EM-Blog, Tag 29: Die Schöne gegen das Biest
„Die Schöne und das Biest“ ist ein französisches Volksmärchen, das im 18. Jahrhundert entstanden ist. Sehr stark vereinfacht geht es um eine Tochter eines Kaufmanns, die sich von ihrem Vater eine Rose wünscht, als der sich auf den Weg macht, um ein verloren geglaubtes Handelsschiff zu sichten.
Auf dem Weg verirrt er sich in ein menschenleeres Schloss – allerdings mit einem festlich gedeckten Tisch. Am nächsten Morgen macht er sich auf den Weg nach Hause, nimmt aber eine Rose aus dem Garten mit, woraufhin ein abscheuliches Tier erscheint. Er darf letztlich weiterziehen, weil er verspricht, entweder zurückzukehren oder eine seiner Töchter abzugeben.
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Es kommt, wie es kommen muss: „Die Schöne“ hat ein schlechtes Gewissen und zieht ins Schloss des „Biestes“ ein. An der Stelle sparen wir viel Handlung aus und kommen zum Wesentlichen: „Die Schöne“ verliebt sich ins „Biest“ und jenes verwandelt sich am Ende in einen schönen Prinzen.
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Spanien: „Die Schöne“
Und was hat das nun mit Fußball zu tun? Gar nichts. Aber es ist doch eine herrlich plakative Überschrift für das Duell zwischen Spanien und England bei der Europameisterschaft. Spanien, da besteht kein Zweifel, ist „die Schöne“. Zwar ist „La Furia Roja“ nicht so unantastbar, wie es gern mal dargestellt wird, doch fußballerisch und technisch macht ihnen bei dieser EM niemand etwas vor.
Spanien hat Deutschland mit etwas Spielglück geschlagen und sie besiegten auch den Top-Favoriten Frankreich. Auf ihren Fahnen steht seit vielen Jahren das Wort „Ballbesitzfußball“ – seit diesem Turnier ergänzt um das Adjektiv „progressiv“. Denn nach Jahren des oft zahnlosen Ballbesitzes haben es die Spanier geschafft, Tempo und Zug zum Tor in ihr Spiel zu bekommen.
Anteil daran haben neben Trainer Luis de la Fuente vor allem die Talente, die in den vergangenen Monaten und Jahren zum Team dazugestoßen sind. Offensiv angeführt von den beiden Flügelspielern Nico Williams und Lamine Yamal, auf denen der große Fokus im Angriffsspiel liegt. Yamal kommt laut The Athletic bisher auf 46 Beteiligungen an Abschlüssen aus dem Spiel heraus: 16 Abschlüsse, 15 Torschussvorlagen und 15-mal als Vorlagengeber für den Spieler, der die Torschussvorlage gab. Bestwert aller Spanier.
Bei Williams sind es insgesamt 29 Beteiligungen – fünfter Rang intern. Spaniens Schlüssel ist die Flexibilität. Sie erzeugen viel Gefahr über ihre beiden Dribbler, sie werden aber auch übers Zentrum gefährlich. Denn dort gibt es immerhin Spieler wie Fabian Ruiz, der an 44 Torschüssen beteiligt war, oder Dani Olmo, der in den vergangenen Wochen zu einem der wichtigsten Spieler wurde (32 Beteiligungen an Schüssen).
Und dann ist da Rodri, der das Spiel kontrolliert wie kein anderer. 30-mal bediente er einen Mitspieler, der dann einen Torschuss vorbereitet hat. Warum Spanien auch taktisch so unberechenbar ist, haben wir hier analysiert.
England: „Das Biest“
Der fußballerischen Ästhetik der spanischen Nationalmannschaft steht Finalgegner England gegenüber: „Das Biest“. Unter allen 24 Teilnehmern gibt es nur fünf Teams, die laut FBref weniger Expected Goals pro 90 Minuten haben als die Three Lions. 0,83 sind 0,9 weniger als der Wert der Spanier (1,73). Dafür steht England bei den erwarteten Gegentoren pro 90 Minuten auf dem geteilten ersten Platz mit Portugal (0,79). Spanien kommt auf 0,98 (Platz 9).
Die Kritik an England entsteht meist an der fehlenden Ästhetik. Natürlich ist das nichts, was für das Team von Gareth Southgate von Bedeutung ist. Wie heißt es so schön? Der Erfolg gibt ihnen recht. Bei Europameisterschaften verlor Southgate mit England kein Spiel in 90 oder gar 120 Minuten. Nur gegen Italien gab es im wichtigsten Spiel 2021 eine Niederlage im Elfmeterschießen.
Pragmatismus in Reinform – und das trifft für die vergangenen Turniere auch tatsächlich zu. Dieses Jahr aber hat England viel Glück gebraucht, um überhaupt so weit zu kommen. Da wäre zunächst der Turnierbaum, der ihnen durchaus lag. Slowakei und die Schweiz sind bei allem Respekt vor deren Leistungen zwar komplizierte, aber für ein Team wie England lösbare Aufgaben.
Und schon da kamen die Three Lions ins Straucheln. Gegen die Slowakei brauchte es eine schwer nachzuvollziehende sechsminütige Nachspielzeit inklusive Traumtor, gegen die Schweiz ein Elfmeterschießen. Erst das Halbfinale gegen die Niederlande war in Teilen überzeugend.
Gareth Southgate: So fand er zurück zum erfolgreichen Pragmatismus
Pragmatismus wird verstanden als eine philosophische Lehre, die die Wahrheit und Gültigkeit von Ideen und Theorien ausschließlich nach ihrem Erfolg bemisst. Englands „Pragmatismus“ wackelte in dieser K.-o.-Phase gehörig.
Southgate aber hat bei aller Kritik an ihm einen recht großen Anteil daran, dass England zurück in die Spur gefunden hat. Schon gegen die Schweiz stellte er auf ein 3-4-2-1 um, das sich im Halbfinale dann endgültig bezahlt machte. Denn einerseits stabilisierte er damit weiter die Defensive, andererseits brachte er aber auch offensiv mehr Dynamik ins Spiel.
Die erste Halbzeit gegen die Niederländer war ein hervorragendes „what if“: Was wäre, wenn England immer so zielstrebig spielen würde? Vor allem auf dem rechten Flügel profitiert Bukayo Saka davon, dass Kyle Walker, Phil Foden und Jude Bellingham um ihn herum viel rotieren. Durch die Bewegung entstand deutlich mehr Tiefe im Spiel. Wenn sie noch eine Einbindung von Harry Kane hinbekommen, könnte man das fast Offensive nennen.
Spanien vs. England: Das ist zu erwarten
Vom „schönen“ Spanien ist ein proaktiver Spielstil zu erwarten. England ist trotz der vermeintlichen Konstanz in ihrer Spielweise – ob nun positiv oder negativ bewertet – schwerer zu berechnen. Allerdings dürfte die englische Defensive die bisher härteste Nuss für Spanien werden.
Das liegt auch an einer Qualität, die unter Southgate oft etwas belächelt wird: Offensivspieler verteidigen leidenschaftlich und taktisch klug. So gut Saka offensiv ist, so wichtig ist er in der Arbeit gegen den Ball. Gegen die Niederlande startete er als rechter Flügelverteidiger und erledigte seinen Job sehr gut. Gerade auf den Flügeln haben sie es immer wieder geschafft, Gleich- und Überzahlsituationen zu erzeugen.
Spanien wird hier Lösungen finden müssen, um am Ende Europameister zu werden. „Die Schöne“ scheint leicht favorisiert zu sein. Nur sollte man „das Biest“ nicht unterschätzen. Und wer weiß? Vielleicht verwandelt sich England am Ende ja doch noch in den schönen Prinzen – zumindest wenn man der Philosophie des Pragmatismus folgt.
Und sonst so?
- Die EM ist so gut wie vorbei und ich ziehe insgesamt ein positives Fazit. Einerseits hat sich meine Sorge bestätigt, dass rechtsnationale und rechtsextreme Ansichten bei der Europameisterschaft ihre Bühne unter dem bunten Trubel aller Fans finden – und dass viele im Freudentaumel über das Turnier nichts davon wissen wollen und so automatisch bei der Normalisierung gewisser Symbole mitmachen. Andererseits hat mich das Turnier trotz einiger Vorfälle insgesamt abgeholt. Emotional und auch sportlich gab es viele tolle Momente, die ich nicht missen möchte. Die EM 2024 wird überwiegend in guter Erinnerung bleiben.
- Toni Kroos stammelt im Podcast von Precht und Lanz ein wenig zur gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland herum und stellt sich dabei, anders als auf dem Fußballplatz, sehr, sehr unglücklich an. Kollegin Mara Pfeiffer hat das sehr klug in ihrer Kolumne für web.de aufgeschrieben. Wie richtig sie damit liegt, erkennt man an zwei Aspekten: Erstens, wie sie selbst schreibt, wird Kroos aktuell von rechten Medien und Rechten generell vor den Karren gespannt. Nichts, was er möchte, aber dann soll er halt keine gefühlten Wahrheiten aus der Ferne in die Welt stammeln. Und zweitens die Anfeindungen, die Mara aktuell erhält. Auf Social Media hat sie Vergewaltigungswünsche, Drohungen und Beleidigungen geteilt, die ihr entgegengebracht werden. Getroffene Hunde … In jedem Fall volle Solidarität mit Mara. Selbst wenn man ihre Meinung nicht teilt, sind das weder Diskussionsstandpunkte, noch akzeptable Repliken. Kroos jedenfalls hätte sein „Gefühl“, lieber für sich behalten. Zumal gerade solche Themen eher jenen überlassen werden sollten, die fundiert argumentieren können. Das ist meine Meinung.
- Wenn wir schon bei Rechtsextremismus sind, lohnt sich auch dieser Text zum Vorgehen der Bundeszentrale für politische Bildung, die Material gelöscht hat, das aufzeigen sollte, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Fußball-Patriotismus der WM 2006 und dem Rechtsruck in Deutschland gibt. Übrigens ein Sachverhalt, der seit Jahren auf vielen Ebenen erforscht wurde und bei dem es häufig das Fazit gab, dass Zusammenhänge hergestellt werden können. Hier und hier gibt es beispielhaftes Lesematerial dazu.
- Für die DFB-Frauen geht es in die heiße Phase der Olympia-Vorbereitung. Im EM-Quali-Spiel gegen Island stotterte der Motor allerdings deutlich. Wenig Tempo, defensive Abstimmungsschwierigkeiten, kaum Spielfreude – am Ende eine verdiente 0:3-Niederlage. Deutschland trifft in Gruppe B bei Olympia auf die USA, Australien und Sambia. Das könnte ein böses Erwachen geben, wenn man aus dieser Partie nicht die richtigen Lehren zieht.
- Ab kommender Woche wird sich Miasanrot wieder dem FC Bayern München widmen. Anfang der Woche nehmen wir eine neue Podcast-Folge auf, in der wir die Vorbereitung auf die neue Saison starten.
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