EM-Blog, Tag 31: ¡Gracias España!

Daniel Trenner 15.07.2024

Es läuft die 86. Minute, Spielstand 1:1, Dani Olmo treibt den Ball mit großen Schritten über das Mittelfeld, auf dem linken Flügel sprintet Deutschlands Lieblingsspanier Marc Cucurella durch, vor ihm nur noch grüne Wiese, Walker läuft gerade zentral zurück. Olmo wird gleich zu ihm spielen, natürlich, wo soll er auch sonst hin spielen? Es ist der logische Ball.

Auf einmal reiße ich die Augen weit auf, für einen Bruchteil einer Sekunde sehe ich die eine sich öffnende Gasse durchs Zentrum. Gleichzeitig sieht Dani Olmo sie auch, nein, natürlich sah er sie vor mir. Noch in der Bewegung zum Innenristpass auf Außen, wechselt er flüssig zu einem Außenspannzuspiel auf Oyarzabal, kommt durch diesen Bewegungsumschwung auch ins Stolpern.

Mich reißt es vom Sitz, ich weiß genau, was jetzt kommen muss. Oyarzabal bedient endlich Cucurella, doch durch die Zwischenstation über den Stürmer, hat sich der pfeilschnelle Walker kurz in Richtung Zentrum orientiert. Nun fehlen ihm die entscheidenden Zentimeter. Cucurella feuert mit dem ersten Kontakt eine Kanonenkugel aus Zuspiel ab, Oyarzabal hatte sich nun durch Stones und Guéhi gestohlen, musste nur noch ins Tor grätschen.

In meiner Wohnung hallt ein Jubelschrei, den es abseits ausgewählter Tore Deutschlands in den letzten vier Wochen nicht zu hören gab. Wie knapp es schlussendlich kein Abseits gewesen ist, ist mir da noch gar nicht klar. Das muss es doch jetzt gewesen sein. Noch einmal wird England doch nicht wieder mit einer Heldenaktion zurückkommen können?

England: Das Ende des Schreckens

Wieso ich trotz fehlender familiärer Bindung so stark parteiisch war, offenbarte dieses Spiel wieder einmal. Natürlich mauerte England erneut. Wie sollte es auch anders sein? Diesmal wieder mit Viererkette in einer Manndeckung, neuerdings mit Bellingham auf Außen. Dass dieser abartig talentierte Kader so einen Anti-Fußball spielt, wundert mittlerweile niemanden mehr. So abgestumpft ist man von der englischen Darbietung.

Was eine Rückentwicklung das doch ist, auf das Ergebnis hatte Gareth Southgate sein England schon immer getrimmt, doch so abscheulich destruktiv waren sie noch nie. Nach dem Spiel ging Englands Gesamtzahl an Expected Goals viral. Mickrige 6,43 sammelte man über sieben Partien. Allein das in der Gruppenphase ausgeschiedene Kroatien hatte mit 7,1 mehr.

Überhaupt, was war Englands Plan in diesem Finale? Eine Halbzeit lang würgten sie dieser Partie die Luft ab. Ja, das war in der letzten Linie oft brillant verteidigt, doch kamen sie mal an den Ball, war der sogleich auch wieder weg. Spaniens Gegenpressing griff fast immer und falls es doch mal scheiterte, hob Bellingham den Blick und sah 60 Meter von Simon entfernt, wie nur noch Kane neben ihm war.

Am Ende der Halbzeit mochten sie durch ein Standardtor sogar mehr Torgefahr erzeugt haben, aber echte Gefahr strahlte nur Spanien aus. Nur sie kombinierten, besetzten das letzte Drittel, spielten auf Sieg. Und verhaut Morata die Weiterleitung auf Olmo nicht, bekommen sie auch den gefährlichsten Abschluss.

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Zum dritten Mal derselbe Fehler

Den Vogel komplett abschossen, taten sie aber in der letzten Hälfte dieser Euro. Auch ohne Rodri wurde la Furia Roja ihrem Namen gerecht und wurde mit einem klitzekleinen taktischen Kniff gleich erfolgreich: Fortan spielten die beiden jungen Winger zentraler über die Halbräume, Englands Manndeckung war darauf mitsamt Fabiáns tieferer Rolle nicht vorbereitet, es klafften riesige Lücken im Zentrum und Nico Williams brachte das Führungstor.

Gegen Spanien kann man schon mal ein Gegentor kassieren, das war noch nicht das unfassbare. Genauso wenig, wie das anschließende Schwimmen gegen Spaniens Offensivtempo. Nein, das ungeheuerliche passierte nachdem sie durch Supersub Cole Palmer tatsächlich noch eine Rettungsleine für dieses Spiel zugeworfen bekamen.

So unverdient es auch möglicherweise gewesen sein mag, waren sie mit dem Ausgleichstor am Drücker und Spanien bestand ja nun wirklich nicht aus lauter Weltklasse zu diesem Zeitpunkt. Der überforderte Zubimendi und die beiden Wüsten-Recken Nacho und Laporte, da geht eigentlich was bei dieser englischen Spielerqualität. Aber kaum waren zwei Minuten vorüber, wiederholte sich, was gegen die Schweiz und weitgehend der Niederlande passierte: Ohne erkennbaren Grund und gegnerischem Zutun zogen sie sich abermals zurück, als würde die Zeit für sie spielen. Doch stand es noch immer 1:1-Unentschieden! Wieso sollte man sich da zurückziehen und den Gegner freiwillig ins Spiel zurückfinden, einen gar dominieren lassen?

Spanien machte ihnen sogar noch den Gefallen, sie vorzuwarnen. In der 82. Minute scheiterte Yamal noch am fantastisch reagierenden Pickford, doch England blieb bei der Passivität und damit ihrem Verderben.

Englands verpasste Chance

Nach dem Spiel entbrannte in der ARD eine interessante Diskussion um Gareth Southgate, in der Bastian Schweinsteiger Fassungslosigkeit offenbarte, wieso man denn nun über den Trainer diskutiere, schließlich hätte er seine Mannschaft in zwei Endspiele geführt.

Sicher ist das zutreffend, doch dieses nüchterne Ergebnis sollte den englischen Fußball nicht täuschen. 2021 führte Englands Weg über eines der schwächsten deutschen Mannschaften der jüngeren Geschichte, sowie den Fußballmächten Ukraine und Dänemark und trotzdem war die Entwicklung 2024 sogar noch einmal deutlich rückläufig, nun war es noch einfacher mit der Slowakei, Schweiz und einer äußerst mittelmäßigen Niederlande. Der Kader ist in diesem Jahr noch einmal stärker geworden, ihr Fußball ist es nicht. Durchschnittlich nur knapp über drei Torschüsse hatten die Three Lions in diesem Turnier, der schon oben erwähnte Expected-Goals-Wert von 6,43 passt zu dieser furchterregenden Ausbeute. Es ist wirklich unfassbar, wie skandalös schlecht der englische Offensivvortrag im gesamten Turnier war!

Und das mit Foden! Saka! Bellingham! Palmer! Watkins! Toney! Der offensichtlich völlig unfitte Kane ist da noch gar nicht mit aufgezählt! England reiste nach Deutschland mit einem der drei besten Kader des Wettbewerbs an, dies hätte ihr Jahr sein können, ja sein müssen! Frankreich kam das gesamte Turnier offensiv nicht aus dem Quark, Portugal schmiss ihre goldenste Generation für eine Nostalgie-Nummer mit Cristiano Ronaldo weg. England allerdings wären eigentlich mal dran gewesen, hatten in den vergangenen drei Turnieren Blut geleckt.

Ja, sie kamen ins Finale, doch das macht sie nicht zur zweitstärksten Mannschaft dieses Turniers. Die deutsche war besser, die französische war besser, ja sogar die schweizerische war besser, obgleich man die im direkten Duell mit einem Elfmeter Unterschied aus dem Turnier warf.

Einzig individuelle Superhelden-Momente eines Fallrückziehers Bellinghams und zweier Weitschusstore Sakas und Palmers brachte sie so weit ins Finale und es ist absolut bezeichnend, dass sie nur so zum Torerfolg kommen konnten. Weltklasse Spieler schießen eben weltklasse Tore, aber zu einer weltklasse Mannschaft gehören auch weltklasse Offensivkombinationen. 

Möglicherweise ist dies die letzte benötigte Niederlage, ehe sie es 2026 mit einem hoffentlich frischen Ansatz wirklich nach Hause bringen können. Sollte sich diese Generation allerdings nicht krönen können, werden sie auf dieses Turnier in Deutschland zurückblicken und wissen: Das hätte unsere Stunde sein müssen.

(Foto: Odd Andersen / AFP via Getty Images)

Spanien – Der verdiente Sieger

Puh, das war einmal mehr viel geschrieben über diese unbeschreiblich biedere englische Mannschaft, aber wie heißt es so schön: Es kritisiert sich eben leichter, als es sich lobt.

Nun aber endlich zu den Helden des Abends, nein des gesamten Fußballs. Erst schlugen sie den französischen Ergebnisfußball, dann den noch viel schlimmeren englischen. Zuvor gewannen sie die stärkste Gruppe des Turniers mit voller Punktzahl, einzig der Gastgeber hatte sie am Rande der Niederlage, war gegen sie sogar weitgehend die bessere Mannschaft.

De la Fuente lernt (ein wenig) aus seinen Fehlern gegen Deutschland

Warum sie gegen Deutschland so sehr schwammen und ab dem Halbfinale souveräner waren, kann man knapp auf zwei Punkte herunterbrechen: Der Gastgeber konnte pressen und sich aus dem Pressing spielerisch befreien, Frankreich ging ersteres ab, England letzteres.

Zudem kann nun, da man zwei Spiele schlauer ist über Spanien, noch einmal unterstrichen werden, wie hanebüchen mies de la Fuente gegen Deutschland wechselte. Als er im Viertelfinale zuerst Yamal nach einer Stunde. und dann später noch Williams vom Platz nahm, wertete ich das als konditionelles Problem der beiden Jungstars, die auch im Turnierverlauf zuvor oft vorzeitig vom Platz gingen, doch Semifinale und Endspiel zeigen uns, dass Williams und Yamal sehr wohl die Kondition für annähernd 90 Minuten haben.

Ohne die beiden hatte Spanien gegen Deutschland kaum Entlastung, hatte auch in der Verlängerung seine liebe Not offensiv zu Potte zu kommen. Hätte Deutschland den Elfmeter bekommen oder Merino nicht diesen wahnsinnig guten Kopfball gesetzt und man wäre ausgeschieden, niemand hätte über einen Fehler bei der Aufstellung Emre Cans gesprochen, sondern einzig und allein wieso sich de la Fuente seiner beiden gefährlichsten Außenspieler beraubte.

Am Spieltag verglich ich das Ausscheiden mit dem Heim-Turnier 2006 und um im Bild zu bleiben: Wie 2006 nahm der gegnerische Trainer ohne jeder Not vorzeitig seine besten Offensivspieler vom Feld, musste die gesamte Verlängerung ohne sie bestreiten. 2006 bei Argentinien Román Riquelme, nun waren es fast Yamal und Williams.

Im Finale wechselte de la Fuente besser, ließ Williams drauf, einzig bei Yamal spielte er erneut mit dem Feuer. Hätte Olmo keine volle Minute nach Yamals Auwechslung nicht auf der Linie gerettet, müsste man erneut eine halbe Stunde ohne ihr Wunderkind absolvieren.

Ein Triumph für den Fußball

So rächte es sich nicht und die auch vor dem Finale bereits beste Nation der EM-Historie krönt sich zum alleinigen Rekordsieger. Nicht einmal der Ausfall ihres besten Spielers, Rodri, brachte sie zu Fall. Zubimendi hatte zwar ab und an seine liebe Not, er deckte beispielsweise den Rückraum beim 1:1 nicht, doch wirklich auffallen tat Rodris Ausfall gar nicht. Wenn man ein von den Jugendmannschaften eingespieltes Spielsystem hat, kann man Ausfälle von Schlüsselspielern einfach viel besser mannschaftlich auffangen.

Mit der beeindruckendsten EM-Kampagne seit mindestens Spaniens eigener 2008 krönt man sich damit zum vierten Mal zum Europameister. Zum dritten Mal alleine seit der Erweiterung auf mehr als acht teilnehmenden Mannschaften, was die Euro ja erst zu so einem großen Turnier gemacht hatte.

Keine Frage ist es ein würdiger Sieger. Es ist vor allem jedoch ein gutes Signal an den Fußball: Der Ergebnisfußball einer individuell keinesfalls unterlegenen Mannschaft wurde für alle sichtbar hochverdient vom besseren Kollektiv bezwungen. Solche Geschichten schreibt der Fußball leider viel zu selten. ¡Gracias España!

Wir sind damit am Ende unseres EM-Blogs angekommen, ganz abgeschlossen ist die EM-Berichterstattung allerdings noch nicht, morgen präsentieren wir hier noch unsere Mannschaft des Turniers. Auch deshalb wurde so manch phänomenal aufspielender Spanier heute unterschlagen, viele bekommen ihr Lob noch.

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