Kimmich: Die Notlösung beeindruckt
Jetzt – am 19. Februar 2016 – steht der 21 Jahre junge Mittelfeldspieler bei 1147 Pflichtspiel-Minuten im Trikot des Rekordmeisters.
Seine Grundfähigkeiten
In der letzten Saison spielte Xabi Alonso eine sehr durchwachsene Rückrunde, die auch dadurch bedingt war, dass der Spanier kaum zu Pausen kam. Der Kader war im Endeffekt immer noch zu dünn besetzt und Alonso wirkte immer müder und unkonzentrierter. Mit Kimmich kam am Anfang dieser Saison ein Spielertyp, der Alonso in einigen Aspekten sehr ähnlich ist. Beide haben ihre großen Qualitäten im Aufbauspiel. Während Alonso sich aber immer wieder dem Pressing des Gegners entzieht und den Ball tief in der eigenen Hälfte abholt, ist Kimmich oft etwas höher positioniert, weil er auch unter Druck kluge Entscheidungen treffen kann.
In allen Wettbewerben liegt Kimmichs Passquote bei rund 92%. Sein Einfluss im Aufbauspiel ist enorm, denn pro 90 Minuten spielt er in der Liga 100,1 Pässe und in der Champions League immerhin noch 90,3. Seine klugen Bewegungsabläufe im Mittelfeld sind wohl der entscheidende Grund, warum er der direkte Ersatz von Xabi Alonso ist und nicht Vidal oder Rode. Der FC Bayern hat in den meisten Begegnungen weit über 65% Ballbesitz – Pep Guardiola benötigt also Spieler, die den Ball verteilen können und Lösungen finden, um vom Verteidigungs-Drittel in die vorderen Drittel des Spielfelds zu kommen. Rode und Vidal haben genau in diesem Bereich ihre Defizite, Kimmich hingegen seine Stärken. Darüber hinaus ist der Neuzugang vom VfB Stuttgart, wie schon angedeutet, ein äußerst pressingresistenter Spielertyp. Speziell in den Spielen zu Beginn der Rückrunde gab es immer wieder Szenen, wo er von mehreren Angreifern unter Druck gesetzt wurde, allerdings nie hektisch reagierte, sondern eine Lösung fand. Beachtlich ist dabei auch die Qualität dieser Lösungen.
Statt den Ball unter Druck einfach zu Manuel Neuer zu spielen, was der einfachsten Lösung entspräche, spielte er immer wieder Bälle durch die Schnittstellen der vordersten Pressinglinie des Gegners und sorgte so für viel Raumgewinn. Kimmich verliert so gut wie nie den Ball und scheint sich trotz seines jungen Alters keine Fehler im Spielaufbau zu leisten. Pro 90 Minuten Bundesliga-Fußball wird er 0,7 Mal vom Ball getrennt. Das alles gelingt ihm auch deshalb so gut, weil er stets den Überblick über seine direkte Umgebung hat, aber auch über das gesamte Spielfeld. Kimmich versucht nicht nur eine einzelne Spielsituation zu lösen, sondern achtet gleichzeitig darauf, dass die Darauffolgende gewinnbringend ausgeführt werden kann. Das ist der vielleicht größte Unterschied zwischen ihm und Arturo Vidal oder auch Sebastian Rode. Wenn man Kimmich beobachtet, wird man fast im Sekundentakt schnelle Bewegungen mit seinem Kopf beobachten. Er „scannt“ das Feld ständig und schafft sich so den optimalen Überblick, ohne aber die Konzentration auf das Wesentliche zu verlieren. Im Verhältnis zu seiner Größe (1,76m) ist er körperlich sehr robust und scheut keinen Zweikampf. Das macht ihn auch gegen den Ball zu einem wichtigen Spieler. Seine Spielintelligenz führt zu einem guten Stellungsspiel, welches den Größennachteil oft kaschieren kann und ihm im Gegenpressing einen Vorteil bringt.
Was kann noch besser werden?
Wenn man zu Kimmichs Schwächen kommt, gibt es beeindruckend wenig aufzuzählen. Klar, sein Kopfballspiel ist nicht das Beste, was sicherlich mit seiner Körpergröße zu tun hat. Was jedoch auffällt ist seine ausgeprägte Aggressivität in den Zweikämpfen. Manchmal hat man von außen das Gefühl, er sei zu ambitioniert und zieht dann entweder das Foul oder geht zu früh zu Boden. Hier muss er noch abgeklärter werden und vor allem auch länger stehen bleiben. In den letzten Spielen gab es immer wieder Szenen, wo er am Gegner vorbeigrätschte und so komplett aus dem Spiel war. Seine Zweikampfquote von 49% ist darüber hinaus allenfalls durchschnittlich und ebenfalls zu verbessern – Xabi Alonso gewinnt zum Beispiel 57% seiner Zweikämpfe. Auch seine langen Pässe sind noch ausbaufähig, wobei das Meckern auf sehr hohem Niveau ist. Seine Spielverlagerung ist gut, aber gerade diese gefährlichen Bälle auf die Flügeldribbler, die dann mit viel Platz für Strafraumdurchbrüche sorgen, sind noch lange nicht auf dem Level von Xabi Alonso. Auch seine Torgefahr ist ausbaufähig. Sonst gilt es, seine beeindruckenden Grundfähigkeiten auszubauen und zu verfeinern. Man darf nicht vergessen, dass er erst 21 Jahre alt ist, was wohl der Hauptgrund dafür ist, dass er bisher der Ersatz von Xabi Alonso ist und kein Stammspieler. Alonso ist ein sehr erfahrener Mann, der auch einen positiven Einfluss auf seine Mitspieler hat. Er ist Dirigent, spricht viel und ist ein Orientierungspunkt für andere. All das sind Fähigkeiten, die Kimmich noch gar nicht innehaben kann. Umso wichtiger ist es für ihn, dass er vom Spanier lernen kann.
Die aktuelle Situation
Beim Vergleich von Kimmich und Alonso sollte man eines nicht vergessen: Derzeit spielen beide gleichzeitig. Diese Möglichkeit hat sich durch die Ausfälle von Jérôme Boateng, Javí Martinez und Holger Badstuber ergeben. Neuzugang Serdar Tasci scheint noch nicht spielfit zu sein und mit Mehdi Benatia kehrte der letzte verbliebene Innenverteidiger erst vor einigen Tagen ins Mannschaftstraining zurück. Guardiola hatte also keine Option mehr, da auch Rafinha, den er schon öfter in der Rolle des Halbverteidigers gebracht hat, sich vor dem Rückrundenstart verletzte und erst vor Kurzem wieder fit wurde. Die logischen Alternativen für den neutralen Fan waren somit, neben David Alaba, der diese Position ebenfalls schon öfter ausfüllen musste, Arturo Vidal, Sebastian Rode und Xabi Alonso.
Vidal ist zweikampfstark, kann auch bei Kopfbällen etwas ausrichten und hat diese Position bereits bei Juventus Turin gespielt. Sebastian Rode hätten viele gerne als Halbverteidiger gesehen, weil er diese Allrounder-Qualität mitbringt und auch die nötige Bissigkeit. Xabi Alonso hat in dieser Saison im Hinspiel gegen Leverkusen eine Art Hybrid-Rolle aus Innenverteidiger und Sechser gespielt und war so die nächste Möglichkeit. Da Holger Badstuber bis vor kurzem noch fit war, spekulierten auch viele auf eine Viererkette bestehend aus Lahm, Alaba, Badstuber und Bernat, doch Guardiola überraschte alle und spielte mit einer Dreier-/Viererkette, in der Joshua Kimmich den rechten Halbverteidiger gab und Lahm einen zentrierten Außenverteidiger, der mit Ball den Aufbau verstärkt und gegen den Ball als Außenverteidiger aushilft. Doch warum stellte Guardiola den kleinen Kimmich in die Innenverteidigung? Kaschiert das nicht all seine Stärken? Matthias Sammer hat in einem Interview bei „Sky Sport News HD“ neulich gesagt, dass Kimmich fast alle Stärken mitbringt, die einen guten Innenverteidiger ausmachen – und hat damit absolut Recht. Natürlich ist er im Kopfballspiel verloren, aber wie oft kam es in den letzten Wochen zu diesen Situationen? Wenn man keine Spieler für die Verteidigung von Kopfbällen hat, muss man eben die Flanken verteidigen. Das ist den Bayern zuletzt sehr gut gelungen.
Außerdem spielt der FC Bayern sehr viel mit dem Ball. Wie oben bereits ausgeführt, gibt es einige Gründe, warum Kimmich auf der Sechs momentan den Vorzug vor Vidal und Rode erhalten würde, solange Pep Guardiola Trainer ist. Dasselbe gilt auch für die Position des Halb-/Innenverteidigers. Kimmichs Qualität im Aufbauspiel ist so gut, dass er derzeit in diesem Punkt sogar das Fehlen von Boateng etwas vergessen machen kann. Selbst als Badstuber neben ihm spielte – der sich im Aufbauspiel nicht wirklich zurückhält – hatte man nicht das Gefühl, dass Kimmich untertauchen würde. Im Gegenteil: In der Bundesliga spielte Badstuber 73 Pässe pro 90 Minuten, was knapp 27 weniger sind als bei Kimmich. Die Entscheidung wurde also vor allem deshalb getroffen, weil man jemanden brauchte, der die Lücken in der vordersten Pressinglinie des Gegners finden kann – für diesen Job ist Kimmich der optimale Mann.
Kann das auch gegen Juventus Turin funktionieren?
Mit Juventus wartet nächste Woche der ultimative Test auf die Münchner Defensive. Sollte Guardiola Kimmich als Halb-/Innenverteidiger bringen, was im Moment höchstwahrscheinlich ist, braucht man als Zuschauer keine Bauchschmerzen zu haben. Der FC Bayern wird auch in Turin mehr Ballbesitz haben und in den meisten Situationen selbst darüber entscheiden, was mit dem Ball passiert. Juventus ist bekannt dafür, kompakt zu stehen – und eine Lösung, um diese eng gestaffelte Mannschaft auseinander zu ziehen, ist Tempo. Mit Kimmich, Alonso und auch Thiago hat man dann vermutlich drei Spieler auf dem Feld, die für schnelle Verlagerungen sorgen können, um den Gegner in Schwierigkeiten zu bringen. Kimmichs Dynamik kann darüber hinaus sehr wichtig gegen Dybala werden, der im Moment einen tollen Lauf hat. Wenn neben ihm Alaba auflaufen sollte, würde das natürlich bedeuten, dass bei Standards des Gegners und bei guten Flanken klare Nachteile entstehen. Es braucht also eine konzentrierte Mannschaftsleistung um diese Situationen zu minimieren. Die Defensive hat sich eingespielt und es würde aus wohl wenig Sinn machen, jetzt plötzlich auf Tasci umzusteigen, oder gar den gerade erst genesenen Benatia ins kalte Wasser zu werfen, wenn nicht das absolute Vertrauen in deren Spielfitness gegeben ist.
Blick in die Zukunft
Generell liegt Kimmichs Zukunft natürlich im Mittelfeld, aber dass er bereits hat aufblitzen lassen, dass ihm auch die Positionen des Halb-, Innen- und Rechtsverteidiger liegen, ist ein schöner Bonus. Xabi Alonso ist nun 34 Jahre alt und es ist fraglich, wie lange er noch auf Top-Niveau spielen kann. Kimmich dürfte durchaus in der Lage sein, den Spanier schon im Laufe der nächsten Saison, spätestens aber in der Saison darauf abzulösen. Mit Carlo Ancelotti kommt allerdings ein neuer Trainer und vieles wird davon abhängen, wie er Joshua Kimmich sieht. Schaut man sich die Leistungen in seinem ersten Bayern-Jahr an, fällt es schwer, nicht davon auszugehen, dass Kimmich auch Ancelotti gefallen wird.