Mythos: Gerd Müller
Der Mythos Müller lebte in mir durch die Erzählungen meines Vaters über einen Angreifer, der aus jeder Situation, egal wie aussichtslos sie auch schien, ein Tor erzielen konnte. Dann waren da natürlich die Bücher und Artikel über den “Bomber der Nation”. Immer wieder war darin zu lesen vom Jahrhundertstürmer, dem es im Sechzehnmeterraum an keiner Fähigkeit fehlte. Schnell, wendig, abschlussstark – die Liste schien unendlich. Immer wieder darin zu sehen war Müller beim Jubelsprung, mit langen, schwarzen, wallenden Haaren, hoch gerissenen Händen und einem rot-weißen schlabbrigen Trikot mit viel zu kurzen roten Hosen.
Und natürlich, dann gab es das eine Bild, das jeder kennt: Müller, dieses Mal in weißem Trikot mit schwarzer Hose inmitten zweier Orangenen. Just vor diesem Augenblick hatte er die Spielsituation mal wieder blitzartig erfasst und sich schneller gedreht als seine beiden Bewacher. Kraftvoll schließt er mit dem rechten Fuß ab, seine breiten Oberschenkel angespannt. Im Hintergrund steht Uli Hoeneß und scheint schon zu jubeln. Der 28-jährige Gerd aus Nördlingen schießt an diesem 7. Juli Deutschland in den siebten Fußballhimmel.
Zum Mythos Gerd Müller gehören selbstverständlich auch die atemberaubenden Zahlen. 14 WM-Tore, 40 Bundesliga-Tore in einer Saison, 68 Länderspieltore und 365 Tore in Deutschlands höchster Spielklasse. In einer Zeit, in der Bayerns bester Torschütze teilweise gerade einmal halb so viele Tore in einer Spielzeit erzielte, erschienen diese Nummern geradezu außerirdisch. Rekordtorschützenkönig, Rekordhattricker, Rekordkalenderjahr – nahezu in jeder Kategorie hielt Müller Zeit seines Lebens die Bestmarke.
Natürlich hatte ich später über die Geschichte von Müller nach dem WM-Titel gelesen. Von seinem Ende in der Nationalmannschaft, der Aussortierung in München, seinem Aufbruch ins ferne Florida, das ihm nie zur Heimat wurde. Es gibt noch ein Bild von Gerd Müller im rot-weißen Trikot. Dieses ist aber quergestreift und trägt das Logo der Fort Lauterdale Strikers. Der Münchner Gerd schüttelt dem Cosmopolit Franz die Hand – es sind zwei Lichtgestalten des FC Bayern und sie könnten nicht unterschiedlicher sein.
Der eine wird zur zentralen Figur bei seinem ehemaligen Verein, der andere stürzt ab und wird dennoch zum Musterbeispiel für das Miasanmia, welches das Trikot der Bayern ziert. Vor allem Uli Hoeneß erkennt das Schicksal seines Mitspielers und gibt ihm eine Anstellung, eine Aufgabe, einen Ausweg.
Das war der Gerd Müller, den ich kannte. Er war der stille und öffentlichkeitsscheue Co-Trainer der Amateure mit langem Trainingsmantel. Behutsam sah man ihn mit seinen Schützlingen im Arm oder bei Sonderschichten nach dem Profi-Training. So nahm er seinen Einfluss auf eine eigene Spielergeneration des FC Bayern mit Namensvetter (und Werbepartner) Thomas Müller als Gallionsfigur.
Rekorde werden aufgestellt, um gebrochen zu werden. In den 2000ern sah Gerd Müller zu, wie seine Bestmarken übertroffen worden. Zunächst war da Ronaldo “El Fenomeno”, der ausgerechnet bei der WM in Deutschland 2006 sein 15. WM-Tor gegen Ghana erzielt. 2012 bricht Messi seinen Rekord der meisten Tore in einem Kalenderjahr. 2014 löst ihn Klose als erfolgreichster Nationalmannschafts-Knipser ab. Und 2021 bricht Lewandowski den unmöglichen 40-Tore-Rekord. Doch in diesem Moment zeigt sich noch ein letztes Mal, was Gerd Müller für den FC Bayern bis heute bedeutet.
Der Pole zeigt nach seinem 40. Treffer sein Shirt mit der Aufschrift “4EVER GERD”. Der FC Bayern und der Mythos Gerd Müller sind für immer untrennbar miteinander verbunden. Wie schon Uli Hoeneß vor Jahren sagte: „Ohne den Gerd würde es den FC Bayern in seiner heutigen Form nicht geben.“