige andere Modelle sind simpler.

Wie genau sind Expected Goals?

Die Genauigkeit hängt dementsprechend auch von der Detailtiefe der Modelle ab. Grundsätzlich gilt aber: Kein Modell kommt ohne eine Restvarianz zwischen Toren und Expected Goals aus.

Es wird immer Teams wie Union Berlin in der Saison 2022/23 geben, die ihre erwarteten Tore und Gegentore jeweils übertreffen, also mehr Tore erzielen und weniger kassieren als erwartbar gewesen wäre. Fußball ist zu dynamisch, um alles auf den Punkt objektivieren zu können.

Und doch lieferte der xG-Wert schon damals Anzeichen dafür, dass Union diese Überperformance womöglich nicht über einen sehr langen Zeitraum durchziehen kann. Je länger der Zeitraum, desto unwahrscheinlicher sind auch große Varianzen.

Warum sind xG wichtig?

Von vielen Trainern und Trainerinnen werden Expected Goals zu Recht in die Analyse mit einbezogen. „Wir schauen uns an, welche Arten von Chancen wir uns erspielen, wir nutzen auch Expected Goals“, sagte Alexander Straus einst im Interview mit Miasanrot: „Man kann die Methoden der Modelle zwar hinterfragen, aber sie sind ein guter Indikator dafür, welche Qualität die Chancen haben und wo wir vielleicht den zusätzlichen Pass machen können, um eine noch größere Chance herauszuspielen.“

Der Trainer der Frauen des FC Bayern München legt großen Wert darauf, eine große Qualität an Chancen herauszuspielen. Es ist immer eine Frage der Philosophie, ob man lieber fünf Abschlüsse mit je 0,2 xG sieht oder zehn mit 0,1 xG. Expected Goals helfen enorm dabei zu verstehen, wie sehr ein Team in der Lage ist, sich qualitativ hochwertige Chancen herauszuspielen.

Sie geben auch Auskunft darüber, welche Art von Chancen vielversprechend für Torerfolge sind. Darunter laut StatsBomb: Zentrale Abschlüsse sind besser als andere, mit dem Fuß ist eine Torerzielungswahrscheinlichkeit höher als mit dem Kopf, dementsprechend lohnen sich Steckpässe in Bezug auf Chancenqualität mehr als Flanken, Schussqualität ist der Schlüssel zum Erfolg. Gerade Letzteres ist ein interessanter Punkt.

Häufig gibt es die Annahme, dass Topstürmer wie Harry Kane oder Robert Lewandowski sich statistisch vor allem dadurch von anderen Stürmern abheben, dass sie ihren xG-Wert überperformen – was logisch wäre, weil sie über dem Durchschnitt agieren. Laut StatsBomb ist der wesentliche Unterschied aber, dass sie sich in bessere Abschlusspositionen bringen als der Durchschnitt.

Wo liegen die Schwächen von Expected Goals?

Es ist stets müßig, darüber zu diskutieren, wann ein Sieg verdient oder unverdient ist. Expected Goals zeigen zwar recht zuverlässig an, wer insgesamt die höhere Wahrscheinlichkeit auf Tore hat, doch auch da gilt es zu differenzieren. Wann kam es zu diesen Chancen? Wie viele Hochkaräter waren tatsächlich dabei?

Bleiben wir beim Beispiel der Bayern-Niederlage in Bochum. Der VfL hatte laut Opta-Daten die ersten drei Chancen des Spiels, darunter eine recht ordentliche durch Anthony Losilla (0,15). Erst danach kam Bayern mit einer sehr guten Musiala-Chance (0,28) ins Spiel. Musiala war es auch, der das Tor aus 0,08 xG erzielte und direkt davor eine gute Möglichkeit verpasste (0,16). Eine Doppelsequenz also, die am Ende addiert auftaucht.

Knackpunkt des Spiels: Harry Kane vergab in der 19. Minute eine Riesenchance (0,43). Dann kam Bochum mit vier Abschlüssen. Darunter eine Chance mit 0,22 xG und die beiden Tore (0,08 und 0,13). Kane hatte vor der Pause nochmal eine gute Gelegenheit (0,23). Bayern hatte zwar den höheren Expected-Goals-Wert zur Pause, aber der Spielverlauf war dennoch extrem wechselhaft.

In der zweiten Halbzeit kamen zunächst nur die Münchner zu Chancen. Aber: Musialas Schuss mit 0,07 xG war schon das Beste, was der FCB zu bieten hatte. Zwischen der 65. und der 83. Minute kam nichts von den Bayern. Dazwischen ging man durch einen Elfmeter (0,79) mit 1:3 in Rückstand. Erst in der Schlussphase legte Bayern wieder zu: Sané in der 86. Minute (0,51), Kanes Tor (0,55) und ein weiterer Abschluss des Engländers (0,30) waren die besten Chancen.

Nun kann Tuchel zwar berechtigterweise sagen, dass die Bayern die besseren Möglichkeiten hatten. Doch was der xG-Wert als Gesamtsumme nicht aussagt:

  • Bochum hatte mehrere sehr gute Phasen im Spiel, die man als FCB nicht zulassen darf
  • Bayerns größte Chancen nach der vergebenen Kane-Möglichkeit in der 19. Minute kamen erst, als das Spiel mit 1:3 in der 86. Minute bereits so gut wie entschieden war
  • Es gab ein großes Loch zwischen der Kane-Chance in der vierten Minute der Nachspielzeit der ersten Halbzeit (insgesamt gab es 14 Minuten) und der Sané-Chance in der 86. Minute. Bayern hatte trotz Rückstand also in einem sehr langen Zeitraum so gut wie keine hochwertige Möglichkeit, um das Spiel zu drehen

Welche weiteren Schwächen gibt es bei xG?

Eine weitere wichtige Schwäche der xG-Modelle ist, dass Chancen nur dann in die Wertung einfließen, wenn es zu einem eigenen Abschluss kommt. Einerseits werden Eigentore nicht einberechnet, andererseits natürlich auch die vielen Situationen nicht, in der Teams gefährlich vor das gegnerische Tor kommen, aber der letzte Querpass nicht sitzt.

Nehmen wir an, Kane und Sané laufen ohne Gegenspieler auf das gegnerische Tor zu und der Engländer versucht direkt vor dem Torhüter auf den komplett freistehenden Sané quer zu legen. Genau das gelingt ihm aber nicht und der Ball rollt ins Aus. Kein Expected-Goals-Modell wird diese Großchance je berücksichtigen, obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolgs hier sehr hoch sein dürfte.

Auch der Spielverlauf wird wie oben dargestellt nicht einberechnet. Das betrifft aber auch das reale Ergebnis. Bochum wird sich bei einer 3:1-Führung deutlich mehr auf die Defensive fokussieren, statt vorn ins Risiko zu gehen. Auch die Bayern haben bei hohen Führungen in der Vergangenheit oft etwas Druck aus der Offensive genommen. Taktische Entscheidungen beeinflussen den xG-Wert und lassen ihn manchmal enger aussehen, als es letztendlich war.

Doppel- und Dreifachchancen bleiben ebenfalls ein Problem bei den Expected Goals. Manches Modell zählt konsequent jeden Abschluss, andere Modelle zählen nur den initialen Schuss, versuchen einen Mittelwert aller zu bilden oder nehmen die beste Chance aus der Sequenz. Was besser ist, lässt sich kaum sagen. Zählt man bei einer Dreifachchance alle Abschlüsse, ist der Wert am Ende absurd hoch. Allerdings kann es für die Analyse auf Spielerebene wichtig sein, jeden Abschluss zu bewerten. Ein Dilemma, das sich wohl nicht auflösen lässt.

Abschließend sei erwähnt, dass Expected Goals bei den Frauen nochmal ein Thema für sich sind. Viele Premiummodelle haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Gleichwohl ist die Streuung zwischen schlechten und guten Modellen hier nochmal größer. Das liegt schon allein daran, dass die historische Datenlage viel schlechter ist als bei den Männern.

Expected Goals: Heiliger Gral oder unnötige Spielerei?

Sind Expected Goals jetzt der heilige Gral oder eine unnötige Spielerei? Das kommt wie so oft auf den Kontext an. In der Analyse der besten Teams der Welt spielen sie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Es gibt keinen Wert, der in der Analyse eines Teams, eines Spielers oder gar eines Trainers so viele Einblicke gewährt wie Expected Goals.

Aber: Es gibt keine Statistik, die es einem abnimmt, Fußballspiele zu schauen. „Der Umgang mit Zahlen ist immer komplex und es gibt selten eine einfache Antwort darauf, warum eine Statistik so ist, wie sie ist“, erklärte Straus damals im Gespräch mit uns: „Wenn wir zum Beispiel über hohes Pressing sprechen, müssen wir immer bedenken, gegen wen wir spielen und wie sie spielen. Wir nutzen also Daten, aber immer in Bezug darauf, was wir erreichen wollen.“

In der Berichterstattung kommt der Kontext oft zu kurz. Das liegt auch daran, dass die einfache Erklärung verlockender ist. Tuchel lieferte am Wochenende das perfekte Beispiel dafür, dass Expected Goals nicht der Erklärungsansatz für alles sein können. Paradox: Ausgerechnet die Expected Goals, nämlich im Zeitverlauf, liefern den Erklärungsansatz dafür, warum man sie immer im richtigen Kontext nutzen sollte.

Die Diskussionen um xG und andere moderne Statistiken werden ebenso weiterlaufen wie die Entwicklung der Modelle, um Schwächen weiter anzupacken. Trotz dieser sind Expected Goals aber ein wesentlicher Bestandteil des Fußballs geworden. Man kann sagen: Sie sind gleichzeitig wichtig und nicht. Das kommt ganz darauf an, welchen Zweck man mit ihnen verfolgt.



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