EM-Blog, Tag 5: Einmal Ekstase und Schlaftabletten, bitte!
Bevor wir auf das Spektakel auf dem Platz zu sprechen kommen: Wie sehr mache ich mich eigentlich unbeliebt, wenn ich die türkische Fan-Kultur kritisiere? Wenn ich offenbare, dass sie gar nicht meins ist?
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Das türkische Dauerpfeifen
Der Grundtenor jeglichen Fan-Supports ist grundsätzlich immer ein positiver. Ob es Ultras im Vereinsfußball oder ganz normale Anhänger in großen Nations-Turnieren wie diesem sind. Alle peitschen fröhlich ihre Teams nach vorne.
Alle, bis auf die Türk*innen. Hinterher feiern die zwar schön wie alle anderen, während des Spiels allerdings störe ich mich an ihrem Lieblingsinstrument: Dem Pfeifen.
Wenn der Gegner den Ball hat, wird gepfiffen. Immer. Und wenn der Gegner 90 Minuten den Ball nicht hergeben möchte, pfeifen die türkischen Anhänger auch 90 Minuten lang am Stück. So gesehen, wann immer der FC Bayern zur Champions League in die Türkei musste. So gesehen heute, wann immer Georgien in Ballbesitz war.
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Ich empfinde das nicht als Support der eigenen Mannschaft, sondern als Niedermachen des Gegners. Fatal ist auch, wenn die Stimmung sich gegen das Team dreht, ich habe noch sehr gut die leblose türkische Mannschaft 2016 vor Augen, die an den Pfiffen der Fans komplett zerbrach.
Schlimmer noch: Die Türk*innen fangen schon bei der Hymne an. Ein absolutes Unding. Bei den Italienern ging lange Zeit diese respektlose Ungepflegtheit auch umher, bis der große Gianluigi Buffon anfing, aus Protest Beifall zu klatschen und im besten Fall den Rest des italienischen Publikums zum Klatschen mitzuziehen.
Türkei – Georgien 3:1 – Wieso ist dieses Spiel explodiert?
Eigentlich sah alles nach einem recht klassischen EM-2024-Spiel an: Ein 4-2-3-1 auf der einen Seite, ein 5-3-2 / 5-4-1 auf der anderen Seite. Solche Spiele haben wir im Turnier schon oft gesehen. Den Grund für die Explosion vermute ich in der generellen defensiven Unfähigkeit der Teams. In beiden Teams schlummern die besten Talente weiter vorne, während man hinten eher notdürftig etwas zusammenkratzen muss.
Wahrscheinlich um eben dieses fehlende Talent hinten zu kaschieren, ordnetete Trainer Willy Sagnol deshalb sein ganzes Team kompakt-defensiv zu spielen, um die offensichtlichen Schwachstellen als Team wettmachen zu können.
So paradox es nach diesem End-to-end-Spektakel auch anmutet, war er damit auch gar nicht so unerfolgreich. Ja, die Türkei schoss am Ende ganze 21 Mal auf Mamardashvilis Gehäuse, doch die Tore fielen ja nach absolut unhaltbaren Sonntagsschüssen.
Das eigentliche georgische Herzstück liegt allerdings in der Offensive rund um Napolis Kvaratskhelia. Diese Mannschaft will ganz offenbar nach vorne spielen und nimmt sich dann dazu ihre limitierten Mittel im Kurzpassspiel, um das auch zu vollziehen.
Die Türkei ließ sie unfreiwillig gewähren, weil sie merklich in ihren guten Phasen überpaceten. Griffen sie an, taten sie das mit allem im Körper, was sie hatten und mussten sich jeweils auch Phasen nehmen, indem man sich hinten sammelte.
Problem nur: Sie können einfach nicht verteidigen! Kaan Ayhan mochte mit einem exzellenten Spiel auf der Doppelsechs noch so viele Lücken zulaufen, die anderen konnten da nicht mithalten und so entstand ein 90-minütiges Hin und Her und wieder Hin und wieder Her.
Portugal – Tschechien 2:1 – Wieso diese Schnarchnummer?
So explosiv das Vorabendspiel war, so schnarchig war sein Nachfolger. 22 Teams haben vorher überraschend wenig EM-Fußball betrieben. Zur Erinnerung: Seit der Aufstockung auf 24 Teams war die Euro in den vergangenen zwei Ausgaben zum Defensiv-Fest voller knochenhart verteidigender 5er-Ketten verkommen. Die Tschechen hatten das Memo dieser erfreulich offensiven EM aber offenbar nicht bekommen und verteidigten mit Mann und Maus am eigenen Strafraum.
Roberto Martínez, der vorher noch Belgien zum Erfolg führte, roch diesen tschechischen Plan und stellte prompt fast alles Kreatives, was er hatte, auf. Dafür hatte Bayerns Transfer-Target João Palhinha das Nachsehen, es spielte Ex-Bayer João Cancelo einfach auf der Sechs.
Cancelo, Fernandes, Vitinha, Silva, Leão, viel kreativer kann es eigentlich nicht klingen, wieso also dann diese Schnarchtablette von Spiel? Weil Portugal in das gute alte Spanien-Problem getappt ist: Zu viele ballliebende Kreativköpfe, zu wenig Tiefenläufer. Jeder wollte nur passen, passen, passen, niemand sprintete mal in den Strafraum. Wäre Leon Goretzka Portugiese, hätte er keinen Sommerurlaub.
Cristiano Ronaldo, der Füllkrug Portugals
Leão versuchte sich ja in der ersten Halbzeit an Dribblings, aber kaum war er vorbei, war da nur Cristiano Ronaldo in der Box. Über den wurde zwar vorher gelacht, aber nun, da man Portugal sieht, erkennt man sofort, wieso man gerade Ronaldo in diesem Team haben will: Eben wie Spanien oder auch Deutschland in ihren mieseren Zeiten, hat man einfach niemanden, der wirklich nur das Tor im Blick hat.
So gesehen ist Ronaldo für Portugal das, was Niclas Füllkrug für Deutschland ist: Einer der Schluss mit dem ganzen Klein-Klein macht und im Zweifelsfall einfach drauf bolzt. Früher in seinen Vereinen war das stets ein Minuspunkt Ronaldos, weil er damit oft das Entstehen besserer Chancen frühzeitig abwürgte, doch Portugal hat so aberwitzig viele Kreativköpfe auf dem Feld, dass ein singulär auf den Kasten fokussierter Stürmer eigentlich komplett Sinn macht.
In der Gruppenphase zumindest. Gegen kompaktstehende Gegner dürfte Ronaldo hilfreich sein, vor allem, wenn er dann im Strafraum Gesellschaft bekommt. Doch gegen die Top-Nationen, wo Portugal mehr Raum bekommt, werden seine Vorzüge geringer und die bekannten Nachteile fallen mehr auf. Nämlich, dass man mit Ronaldo effektiv mit einem Mann weniger spielt, weil er am Pressing nicht teilnimmt.
Was sonst noch auffiel und kleine Vorschau auf Deutschland
- Ein wenig tut es ja schon noch gut, diesen Ronaldo ein letztes Mal zu sehen. Er selbst spielt mittlerweile in Saudi-Arabien und an der nächsten WM wird er nicht teilnehmen können. Die findet nämlich in den Vereinigten Staaten statt und um genau dieses Land macht Ronaldo seit Jahren einen Bogen. Vielleicht weil er doch eine Anklageerhebung wegen Vergewaltigung befürchtet?
- Portugal werden jetzt viele wieder direkt abschreiben, aber nochmal werden sie nicht auf eine derart defensive Mannschaft treffen. In der K.O.-Phase könnten sie noch einigen Spaß bereiten.
- Das Nachmittagsspiel wurde vom Argentinier Facundo Tello gepfiffen. Huch? Argentinien? Was hat der in Europa verloren?
Seit ein paar Jahren gibt es ein wenig beachtetes Austauschprogramm zwischen der UEFA und dem südamerikanischen CONMEBOL bei den Schiedsrichtern.
Tello zeigte eine ganz vorzüglich autoritäre Körpersprache. Das autoritäre Element gilt in Europa ja als verpönt und seit Pierluigi Collina hat sich das europäische Schiedsrichterwesen stark gewandelt. Tello allerdings erinnerte mich an seinen Landsmann Néstor Pitana, der bei der WM 2018 mit der gleichen Art für Aufsehen sorgte. Diese autoritäre Note hilft wohldosiert ein Spiel in den Fugen zu halten. Bei diesem Spiel nicht die Kontrolle zu verlieren, war trotz der grundsätzlichen Fairness nicht einfach. Tello darf gerne weiterpfeifen!
- Heute Nachmittag spielt Deutschland und ich habe absolut keine Ahnung, was uns da erwartet. Ich kann mir einen guten alten Jogi-Löwschen-Leistungseinbruch zum zweiten Spiel vorstellen, sowie das völlige Abschießen Ungarns.
Für einen Einbruch spricht die etwas zu große Euphorie und die Gefahr, dass gerade die jungen Spieler nun die Dinge einen Tacken zu sehr für einen Selbstläufer halten.
Dagegen der Umstand, dass im Gegensatz zu den meisten Jogi-Löw-Turnieren, jeder in diesem Team ganz genau weiß, aus welchem Loch diese Mannschaft kommt. Das Kroatien-/Serbien-/Ghana-Spiel hatte man so gesehen bereits im Herbst. - Die Frage ist also: Inwiefern kann Ungarn hoch pressen und wie sattelfest ist dieses Turnier-Deutschland darauf?
Falls Deutschland früh trifft, sehe ich auch die reelle Gefahr eines völligen Auseinanderbrechens Ungarns. - Ich verstehe eigentlich alles, was ARD, ZDF und Magenta rund um die EM machen, aber den Sinn hinter den Spätabend-Formaten nach dem letzten Spiel, erschließt sich mir nicht. Die ARD hat ein belangloses Kneipenquiz und bei Magenta darf man mit Jonas Hector bei Studio sonstwas cringen. Dabei wäre ein entspannter Late-Night-Talk doch viel angebrachter. Von Analyseformaten mal ganz zu schweigen.
- Bleiben wir bei der TV-Schelte: Wenn Magenta schon einen eigenen Taktik-Stream anbietet, wieso ist dann Tim Borowski da ständig Gast? Der ist bislang eher wenig mit nerdigen Analysen aufgefallen. Dabei gäbe der deutsche Markt für diese Nische genug Talent her.