EM-Blog, Tag 27: England probiert’s mit Fußball
Ein Unding schlechtspielender Favoriten ist ja, je näher sie dem Titel kommen, desto besser spielen sie dann auch auf einmal. Ist das goldene Ziel in greifbarer Nähe, raffen sich Teams meistens zusammen.
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England: Flow over function
Nun gilt für England, dass sie mit jedem Spiel ein klein wenig besser geworden sind. Nur war der Startpunkt dieser Entwicklung so abscheulich schlecht, dass es selbst nach fünf Spielen noch immer richtig mies war. Mit diesem Spiel gegen die Niederlande allerdings haben sie ein paar Punkte übersprungen und erstmals ein Leistungsniveau erklommen, welches entfernt als “gut” tituliert werden kann.
Wie in jedem K.o.-Spiel zuvor, kam England erneut in Rückstand und genau wie gegen die Schweiz kamen sie sofort zurück. Im Viertelfinale hatte ich noch entsetzt festgestellt, wie Southgate sofort nach dem Ausgleichstor Englands Drangphase jäh unterbrach und seine Mannen anleitete, sich schön wieder hinten zu sammeln. Diesen Unsinn gab es diesmal glücklicherweise nicht, stattdessen drückte England Holland hinten rein, die die englische Intensität unvorbereitet traf.
Vor allem jedoch schockte sie die englische Bewegungsfreude. Ab der Abwehrreihe waren alle permanent im Laufen, Bellingham an der Außenlinie, Foden überall, vom Standfußball aus dem Slowakei- und Schweiz-Spiel war nichts mehr zu sehen. Mit diesem Lauffluss hebelten sie Hollands Manndeckung aus, zogen sie auseinander und brachten sie ständig ins Schwimmen.
Nach gut einer halben Stunde hatte Ronald Koeman genug vom offenen Spiel, brachte mit Veerman einen zentralen Mittelfeldmann für den verletzten Depay und stellte auf 4-4-2 um, in der Halbzeitpause stampfte Oranje dann noch die Manndeckung größtenteils ein und verteidigte im Raum.
An dieser Stelle müssen wir das England-Lob leider größtenteils begraben, denn gegen die nun veränderten Niederländer fiel den Three Lions wenig ein. Zudem drosselten sie arg die Lauf- und Variabilitätsfreude. Es wirkte fast, als sei Southgate empört von der aufkommenden Spielfreude seines Teams und impfte ihnen ein, doch bitte kein offenes Spiel zu erzwingen.
Das mag nun zu negativ dem englischen Trainer gegenüber sein, denn die erste Hälfte war ja wirklich gut, aber zusammen mit der gravierenden Ideenlosigkeit in Abschnitt zwei und der benötigten totalen Einzelaktion zum Siegtor wirkte selbst die gute erste Hälfte wie völliger Heldenfußball.
Nach Xavis Fabelführungstor wussten sie, sie müssen nun kommen, und Englands Druckphase entsprang weniger geplanten Abläufen, sondern mehr, weil sich einfach alle Engländer dazu entschlossen, nun mit hundertprozentigem Engagement und wilden Läufen die gegnerische Manndeckung abzuschütteln. Wenn Foden oder Saka zwei Spieler austanzen, ist das natürlich phänomenal, aber bei Spanien wissen die anderen Offensivläufer, wohin sie daraufhin stoßen müssen (siehe das 1:0 gegen Deutschland). Bei England fehlt dann auf einmal Kane in der Box, weil der sich gerade noch dazu entschied, sich tief an die Außenlinie fallen zu lassen. Dementsprechend waren die gefährlichsten Szenen ihrer Dribbler dann auch, wenn sie selbst zum Abschluss kamen und nicht noch den Mitspieler bedienen mussten.
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Watkins Siegtor
Kaum zu glauben, dass die weghorstigste Aktion der Partie von einem Engländer kam. Wie Watkins den Ball abschirmt und von vornherein komplett auf den Abschluss spekuliert, ist Extraklasse und für mich sogar besser als Xavis Weitschuss. De Vrij sieht hier natürlich ganz mies aus, er rechnet mit allem außer genau dem Move, der Holland ins Verderben stößt.
Es ist nicht die erste suspekte Aktion im niederländischen Defensivverbund in diesem Turnier. Gegen Österreich und der Türkei waren ebenfalls reichlich vogelwilde Szenen dabei, was umso mehr die Frage aufwirft, wieso Noch-Bayer de Ligt keine einzige Sekunde Rasen sah.
Das verblüffendste für mich war allerdings die Erkenntnis, dass Watkins bereits 28 ist. Ich hatte erst mit Aston Villas starker Saison von ihm gehört und dachte einfach, er sei ein neuer frischer Stürmer am englischen Horizont. So kann man sich täuschen.
Niederlande – Nur eine Schein-Topmannschaft
Was bleibt nun von Oranjes Auftritt in Deutschland? Ein sehr merkwürdiges Turnier, bei dem der Turnierbaum kräftig die Wahrnehmung verzerrt. Auf der einen Seite scheitert man superknapp erst im Halbfinale, auf der anderen hat es effektiv nur anderthalb wirklich überzeugende Spiele gegeben. Rumänien und gut die Hälfte gegen Polen, sonst war da sehr viel Glück bei eigenem Unvermögen dabei. Höchstwahrscheinlich wird das den niederländischen Fußball blenden und nicht an Koeman zweifeln lassen, doch in diesem Team muss einfach mehr stecken.
Sämtliche Offensivspieler sind in meinen Augen zwar recht deutlich überschätzt, aber es muss mehr möglich sein, als alle Hoffnung auf eine Einzelaktion Gakpos, Depays oder Weghorsts zu stecken. Bei Kai Havertz war ich mit dem deutschen Bundestrainer noch d’accord, doch bei Depay in vorderster Front zweifle ich – und wieso spielt Frimpong eigentlich gar keine Rolle? Einmal versuchte es der Bondscoach mit Dumfries und dem Leverkusener gegen Frankreich mit mäßigem Erfolg, doch andere Experimente zog er ja auch kompromisslos und ohne Ertrag durch.
Im ganzen Turnier suchte Koeman nach seinem Team und als er es fand, war es kein gutes. Ich fürchte, bei der Niederlande wird leider der freundliche Turnierbaum und das Erreichen der letzten vier über all diese Schwächen hinwegtäuschen, bis es dann mit weniger Turnierglück ein rüdes Erwachen gibt.
Was noch gepfiffen wurde
- So viel Vorgeplänkel zu Felix Zwayer und dann bekommt England einen reichlich soften VAR-Elfmeter. In Deutschland habe ich weitreichenden Konsens gefunden, im Ausland inklusive des profitierenden Landes ist man hibbeliger bei so einem Pfiff in einem Halbfinale einer EM.
Mich stört vor allem, dass es wirklich durch und durch ein VAR-Strafstoß ist. Ohne Videobeweis mit Zeitlupe hätte keinem Unparteiischen dieser Treffer in dieser Situation ausgereicht. Schon gar nicht in einem EM-Halbfinale. Ich bin ein deutlicher Befürworter des VARs, aber bei solchen Szenen verziehe ich dann doch leicht die Mine. Obgleich ich nicht klar gegen diesen Strafstoß bin. - In jedem Fall ist es bemerkenswert witzig, dass es nach Cucurellas Handspiel zu einem zweiten schiedsrichterkritischen Tweet Garry Kasparovs führt. Der größte lebende Schachspieler und russische Oppositionspolitiker twittert nie über Fußball, immer nur Politik und ein klein wenig über den Sport, der ihn einst berühmt gemacht hat. Aber bei Schiedsrichterschelten ist natürlich auch er dabei. Klassiker.
Noch witziger wird es allerdings, wenn Kasparov im Nachfolge-Tweet über Zwayers Bestechlichkeits-Vergangenheit twittert. Manuel Gräfe verdrückt ein Tränchen.
- Apropos Cucurella, ich störe mich an der Empörung über die Pfiffe im Halbfinale. Alle sind froh, echte Fußballfans in den Stadien zu haben und keine gekauften katarischen Klatsch-Schauspieler, dann muss man eben neben dem Guten auch das vielleicht weniger Gute akzeptieren.
In jedem Bundesligastadion werden spezifische Spieler aus den nichtigsten, mitunter verjährten Gründen ausgepfiffen und da zucken alle nur mit den Schultern und sagen, Profis müssten sowas aushalten.
Aber wenn vier Tage vorher ein Spieler das eigene Team geärgert hat und man ein Heidengeld ausgegeben hat, in der Hoffnung, eben dieses Heim-Team unterstützen zu können, dann gibt es natürlich auch während einer EM Pfiffe. Das ist einfach normales Fan-Verhalten, welches es so auch in Paris, Madrid, Rom, London und erst Recht in Lateinamerika gegeben hätte, da ist das Münchener Fußballpublikum nicht mehr oder weniger unsportlich – und natürlich ist es für sich genommen reichlich unsportlich.
Zumal die Pfiffe gegen Cucurella eben auch ein symbolischer Protest gegen die UEFA und Anthony Taylor sind. Auf dem Rücken des Spielers gewiss, daher auch unschön, aber eben mit der Fußballwelt komplett im Einklang und überhaupt nicht verwunderlich. - Neben Felix Zwayer war ich auch über die Ansetzung des anderen Halbfinal-Schiedsrichters, Slavko Vinčić, überrascht, fühlte mich dabei allerdings auch sehr bestätigt. Nach seinem zweiten geleiteten Spiel Spanien – Italien, kritisierte ich seine Kartenfreudigkeit und dass er gravierend mit seinen Verwarnungen ins Turnier eingreift, weil er unnötige Gelbsperren forciert.
Et voilà! Die UEFA hat mir zugestimmt und Vinčić so lange aus dem Verkehr gezogen, bis er für keine Sperren mehr sorgen konnte! Es ist schon reichlich wild, nach zwei Gruppenspielen gar keine Spiele mehr bis zu einem Halbfinale zu erhalten, das kann also unmöglich ein Zufall sein. Ob es so etwas jemals schon gegeben hat?
Ich bin mir jedenfalls sehr sicher, dass die UEFA ihrerer Schiedsrichtersparte genau diese Anweisung gegeben hat. Wieso sonst sollte man den Champions-League-Final-Leiter so lange vom Turnier ausschließen?
In seinem Halbfinale musste Spanien übrigens auf zwei gesperrte Spieler verzichten – weil eben genau Vinčić sie gegen Italien erstmals verwarnte.